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Sommerloch ohne Monster
Nessie ist ein Fisch

Es gibt keinen Grund, sich über Leute lustig zu machen, die in Schottland, dem Land der Drachen, an ein prähistorisches Seeungeheuer glauben. Gegen den Glauben an – nur zum Beispiel – den Euro oder die Energiewende ist das Ungeheuer von Loch Ness ein Klacks.

Von Burkhard Müller-Ulrich |
    Der Mensch ist nicht gern allein. Der Wunschtraum, etwas Lebendes zu finden, entspringt der Urangst vor der Einsamkeit. Deshalb sind die einsamsten Gegenden voll von Fabelwesen: der Weltraum, der Himalaya und der schottische See Loch Ness. Selbst wenn die Marsbewohner, Yetis und das Monster von Loch Ness keine freundlichen Gefährten sind, ihre Existenz hat etwas existentiell Beruhigendes, denn ihr Dasein macht unser Dasein wahrscheinlicher – und Letzteres ist doch der springende Punkt: die Vorstellung, dass wir Menschen allein im All seien, zumindest die einzigen Monster daselbst, ist einfach schwer erträglich.
    Doch das bloße psychologische Bedürfnis erklärt natürlich nicht alles; jeder Mythos braucht einen Anfang, einen Kristallisationskern, und der liegt im Fall von Nessie fast anderthalb Jahrtausende zurück. Schon aus dem 6. Jahrhundert sind erste Sichtungen überliefert, was allerdings nichts Besonderes ist, denn auch im Bodensee soll es von Wasserschlangen und Ungeheuern gewimmelt haben, bevor der Heilige Pirmin ungefähr zur selben Zeit das Kloster auf der Insel Reichenau gründete.
    Erst unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft entwickelte sich die Loch-Ness-Legende zu jenem parawissenschaftlichen Spitzenthema, das nicht nur als Musterbeispiel angelsächsischer Exzentrizität und touristischen Marketings, sondern auch postrationalen Hokuspokus betrachtet werden kann. Selbstverständlich haben jahrzehntelange Untersuchungen, ja sogar die Aufdeckung des berühmtesten aller Nessie-Fotos als krasse Fälschung den Monsterglauben keineswegs erschüttert. Im Gegenteil, es verhält sich wie mit allen Verschwörungstheorien: ihre halluzinatorische Kraft nimmt mit jedem Widerlegungsversuch zu.
    Diesen Mechanismus hat der Medienwissenschaftler Johann Wolfgang von Goethe bereits vor zwei Jahrhunderten mit folgenden Worten beschrieben: "Wie in Rom außer den Römern noch ein Volk von Statuen war, so ist außer dieser realen Welt noch eine Welt des Wahns, viel mächtiger beinahe, in der die meisten leben." Anders gesagt: Es gibt keinen Grund, sich über Leute lustig zu machen, die in Schottland, dem Land der Drachen, an ein prähistorisches Seeungeheuer glauben. Gegen den Glauben an – nur zum Beispiel – den Euro oder die Energiewende ist das Ungeheuer von Loch Ness ein Klacks.
    Im Übrigen gehört auch der Entlarvungsgestus, mit dem von Zeit zu Zeit der zuvor eifrig geschürte Volksglaube ausgelöscht wird, zu den quasireligiösen Riten politischer Fortschrittssimulation. Aufklärung ist bloß ein Sonderfall von Geisterbeschwörung. Nicht nur war Nessie für das Nessie-Spektakel schon immer vollkommen überflüssig, nein: Nessie durfte niemals auftauchen.