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Soziologie
Religionsgemeinschaften zieht es in Metropolen

Seit gut 100 Jahren befassen sie sich Soziologen mit dem Phänomen Großstadt, aber die Bedeutung der Religion für das Leben in den Ballungszentren haben sie kaum wahrgenommen. Auf der Tagung "Religiöser Pluralismus und die Stadt" an der Technischen Universität Darmstadt versuchten Soziologen ihren Blick zu schärfen.

Von Matthias Hennies | 04.02.2016
    Die "Pfingstler-Bewegung" ist eine Erweckungsreligion mit lebendigen, körperbetonten Riten, die aus protestantisch-evangelikalen Traditionen kommt. International ist sie als "Pentecostalism" bekannt:
    "Das ist eigentlich das schönste Beispiel vielleicht für eine religiöse Innovation, die in Städten entstanden ist, und zwar im 20. Jahrhundert. 1904 in Los Angeles in einem Hinterhof entstanden, über einen Baptisten-Prediger, und von Los Angeles hat sich diese Bewegung ausgebreitet, zuerst über die USA und jetzt muss man wirklich sagen, global, das ist die heute am stärksten wachsende religiöse Gemeinschaft."
    Vor allem in den Metropolen Südamerikas laufen die Leute den Predigern des Pentecostalismus in Scharen zu, berichtet die Darmstädter Soziologin Dr. Silke Steets. Aber auch in Berlin laden Pfingstler zu Gottesdienst, Tanz und Gesang in große Kinos und Partysäle ein. Die neue Religiosität findet sich gerade in den Großstädten – doch den Soziologen, die sich auf die Untersuchung der Städte spezialisiert haben, ist es lange entgangen.
    "Wir haben eben über Jahre hinweg dieses Religionsproblem nicht auf dem Schirm gehabt. Und die Tagung ist jetzt ein Stück weit ein starting point, um jetzt zu sagen, wir haben das Problem jetzt erkannt und möchten davon ausgehend darüber nachdenken, wie wir die konzeptionellen Arbeiten, die wir mit unseren empirischen Arbeiten verbunden haben, also die Begriffsbildung, wie passt da Religion rein."
    Dominante Religion prägte viele Städte
    Dr. Jochen Schwenk, ebenfalls Soziologe an der TU Darmstadt, kennt auch die Ursache für den blinden Fleck der Forschung: Die Begriffe für die Analyse fehlen, weil die Soziologie der Städte zu Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, als die Metropolen der Inbegriff der Modernität und damit auch der Säkularisierung waren: Gewaltige Menschenmassen können nur an einem Ort zusammenleben, wenn sie ihre Leidenschaften abkühlen, nicht zuletzt ihre weltanschaulichen Leidenschaften - so drückte es Georg Simmel aus, einer der Begründer der deutschen Stadt-Soziologie.
    Von dieser Grundannahme, dass Großstädte per Definition ein Ort der Weltlichkeit sein müssten, hat sich die Forschung lange nicht gelöst – obwohl eine dominante Religion weiterhin viele Städte prägte: "Das katholische Köln" ebenso wie "das protestantische Lübeck". Inzwischen ist die Konkurrenz religiöser Gruppen in vielen Städten der Welt unübersehbar und beeinflusst das Leben massiv. Helmut Berking, Professor für Soziologie in Darmstadt, hat beobachtet, welche Veränderungen sie in der Hafenmetropole Mombasa in Kenia ausgelöst hat.
    "Sie haben hier auf einem ganz kleinen Fleck, auf einem Quadratkilometer, die anglikanische Kathedrale, einen riesigen indischen Shiva-Tempel und Sie haben im Umkreis darum 13 Moscheen. Das ging bis vor wenigen Jahren harmlos und sehr harmonisch. Dann beginnt in Ostafrika die Fundamentalisierung des Islam, Sie haben den Zerfall von Somalia und innerhalb von drei, vier Jahren hat sich die Atmosphäre des urbanen Lebens völlig verändert."
    Mombasa dient jetzt als Rekrutierungsbasis für fundamentalistische Milizen, christliche Kirchen brennen, die Polizei hebt in Moscheen Waffenlager aus und viele Imame fallen brutalen, inner-islamischen Auseinandersetzungen zum Opfer. Der Kern städtischen Lebens, das Nebeneinander unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensweisen, ist infrage gestellt.
    Europäische Städte müssen längst die Vielfalt religiöser Aktivitäten aushalten
    In europäischen Städten verändert sich das religiöse Leben weniger dramatisch, aber auch hier treten mehr religiöse Gruppen auf und agieren offensiver. Vor allem drückt sich in neuen, repräsentativen Moscheen das gewandelte Selbstbewusstsein der islamischen Gemeinden aus. In Deutschland geht diese Entwicklung vor allem auf die zweite Generation türkisch-stämmiger Familien zurück, stellt Werner Schiffauer fest. Der Anthropologie-Professor aus Frankfurt an der Oder hat langjährige Studien in Berlin betrieben:
    "Die zweite Generation hat ein ganz anderes Programm. Ihr Programm ist die Anerkennung des Islam in der Mehrheitsgesellschaft. Sie sind Muslime, sie sind Deutsche und sie möchten hier einen Ort für den Islam in Deutschland schaffen. Und das braucht architektonisch die repräsentative Moschee."
    Die Auseinandersetzungen, die oft aus solchen Bauvorhaben resultieren, zeigen einmal mehr, dass die Städte längst nicht so weltlich geprägt sind, wie die Soziologie lange annahm, sondern dass auch die Ansprüche der christlichen Bevölkerungsmehrheit sehr massiv werden können.
    Europäische Städte müssen längst eine Vielfalt religiöser Aktivitäten aushalten – und die Tagung an der TU Darmstadt machte deutlich, wie sich Stadtverwaltungen aktiv damit auseinandersetzen. In London werden immer größere, spektakuläre Moscheen geplant, in Barcelona koordiniert die Verwaltung den religiösen Festkalender der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften und vielerorts werden spezielle Vermittler eingesetzt, um Kontakte zu den Gruppen zu pflegen und Konfliktpotenzial zu entschärfen.
    Das multi-religiöse Zusammenleben in der Stadt kann funktionieren
    Die Kooperation mit den islamischen Gemeinden ist auch das beste Mittel gegen die Radikalisierung und die Rekrutierung von Dschihadisten, stellte Werner Schiffauer in Berlin fest. Dass der Staat den Salafismus komplett ausgrenzt, sei dagegen fatal.
    "Er markiert die Salafisten insgesamt als Problemgruppe. Anstatt zu sehen, dass das Problem Neo-Salafis sind, die jetzt schnell radikalisiert wurden, die eine Heilshoffnung im Dschihad sehen und man sieht nicht, dass es große Gruppen einer traditionellen Salafia gibt, die ein Leben lang an Selbstperfektion gearbeitet haben, Salafia bedeutet ja nichts anderes als Orientierung an der Ur-Gemeinde und dass man sein Leben lang versucht hat, dem großen Vorbild Mohammeds nachzueifern, es nachzuleben. Man braucht die, denn das sind die, die dann auch wieder für die jungen Leute authentisch sagen können, nee, dafür steht es nicht."
    Solange keine Gruppe einen Alleinvertretungsanspruch erhebt und andere ausschließen will, womöglich mit Gewalt, kann das multi-religiöse Zusammenleben in der Stadt funktionieren. Die viel beschworene Tugend der Toleranz ist dafür gar nicht nötig, meint Helmut Berking im Rückgriff auf Georg Simmel: Für den war die Indifferenz, die Gleichgültigkeit die klassische Tugend des Städters.
    "Indifferenz als zivilisatorische Errungenschaft. Indifferenz als der Modus zu sagen, ich kühle die weltanschaulichen Leidenschaften so runter, dass mir der andere egal ist, solange er sich an Gesetze oder Regeln hält und mein Territorium nicht berührt."
    Toleranz dagegen verlangt, den Anderen bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren, trotz seiner Andersartigkeit. Viel praktischer, viel realistischer ist alltägliche Indifferenz: einfach die Schultern zu zucken. Diese Einsicht Simmels, der grauen Eminenz der Stadtsoziologie, gilt auch für das religiöse Leben in den Städten – obwohl er genau das nicht analysiert hat.