Dienstag, 19. März 2024

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Sommerreihe: Die Qual der Wahl
"Die Wurzeln unserer Identität sind die nationalen"

Die viel beschworene europäische Identität gibt es nach Ansicht des ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen gar nicht. "Wir haben Traditionen, sprachliche, kulturelle, religiöse, die teilweise weit über tausend Jahre als staatliche Traditionen zurückreichen", sagte er im Dlf. Das Charakteristische für Europa sei die Verschiedenheit.

Günter Verheugen im Gespräch mit Michael Köhler | 23.07.2017
    Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission (SPD), während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner".
    Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission (SPD) (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Michael Köhler: War die FDP Ihre erste Wahl?
    Günter Verheugen: Ja, vom 18. März 1960 an, da bin ich Mitglied der FDP geworden und bin das 22 Jahre geblieben. Das ist eine interessante Frage, ob ich mir damals die FDP ausgewählt habe.
    Köhler: Oder die FDP Sie ausgewählt hat.
    Verheugen: Auch nicht. Ja, gut, nein, die FDP war mein Vater. Die FDP war mein Vater. Wenn mein Vater Sozialdemokrat gewesen wäre, wäre ich in der SPD gelandet. CDU weiß ich nicht so genau, aber das war der Einfluss des Elternhauses. Der hat mich immer mitgenommen zu den Parteiversammlungen, ich fand das interessant. Und dann sagt er, na ja, wenn dir das gefällt, dann mach das doch für die Jungdemokraten, die haben wir nämlich nicht. Und so fing das an, 1960.
    Köhler: Herr Verheugen …
    Verheugen: Und die Entscheidung, die Wahl, die kam ein paar Jahre später. Das ist der interessante Punkt, weil an dieser Wahl war jemand beteiligt, nämlich Gerhart Baum. Gerhart Baum hat mich davon abgehalten, wieder auszutreten, weil mir die FDP viel zu rechts war, und hat mich mit den Linksliberalen in der FDP zusammengebracht, Anfang der 60er.
    Köhler: Zur Wahl, Herr Verheugen, gehörte immer auch eine Hinwendung, aber eine Hinwendung ist naturgemäß immer auch eine Abwendung von allem anderen. Sie sind bekannt für eine mutige und richtungsweisende Entscheidung, nämlich Sie haben 1982 die FDP verlassen, Sie haben sie gewissermaßen abgewählt. Warum haben Sie das getan, was hat Ihren Entschluss, Ihre Wahl befördert?
    Verheugen: Es war eine Frage der politischen Moral in erster Linie. Ich war der Meinung, dass die FDP Stimmen, die sie bekommen hatte, um Helmut Schmidt zum Kanzler zu wählen und als Kanzler zu unterstützen, nicht dazu verwenden durfte, ihn zu stürzen, ganz einfach.
    Köhler: Und es hätte eines eigenen Mandates oder Sonderparteitags bedurft.
    Verheugen: Ja, zumindest eines Parteitages und anschließend Neuwahlen. Mein Punkt war nicht, dass die Koalition sakrosankt gewesen wäre, ich wusste auch, dass die so gut wie am Ende war. Mein Punkt war auch nicht, dass man nicht mit der CDU regieren darf, dann hätte ich nicht Generalsekretär der FDP sein können, wenn das meine Meinung gewesen wäre. Aber ich habe gesagt, die Art und Weise, in der das gemacht wird, wird dazu führen, dass die FDP ein bloßes Anhängsel der CDU wird und dass kein Gestaltungsraum für liberale Politik, jedenfalls solche, wie ich sie mir vorgestellt habe, meine Vorstellung von liberaler Politik, dafür würde kein Platz mehr sein. Und genauso ist es gekommen.
    Köhler: Herr Verheugen, Sie entschuldigen den Kalauer, aber er liegt auf der Zunge: Das heißt doch dann, die SPD war für Sie nur zweite Wahl.
    Verheugen: Das kann man so nicht sagen. Also zweite Wahl in dem Sinne, dass es die nächstbeste Lösung war, nein, es war die zweite Gelegenheit oder die zweite Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen. Und als ich in dieser Notwendigkeit war, in dieser Lage, die ich übrigens keinem Menschen wünsche, eine unangenehme Lage, in dieser Lage, noch einmal wählen zu müssen, da war die SPD selbstverständlich meine einzige Wahl.
    Osterweiterung war eine richtige Wahl
    Köhler: Sie waren Chefredakteur des "Vorwärts", sind also Ihrer journalistischen Herkunft da treu geblieben, wurden Südafrikaexperte der SPD, haben sich immer sehr progressiv aufgestellt, wenn ich das jetzt einfach mal so ungeschützt sagen darf, und wurden ab 99 dann EU-Erweiterungskommissar und haben da Dinge auf Schiene gesetzt, die neu waren, also EU-Osterweiterung bis hin auch zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. In der Rückschau eine gute Wahl?
    Verheugen: Unbedingt. Also das gehört zu den eindrücklichsten und wichtigsten Leistungen der Europäischen Union überhaupt, und es ist ja nicht ohne Grund, dass bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union darauf ganz besonders Bezug genommen worden ist. Das war eine große, strategische Leistung, und mir erscheint es im Nachhinein als ein kleines Wunder, dass es überhaupt möglich gewesen ist. Unter den heutigen Umständen wäre das schon nicht mehr möglich, aber damals gab es ein Fenster der Gelegenheit und die Notwendigkeit, den postkommunistischen Raum in Europa, diesem Raum eine sichere, eine stabile Zukunft zu geben, eine politische Gestalt, um zu verhindern, dass ein breiter Elendsgürtel und Gürtel der Instabilität in Europa entstand. Die haben damals alle geteilt, diese Sicht, und so konnte das gemacht werden. Nein, das war richtig, und von technischen Fragen abgesehen, würde ich, was die Strategie angeht, auch von heute aus gesehen nichts anders machen.
    Köhler: Es war ja nicht nur eine Wahl der EU für Osteuropa, sondern insbesondere umgekehrt. Ich habe viele Freunde im Baltikum oder auch in Rumänien, die als Erstes glücklich waren, in die NATO gehen zu dürfen, und dann aber in die EU kamen.
    Verheugen: Korrekt.
    Köhler: Insofern ist eine Wahl immer auch ein Friedensangebot, ein Freiheitsangebot.
    Verheugen: Ja, richtig. Man muss bei der ganzen Erweiterungspolitik sehen, dass es keine Angebotspolitik ist. Die EU läuft nicht rum und bietet Mitgliedschaft an, sondern es ist eine nachfrage-orientierte Politik, das heißt, ein europäisches Volk muss den Wunsch äußern dazuzugehören und muss die Bereitschaft aufbringen, die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Und jetzt kommt ein wichtiger Punkt: Wenn es das aber tut, dann haben wir nicht das Recht, ein solches Volk abzuweisen, sondern für mich, für mein Verständnis von europäischer Integration ist, so wie es ja auch im Vertrag steht, dass jedes europäische Volk die Möglichkeit haben muss, dabei zu sein. Und das ist verloren gegangen in den letzten Jahren, und ich bin sehr traurig darüber, dass nicht nur in Deutschland, sondern fast überall in Europa und ganz besonders schlimm in den Brüsseler Institutionen und am schlimmsten in der Kommission die Linie vertreten wird, jetzt gibt es erst mal keine Erweiterung mehr. Können Sie mir mal sagen, womit die Moldawier das verdient haben oder die Serben oder andere das verdient haben, dass wir jetzt auf einmal sagen, jetzt Schluss, die dürfen aber nicht? Gehören die nicht zu Europa?
    "Das Volk ist nicht dümmer als seine Ministerialräte"
    Köhler: Das ist eine große Diskussion, die ja gerade läuft, Kosovo, Montenegro, Albanien und so weiter. Sie haben sich mit der Bürokratie angelegt in der EU als Industriekommissar, als Vizepräsident der EU-Kommission, Sie haben sich für Bürokratieabbau eingesetzt, sind damit auch angeeckt. Sie sagen gerade, die EU-Erweiterung, Osterweiterung war eine richtige Wahl – halten Sie, Herr Verheugen, an der Idee fest, gerade auch im Angesicht der gegenwärtigen Schwierigkeiten, der Bindungsverluste, der Wunsch nach nationaler Souveränität und so weiter, die Wahlfreiheit, die Volksentscheide in epochalen EU-Fragen herbeizuführen?
    Verheugen: Die Antwort auf diese Frage fällt mir schwer. Ich bin mein Leben lang ein Anhänger direktdemokratischer Elemente gewesen, ich hab als Mitglied der Verfassungskommission vom Bundestag und Bundesrat vehement mich für die Einführung plebiszitärer Elemente, also Volksbefragung und Volksentscheid, in das Grundgesetz eingesetzt, und ich muss zugeben, dass ich in den letzten Jahren ein bisschen nachdenklich geworden bin. Und dann kam ich zu dem Ergebnis, dass man in einer solchen Grundsatzfrage, ob ein Volk wichtige politische Fragen direkt entscheiden kann oder ob es das nur über seine Repräsentanten tun kann, sich nicht leiten lassen darf davon, ob die Ergebnisse, die es in jüngster Zeit gegeben hat, einem gefallen oder nicht. Die Tatsache, dass mir der Brexit natürlich nicht gefällt und dass mir nicht gefallen hat, dass die europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, Verträge da und dort, das bedeutet nicht, dass das Instrument schlecht ist. Ich bleibe dabei, das Volk ist nicht dümmer als seine Ministerialräte, und man sollte keine Angst haben, es selbst entscheiden zu lassen.
    "Das Charakteristische für Europa ist nicht Einheitlichkeit, sondern Verschiedenheit"
    Köhler: Herr Verheugen, als Sie EU-Erweiterungskommissar wurden, waren es, glaube ich, 15 Mitgliedsstaaten, inzwischen haben wir 28 minus eins. Verliert seine Identität, wer zu viel Wahlfreiheit hat? Das kennt man ja, wenn man einkaufen geht, und steht vor einem riesigen Regal und es ist zu viel, dann ist man irritiert und kauft am Ende gar nichts. Könnte das Bild …
    Verheugen: Nein, das glaube ich …
    Köhler: Nein, sehen Sie anders?
    Verheugen: Ja, das sehe ich völlig anders, weil es diese viel beschworene europäische Identität ja überhaupt nicht gibt. Europäische Identität ist allenfalls etwas Zusätzliches. Wenn man mich fragt, als was ich mich fühle, dann sag ich, ich fühle mich als Deutscher und Europäer, und das ist auch die normale Antwort. Sie werden kaum jemand finden, der sagt, ich fühle mich als Europäer und sonst nichts, Sie werden allerdings Leute finden, die sagen, ich fühle mich als Deutscher und sonst nichts. Die Wurzeln unserer Identität sind die nationalen, da kann es in Europa gar keinen Zweifel geben – wir sind eben nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir haben Traditionen, sprachliche, kulturelle, religiöse, die teilweise weit über tausend Jahre als staatliche Traditionen zurückreichen, und deshalb ist das Charakteristische für Europa nicht Einheitlichkeit, sondern das Charakteristische für Europa ist Verschiedenheit. Diversität ist unser Merkmal, und wir sollten das nicht als eine Schwäche sehen, sondern wir sollten das als eine Stärke sehen. Und von daher sehe ich nicht, dass es irgendein Problem geben kann, wenn wir gesamteuropäisch denken.
    Köhler: Das heißt, wir haben gar keine andere Wahl, wir sollten Europa gefälligst wählen.
    Verheugen: Meine feste Überzeugung, ja. Und für mich ist das auch nicht schwer, so zu denken. Ich meine, ich bin Jahrgang 1944.
    Köhler: Ich wollte gerade sagen …
    Verheugen: Ja, ich hab natürlich den Krieg nicht bewusst miterlebt, aber die Nachkriegszeit. Ich weiß, wie ein zerstörtes Land aussieht, ich weiß, wie es ist, wenn man Entbehrungen auf sich nehmen muss, obwohl man das damals selber gar nicht so gespürt hat, aber für mich ist vollkommen klar, dass wir als Deutsche nie in unserer Geschichte ein solches Glück gehabt haben wie das Glück, in die Familie der europäischen Demokratien wieder aufgenommen zu werden und innerhalb dieser Familie einen Platz zu finden, bei dem wir uns selber nicht zur Gefahr mehr werden können und anderen gegenüber auch nicht. Also wir haben jeden Tag Anlass, dankbar zu sein dafür, dass es diese europäische Integration gibt – mehr als jeder andere in Europa.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.