Die einzige Figur der Gruppenkonstellation, die zu Hause bleibt, ist Mimi, die gegenwärtige Freundin des aidskranken Takashi, die sich im Unterschied zu den anderen die Frage stellen muss, wie sie in Zukunft mit den allzu konkreten Folgen der Krankheit umgehen soll und dazu erst einmal Abstand braucht. Zwar wird die Reise durch den AIDS-Test der beiden Ex-Geliebten und die bange Erwartung der Ergebnisse gerahmt, aber wenn man nun einen AIDS-Roman über den schwierigen Umgang mit der Krankheit vermutet, ist man getäuscht. Auf den folgenden knapp hundertfünfzig Seiten fällt das Wort AIDS kein einziges Mal. Statt dessen handelt das Reisetagebuch von dem Versuch einer Versöhnung mit dem Schicksal, das die junge Clique in Form einer tödlichen Krankheit heimgesucht hat, den man beinahe romantisch nennen müsste. Romantisch in dem Sinne, dass die ins Wanken gebrachte Ordnung des Lebens immer auf eine größere und sich entziehende Macht als den Urgrund dieser Ordnung verweist.
Banana Yoshimoto ist in Japan mit ihrer kindlichen Erzählstimme zu einer Art Popstar geworden. Ihre Helden sind meist junge Erwachsene aus der Mittelstandsklasse, die auf den ersten Blick ein sorgenloses und stark emotional geprägtes Leben führen. Ihr alltäglicher Kosmos ist vor allem von Liebes- und Sinnfragen geprägt, nicht von sozialen Nöten. Gesellschaftliche Realität wird nur selten direkt thematsiert. Und beinahe jede Härte der Handlung scheint in der barfüßig melancholischen Sprache der Ich-Erzählerin aufgehoben, die immer die Stimme eines leicht versonnenen Mädchens suggerieren soll. Fast könnte man von einem Gefühlskonkon sprechen, in dem sich die Figuren wie in einem Traum bewegen, der nur selten die Grenze zum Alptraum überschreitet. Nichts Rebellisches haftet ihren Heldinnen und Helden an, sondern ein trotziges Vertrauen darauf, dass sich hinter der unverständlichen Ordnung der Welt doch noch ein höherer Sinn verborgen hält.
Diesen kindlichen Blick hat Yoshimoto in Romanen wie Kitchen, N. P. oder Tsugumi äußerst raffiniert ausgespielt, denn er vermag gekonnt eine Subjektivität einzufangen, die sich kein allgemeines Urteil mehr zutraut, sondern allein vom Ich-finde ihrer Gefühle lebt. Diesem Gefühlskonkon, der sich gerade dadurch abschließt, dass sich das Innenleben der Personen - man möchte sagen, aus überlebensnotwendigen Gründen - gegen ihre äußere Umwelt stellt, korrespondiert in den Romanen von Yoshimoto das japanische Großstadtleben, das für Gemeinschaftsgefühle wohl wenig Raum lässt. So beginnen Yoshimotos Romane häufig mit einer Erfahrung, die die gut eingeübte Balance dieses Konkons in Gefahr bringt. Und meist sind es wie in ihrem neuen Roman Sly, benannt nach einem Song der Rockgruppe Massive Attack, Todeserfahrungen.
Was ihr allerdings besonders in ihrem Roman Kitchen gelungen ist, wird in Sly zu einer altklugen Aneinanderreihungen von essayistischen Gedanken über den Tod. Wie eben Jugendliche mit einem bemerkenswerten Pathos über Leben und Sterben reden können, entgleiten der Ich-Erzählerin angesichts der ägyptischen Pyramidenlandschaft Sätze, die in jedem pubertären Tagebuch stehen könnten. Die drei Reisenden gehen die üblichen ausgetretenen Touristenpfade nach, machen eine Nil-Kreuzfahrt, besuchen das Tal der Könige und sind vom Grab des Tutanchamun enttäuscht. Sie freunden sich mit einer japanischen Touristin an, die sie mit allerhand Wissen in die ägyptische Mythologie einführt, und der Leser bekommt zwangsläufig den Eindruck, dass stellenweise gelehrte Reiseführer abgeschrieben wurden. Die Gefahr des kindlichen Blicks, den Yoshimoto sonst dazu nutzt, die andere Seite der japanischen Wohlstandsgesellschaft wie durch einen Schleier um so bedrohlicher auszuleuchten, liegt darin, dass er immer die Nähe zum Kitsch suchen muss, um dann eine tiefe Verstörtheit hinter dem erstarrten Banalen zu entdecken. In Sly allerdings bleibt es bei der schlichten Oberfläche einer Mädchenstimme, die uns vom Sterben erzählt, als handele es sich um eine Erfahrung, die man in seiner Jugend auch mal machen muss.
Man liest Reflexionen wie die, dass die Menschen sich zu schönen Dingen hingezogen fühlten, weil alles Hässliche sie an den Tod und die Verwesung erinnere. Lange Passagen zum Thema Wiedergeburt verschieben die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod Takashis in die allgemeine Präsenz des Todes angesichts der ägyptischen Heiligtümer. Sowohl die AIDS-Problematik als auch der Schauplatz Ägypten verkommen so zu leeren Kulissen von schwachen Reflexionen. Im Nachwort schreibt die Autorin, sie habe den Roman Sly geschrieben, um die schockartigen Eindrücke einer Reise nach Ägypten zu verarbeiten. Leider muss man sagen, dass der Schock für die japanische Touristin wohl größer war, als die Fähigkeit der Autorin, diesen in Worte zu fassen.