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Analyse der Ruthenium-Wolke von 2017
"Europa zeigt nicht mit dem Finger auf Russland"

Ein 69-köpfiges Autorenteam ist sich sicher: Verantwortlich für eine radioaktive Wolke 2017 über Europa war ein Zwischenfall in der Nuklearfabrik Majak im Südural. Er hoffe jetzt auf Transparenz, sagte Mitautor Georg Steinhauser im Dlf. Es gehe darum, aus dem Unfall zu lernen.

Georg Steinhauser im Gespräch mit Ralf Krauter | 29.07.2019
Ein Arbeiter in der russischen Atomanlage Majak kontrolliert durch ein Fenster den Betrieb
Neuen internationalen Analysen zufolge soll ein von Russland vertuschter Zwischenfall in der Wiederaufbereitungsanlage Majak für die Ruthenium-Wolke verantwortlich sein, die 2017 über Europa zog. (RIA Nowosti)
Ralf Krauter: 2017 sorgte in Europa eine Wolke radioaktiven Rutheniums für Unruhe. Eine Gesundheitsgefahr für die Bevölkerung bestand damals zwar nicht, aber die Frage nach dem Ursprung der ungewöhnlichen radioaktiven Isotope treibt Nuklearforensiker bis heute um. Der Verdacht, dass das radioaktive Element Ruthenium bei einem Zwischenfall in der russischen Nuklearfabrik und Wiederaufbereitungsanlage Majak im südlichen Ural freigesetzt wurde, stand bald darauf im Raum, wurde von russischen Behörden aber dementiert.
Neue Analysen, an denen auch der Strahlenschutzexperte Professor Dr. Georg Steinhauser von der Uni Hannover beteiligt war, bestätigen diesen Verdacht jetzt und machen den Beweis so gut wie wasserdicht. Ich habe den Radioökologen gefragt, was ihn und seine Kollegen so sicher macht, dass die Spur nach Majak führt.
Georg Steinhauser: Unsere jetzigen Analysen erhärten diesen Verdacht auf jeden Fall. Und es ist vor allem ein gesamteuropäisches Statement, das wir abgeben. Es sind nicht nur einzelne Messwerte und nicht nur einzelne Vermutungen, sondern es sind 69 Autoren aus fast allen europäischen Ländern, die gemeinsam auftreten und sagen: Die Summe unserer Messwerte ergibt ein ganz klares Bild - und das deutet auf den Südural und damit auf Majak.
"Identifikation der Quellen ist nicht der Hauptfokus"
Krauter: Wie sind Sie und Ihre Kollegen vorgegangen, um da jetzt klarer zu sehen? Es klang schon an: Sie haben eine Menge Daten analysiert?
Steinhauser: Die Identifikation der Quellen ist in dieser Arbeit gar nicht der Hauptfokus. Es gibt eine zweite Arbeit, die kurz vor der Publikation steht, und die haben wir mit unseren Messwerten, mit Datenfutter gefüttert. Das heißt, die Identifikation des Ortes ist jetzt gar nicht mal so primär unser Fokus. Es ging vielmehr darum, dass wir mal die Datenmenge in ein vernünftiges Bild bringen und dann auch gewisse forensische Informationen bringen. Das sind jetzt vor allem die chemischen Arbeiten, die wir in dieser Arbeit vorstellen.
"Wir sehen einige recht überraschende Dinge"
Krauter: Und was genau besagen die, welche zusätzlichen Informationen konnten Sie gewinnen?
Steinhauser: Wir sehen einige recht überraschende Dinge, die wir so nicht erwartet hätten. Zum einen können wir aufgrund von zwei verschiedenen Radioisotopen das Alter der Freisetzung bestimmen - also wie lange ist dieser Brennstoff herumgelegen nach dem Ende der Bestrahlung, bevor er wieder in die Wiederaufbereitung gekommen ist? Dieser Befund war extrem überraschend, weil der Brennstoff sehr, sehr jung war. Der war also noch sehr frisch und hat quasi noch nach Reaktor gerochen. Der war nur eineinhalb bis zwei Jahre alt. Und das ist sehr, sehr ungewöhnlich, weil die normale Wiederaufbereitung so jungen Brennstoff nicht verwendet. Man wartet üblicherweise mindestens drei Jahre, die Franzosen sogar mindestens vier Jahre, und wenn irgendwie möglich ist sogar noch länger, bevor man den Brennstoff anfasst und ihn in die Aufbereitung bringt.
Abweichung von etablierten Prozessen
Krauter: Und welche Gründe könnte es geben, so junge Brennelemente schon wieder aufzubereiten?
Steinhauser: Wir kennen die tatsächliche Ursache nicht. Aber wir können vermuten, dass es damit zusammenhängt, dass Majak zum gleichen Zeitpunkt, als der Unfall passiert ist, einen millionenschweren Auftrag aus Italien vorliegen hatte, wo es darum ging, radioaktives Cer-144 für ein physikalisches Experiment zu produzieren. Und all die Spezifikationen, die es für diese Bestellung gegeben hat, deuten darauf hin, dass man sehr, sehr jungen Brennstoff verwenden musste, sonst hätte man diese Spezifikationen nicht erfüllen können. Es macht also Sinn, dass man für diesen Auftrag von einer etablierten Vorgehensweise abgewichen ist und dabei in einen Unfall hineingerutscht ist.
Krauter: Dieses Labor in Italien - das ist das Gran-Sasso-Teilchenforschungslabor, das diese spezielle Cer-Strahlungsquelle bestellt hatte?
Steinhauser: Genau.
Krauter: Und die ist dort nie angekommen. Das kommt ja noch als überzeugenderes Indiz dazu.
Steinhauser: Ja. Nicht nur, dass alle unsere Indizien darauf hindeuten, dass es hier einen Zusammenhang geben könnte. Quasi noch als letztes Glied in dieser Indizienkette ist dann die Absage aus Majak gekommen, ungefähr zwei Monate nachdem die Freisetzung von Ruthenium über Europa beobachtet wurde.
Krauter: Das heißt, wenn man jetzt eins und eins zusammenzählt, haben die Russen versucht, diese Strahlungsquelle mit einem etwas abweichenden Verfahren herzustellen, und dabei ging vermutlich was schief?
Steinhauser: Das ist sehr, sehr gut zusammengefasst, wie Sie das gesagt haben.
"Wir hoffen, dass hier mit offenen Karten gespielt wird"
Krauter: Wie geht es jetzt weiter? Die Russen dementieren ja, dass es zu dem genannten Zeitpunkt überhaupt irgendeine Form von Zwischenfall gegeben hat in Majak. Hoffen Sie denn, dass die jetzt sich vielleicht eines Besseren besinnen, nach den Fakten, die Sie jetzt vorgelegt haben?
Steinhauser: Natürlich. Wir hoffen, dass hier mit offenen Karten gespielt wird und etwas Transparenz hereingebracht wird. Und da geht es – das ist mir ganz wichtig – nicht darum, dass wir Russland in die Ecke stellen wollen und dass dann Europa mit dem Finger auf Russland zeigt, sondern es geht vielmehr darum, dass wir gern aus diesem Unfall lernen möchten. Das haben wir nach Fukushima auch schon gemacht. Da passiert ein schwerer Unfall, und wenn mit offenen Karten gespielt wird, dann sind zumindest die Konsequenzen zum Wohle der Menschheit. Dann werden Stresstests durchgeführt und entwickelt, dann werden Sicherheitskonzepte neu überdacht. Man lernt aus solchen Unfällen, und genau das möchten wir eigentlich bei diesem Unfall auch machen.
"Ausgeschlossen, dass wir uns vollkommen geirrt haben"
Krauter: Die Basis Ihres Artikels sind ja zum Teil auch Modellrechnungen, Rückrechnungen, was die Ausbreitung der Radioisotope angeht. Ist das jetzt wirklich so eine Art rauchender Colt, was Sie da gemeinsam mit Kollegen publizieren? Oder könnte am Ende doch auch alles ganz anders gewesen sein?
Steinhauser: Also, dass am Schluss herauskommt, dass wir uns vollkommen geirrt haben und eine ganz andere Quelle infrage kommt, halte ich für absolut ausgeschlossen. Das liegt schon allein daran, dass es nicht so viele nukleare Einrichtungen gibt, die mit diesen Mengen an Radioaktivität überhaupt umgehen können. Man hat in Wirklichkeit nur eine Handvoll Verdächtigter, die hierfür infrage kommen. Und in der Gegend von Zentralsüdrussland, in dem eurasischen Grenzgebiet, gibt es nur eine Einrichtung, die hierfür infrage kommt. Das heißt, dass wir auf einmal draufkommen, es war gar nicht Russland, es war La Hague in Frankreich oder es war Sellafield im Vereinigten Königreich, das ist ausgeschlossen. Und viel mehr Alternativen gibt es auch gar nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.