Samstag, 20. April 2024

Archiv

Soziale Sicherungssysteme
Wetteifern zwischen Staat und Kirche

Eine medizinische Versorung für jedermann, Arbeitslosengeld, Wohngeld – was in Deutschland selbstverständlich ist, ist anderswo gar nicht vorhanden. Dass die Sozialsysteme in Europa so unterschiedlich sind, liegt auch an der Stellung von Kirche und Religion, haben Wissenschaftler aus Münster analysiert.

Von Hajo Goertz | 22.09.2014
    Sie wollten sich mit den üblichen Erklärungen nicht zufrieden geben - Hans-Richard Reuter, evangelischer Sozialethiker an der Universität Münster und sein katholischer Kollege, der Religionssoziologe Karl Gabriel. Mit den üblichen Erklärungen, warum europäische Sozialstaaten so verschieden ausgeprägt und so unterschiedlich aufgestellt sind: Nämlich aus politischen Faktoren, wie Auseinandersetzungen um Arbeitnehmerrechte oder funktionalen: Ob und wie der Staat traditionelle Familienaufgaben übernommen habe. Denn das allein begründet die Abweichungen nicht. Also stellten die Wissenschaftler auch kulturelle Faktoren in Rechnung und fragten nach dem Einfluss von Religion auf die Entwicklung sozialstaatlicher Strukturen.
    Hans-Richard Reuter:
    "Das ist eine etwas andere Fragestellung als die, nach der sozialen Tätigkeit von Religion und Kirche im Privaten als Wohlfahrtsorganisation, sondern es ist die Frage danach, inwieweit religiöse Impulse, ideelle, institutionelle eingehen in die staatlichen Strukturen, also in die sozialstaatlichen Strukturen."
    Nach Reuters Ansicht beeinflussen religiös und sogar konfessionell vermittelte Wertmuster den staatlichen Schutz der Bürger vor Armut und bei Krankheit, im Fall von Arbeitslosigkeit und für die Altersversorgung. Inwieweit dies der Fall ist, sollte ein Projekt im Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster aufklären. Als federführende Herausgeber legen Gabriel und Reuter jetzt die Ergebnisse vor: "Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte", so der Titel dieser vergleichenden Studie.
    Untersucht wurden die Sozialsysteme von 13 Ländern: in Geschichte und Gegenwart dargestellt von meist einheimischen Experten.
    Konflikt oder Kooperation zwischen Kirche und Staat als prägende Faktoren für die Ausbildung von Sozialsystemen
    "Jeder Fall ist ein Einzelfall eigentlich. Je genauer man hinguckt, umso mehr stellt man fest, das steht für sich selber. Trotzdem kann man versuchen, eine gewisse Typologie zu machen, und wir haben die gewonnen, indem wir eine Theorie der religionspolitischen Entwicklung herangezogen haben."
    Reuter verweist auf Schlüssel-Ereignisse in der jeweiligen Landesgeschichte, auf die sehr unterschiedlichen Konstellationen zwischen Politik und Religion, Staat und Kirche.
    "Also hat eine Reformation stattgefunden, hat 'ne Revolution stattgefunden? Wenn ja, war diese Revolution von christlichen Akteuren mitgetragen, Klammer auf: USA, oder hat sie gegen die Kirche stattgefunden, Klammer auf: Frankreich. Wie ist das Verhältnis von Religion und Nation beschaffen? Und wie ist das Verhältnis von Religion und Aufklärung und damit auch zu politischen Bewegungen wie Liberalismus und Sozialismus beschaffen? Ist das ein Konfliktverhältnis oder eines der Kooperation?"
    Konflikt oder Kooperation, das sind, so die Studie, hemmende oder fördernde Faktoren für die Ausbildung von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Protestantisch geprägte Staaten wie Schweden und Dänemark, auch das anglikanische Großbritannien sind bestimmt von der Lutherischen Auffassung, dass der Staat Verantwortung für das Schicksal der Individuen zu übernehmen hat. In überwiegend katholischen Staaten ergeben sich unterschiedliche Entwicklungen: Der Laizismus in Frankreich führt zu hoher Sozialstaatlichkeit, um den Einfluss der Kirche zurückzudrängen. In Spanien zeitigten antiklerikale Tendenzen eine eher geringe Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates, da die Kirche ihrerseits sich um die soziale Unterstützung der Menschen kümmerte. In Italien und etwa auch in Polen blieb die katholische Kirche eher sozial passiv, sodass der Staat nicht herausgefordert war, im Gegenzug Wohlfahrtsstrukturen aufzubauen. In Griechenland, Russland und Bulgarien ist die Versorgung vergleichsweise rudimentär, auch weil die orthodoxen Kirchen traditionell keine Soziallehre entworfen haben. Quasi als "Kontrollfaktor" ist noch die Türkei in Betracht gezogen worden als islamisch-säkularistischer Staat, der sozusagen die Regie über die Religion übernommen habe, sodass soziale Eigenkräfte des Islam nicht zum Zuge kämen.
    Kirchen als Mitinitiatoren der Sozialen Marktwirtschaft
    Für die Ausgestaltung staatlicher Sozialstrukturen scheinen demnach Konflikte und Konkurrenzen eher förderlich zu sein als ein Einvernehmen zwischen Kirchen und Staat oder eine Marginalisierung der Religion. Das wird besonders deutlich an der Analyse, die die Herausgeber selbst zur deutschen Entwicklung vorstellen: Der grundgesetzlich fundierte Sozialstaat, ein Vorzeige-Projekt in Europa, sei ohne Berücksichtigung des religiösen Faktors und des konfessionellen Wettstreits nicht zu begreifen:
    "Lutherisch geprägte Eliten spielten bei der weltweit ersten Erfindung und zentralstaatlichen Institutionalisierung von Sozialversicherungen zur Lösung der sozialen Frage eine zentrale Rolle. Wie nirgendwo sonst entdeckten die politisch und sozial gut organisierten Katholiken die Sozialpolitik als bevorzugtes Feld ihres Ringens um soziale Anerkennung und politische Emanzipation. Über die Klassenspaltung hinaus ist es deshalb die konfessionelle Spaltungslinie, die dem deutschen Wohlfahrtsstaat sein spezifisches Gepräge gegeben hat."
    Gabriel und Reuter ziehen daraus auch dieses Resümee: Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft sei nicht zuletzt durch die Soziallehren der evangelischen und katholischen Kirche mitbestimmt. Die Münsteraner Professoren gehen hier über ihre zunächst vergangenheitsbezogene These mit Problemanzeigen hinaus:
    "Eine ganz entscheidende betrifft die Anbindung unseres gesamten sozialen Sicherungssystems vor allem an die Erwerbsarbeit. Das bedeutet in dem Moment, wo wir strukturelle Arbeitslosigkeit haben, funktioniert dieser Gedanke der Sicherung durch ein Normal-Arbeitsverhältnis, das sich ein Arbeitsleben lang durchhält, nicht mehr. Ein anderes Problem des deutschen Modells ist, dass es auf den männlichen Ernährer setzt, dass also die gesamte Arbeit, die ja nicht nur Erwerbsarbeit ist von Frauen, erst in jüngerer Zeit überhaupt in den Blick kommt. Und dann haben wir natürlich ein Problem, unter dem Aspekt der Generationenverschiebung, das dazu führt, dass das Umlageverfahren, das wir in unserer Alterssicherung haben, so nicht mehr funktioniert."
    Nicht zuletzt dieser Ausblick auf nötige und mögliche Fortentwicklungen sozialstaatlicher Strukturen machen dieses Buch für jeden interessant, der sich in sozialpolitischen Fragen auf einen weiten europäischen Horizont einstellen will. Die von vielen gewünschte Ausgestaltung der EU zu einer Sozialunion bekommt hier Perspektiven.
    Karl Gabriel, Hans Richard Reuter (Hrsg.): Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte. Mohr Siebeck Verlag, 513 Seiten, 89,00 Euro. Gebrauchte Exemplare gibt es günstiger.