Zaoshang hao – guten Morgen. Lehrerein Hu Kaipeng steht an der Tür des Klassenzimmers und begrüßt jeden ihrer rund 20 Schüler mit einer leichten Verbeugung. Dünne ockerbraune Vorhänge sind vor die Fenster gezogen. Sie sperren das grelle Sonnenlicht aus und verleihen dem Raum eine gemütliche, warme, fast schon höhlenartige Atmosphäre.
Der Unterricht an der Nanshan Waldorfschule im Nordwesten Pekings beginnt mit einem Lied. Anschließend macht Lehrerein Hu Kaipeng Geschicklichkeitsspiele:
"Ich wecke die Kinder erst einmal auf, wecke ihren Körper auf. Gleichzeitig haben sie, bis sie hier sind, auch schon so viel erlebt, so viele Eindrücke gesammelt. Ich will ihnen ermöglichen, das alles wieder rauszulassen, ruhig zu werden und sich auf den Tag vorzubereiten."
Die anthroposophische Einrichtung liegt am Stadtrand der chinesischen Hauptstadt, inmitten von Obst- und Gemüsefeldern. Bis zu den Bergen sind es nur noch ein paar Kilometer, das Gelände ist abgelegen, ruhig und idyllisch. Vor drei Jahren wurde die Schule gegründet, 80 Kinder kommen mittlerweile hierher. Während der Unterricht an staatlichen Einrichtungen in China normalerweise mit Fahnenappell und Nationalhymne beginnt, ist die Stimmung an der Waldorfschule entspannt und spielerisch. Die zehn Jahre alte Zao Hao Lin kommt deswegen gerne hierher.
"Ich war zwei Jahre lang auf einer normalen Schule, das war sehr anstrengend, wir mussten viel lernen. Da haben wir an einem Tag so viel Stoff gepaukt, wie wir hier in einer Woche machen. Ich bin deswegen lieber hier, wir haben nicht so viel Druck und nur wenige Hausaufgaben."
Rudolf Steiner entwickelte vor rund einhundert Jahren die Ideen der Waldorfpädagogik. Sie basiert auf einem besonderen Menschenbild. Bei der Ausbildung der Kinder geht es nicht um abstrakte Wissensvermittlung. Vielmehr stehe die Entwicklung des Menschen im Zentrum der schulischen Erziehung, sagt Lehrerin Hu Kaipeng:
"Nach Steiners Theorie durchläuft jedes Kind verschiedene Entwicklungsstadien. Mit ungefähr neun Jahren erkennen sie zum Beispiel, dass sie ein Einzelwesen sind, dass sie von der Welt getrennt sind. Das ist für viele Kinder ein Schock, sie werden traurig und fühlen sich einsam."
Bei immer mehr Eltern in China kommt besonders gut an, dass die Waldorfschulen sich auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder einstellen. Vor allem bei Angehörigen der neu entstandenen Mittelschicht, die es sich leisten können, ihr Kind auf eine private Schule zu schicken. Die 50 Jahre alte Zhao Lingyun und ihr Ehemann etwa haben mehrere Jahre in Deutschland gelebt. Den Drill im chinesischen Erziehungssystem lehnen sie ab. Nach nur einem Jahr haben die Eltern ihren Sohn von der öffentlichen Schule genommen, erzählt Zhao Lingyun:
"Ich war geradezu schockiert, wie viel er da schon leisten musste. Schon mit sechs Jahren musste er morgens um sieben aus dem Haus, und dann kam er abends um fünf erst wieder zurück. Ich fand es wirklich zu viel für ihn."
Zumal auch da mit der Paukerei längst nicht Schluss war: Nun hieß es, noch ungefähr zwei Stunden Hausaufgaben machen:
"Er selbst war auch so unglücklich, weil er so viel Druck hatte. Und als uns Freunde irgendwann von der Waldorfschule erzählt haben, haben wir ihn hier angemeldet."
In der Nanshan-Schule gibt es keine festen Fächer wie Mathe, Geografie oder Biologie. Stattdessen widmen sich die Schüler über Wochen hinweg einem großen Thema. Der Unterricht ist spielerisch, strenge Prüfungen gibt es nicht. Mutter Zhao Lingyun findet das gut:
"Die Kinder müssen nicht nur sitzen und zuhören, sondern sie spielen auch, oder sie singen bestimmte Inhalte, so lernt man ja auch. An traditionellen Schulen gibt es so etwas überhaupt nicht, da hockt man den ganzen Tag auf seinem Platz und muss lernen, wie ein Erwachsener. Aber hier ist das Lernen an die Kinder angepasst."
Die alternative Pädagogik ist in China noch die absolute Ausnahme. Aber rund zehn Waldorfschulen gibt es bereits. Unterrichtet werden die Schüler zum Teil von engagierten Eltern. Einige haben sich ihre Kenntnisse selbst angeeignet, so auch Hu Kaipeng:
"Ich habe erst letztes Jahr angefangen zu unterrichten und es unterscheidet sich stark von dem, was und wie ich früher gelernt habe. Wir laden immer wieder Lehrer aus dem Ausland ein, um von ihnen zu hören und zu lernen, wie sie unterrichten. Wir sind noch in einem Stadium, in dem wir viel ausprobieren. Es ist für alle ein großes Experiment."
Staatlich anerkannt sind die Waldorfschulen in China nicht. Ein Studium in der Volksrepublik ist den Kindern verschlossen. Das ist den meisten Eltern aber auch nicht wichtig. Viele sagen schon heute: Ihr Kind soll später eine Universität im Ausland besuchen.
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"Ich wecke die Kinder erst einmal auf, wecke ihren Körper auf. Gleichzeitig haben sie, bis sie hier sind, auch schon so viel erlebt, so viele Eindrücke gesammelt. Ich will ihnen ermöglichen, das alles wieder rauszulassen, ruhig zu werden und sich auf den Tag vorzubereiten."
Die anthroposophische Einrichtung liegt am Stadtrand der chinesischen Hauptstadt, inmitten von Obst- und Gemüsefeldern. Bis zu den Bergen sind es nur noch ein paar Kilometer, das Gelände ist abgelegen, ruhig und idyllisch. Vor drei Jahren wurde die Schule gegründet, 80 Kinder kommen mittlerweile hierher. Während der Unterricht an staatlichen Einrichtungen in China normalerweise mit Fahnenappell und Nationalhymne beginnt, ist die Stimmung an der Waldorfschule entspannt und spielerisch. Die zehn Jahre alte Zao Hao Lin kommt deswegen gerne hierher.
"Ich war zwei Jahre lang auf einer normalen Schule, das war sehr anstrengend, wir mussten viel lernen. Da haben wir an einem Tag so viel Stoff gepaukt, wie wir hier in einer Woche machen. Ich bin deswegen lieber hier, wir haben nicht so viel Druck und nur wenige Hausaufgaben."
Rudolf Steiner entwickelte vor rund einhundert Jahren die Ideen der Waldorfpädagogik. Sie basiert auf einem besonderen Menschenbild. Bei der Ausbildung der Kinder geht es nicht um abstrakte Wissensvermittlung. Vielmehr stehe die Entwicklung des Menschen im Zentrum der schulischen Erziehung, sagt Lehrerin Hu Kaipeng:
"Nach Steiners Theorie durchläuft jedes Kind verschiedene Entwicklungsstadien. Mit ungefähr neun Jahren erkennen sie zum Beispiel, dass sie ein Einzelwesen sind, dass sie von der Welt getrennt sind. Das ist für viele Kinder ein Schock, sie werden traurig und fühlen sich einsam."
Bei immer mehr Eltern in China kommt besonders gut an, dass die Waldorfschulen sich auf die emotionalen Bedürfnisse der Kinder einstellen. Vor allem bei Angehörigen der neu entstandenen Mittelschicht, die es sich leisten können, ihr Kind auf eine private Schule zu schicken. Die 50 Jahre alte Zhao Lingyun und ihr Ehemann etwa haben mehrere Jahre in Deutschland gelebt. Den Drill im chinesischen Erziehungssystem lehnen sie ab. Nach nur einem Jahr haben die Eltern ihren Sohn von der öffentlichen Schule genommen, erzählt Zhao Lingyun:
"Ich war geradezu schockiert, wie viel er da schon leisten musste. Schon mit sechs Jahren musste er morgens um sieben aus dem Haus, und dann kam er abends um fünf erst wieder zurück. Ich fand es wirklich zu viel für ihn."
Zumal auch da mit der Paukerei längst nicht Schluss war: Nun hieß es, noch ungefähr zwei Stunden Hausaufgaben machen:
"Er selbst war auch so unglücklich, weil er so viel Druck hatte. Und als uns Freunde irgendwann von der Waldorfschule erzählt haben, haben wir ihn hier angemeldet."
In der Nanshan-Schule gibt es keine festen Fächer wie Mathe, Geografie oder Biologie. Stattdessen widmen sich die Schüler über Wochen hinweg einem großen Thema. Der Unterricht ist spielerisch, strenge Prüfungen gibt es nicht. Mutter Zhao Lingyun findet das gut:
"Die Kinder müssen nicht nur sitzen und zuhören, sondern sie spielen auch, oder sie singen bestimmte Inhalte, so lernt man ja auch. An traditionellen Schulen gibt es so etwas überhaupt nicht, da hockt man den ganzen Tag auf seinem Platz und muss lernen, wie ein Erwachsener. Aber hier ist das Lernen an die Kinder angepasst."
Die alternative Pädagogik ist in China noch die absolute Ausnahme. Aber rund zehn Waldorfschulen gibt es bereits. Unterrichtet werden die Schüler zum Teil von engagierten Eltern. Einige haben sich ihre Kenntnisse selbst angeeignet, so auch Hu Kaipeng:
"Ich habe erst letztes Jahr angefangen zu unterrichten und es unterscheidet sich stark von dem, was und wie ich früher gelernt habe. Wir laden immer wieder Lehrer aus dem Ausland ein, um von ihnen zu hören und zu lernen, wie sie unterrichten. Wir sind noch in einem Stadium, in dem wir viel ausprobieren. Es ist für alle ein großes Experiment."
Staatlich anerkannt sind die Waldorfschulen in China nicht. Ein Studium in der Volksrepublik ist den Kindern verschlossen. Das ist den meisten Eltern aber auch nicht wichtig. Viele sagen schon heute: Ihr Kind soll später eine Universität im Ausland besuchen.
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