Freitag, 19. April 2024

Archiv


SPD-Familienpolitikerin: Kostenlose Kita-Plätze sind "Quantensprung"

Die SPD-Politikerin Kerstin Griese hält es für vertretbar, zugunsten eines Rechtsanspruches auf kostenlose Ganztagsbetreuung auf Erhöhungen des Kindergeldes zu verzichten. Dem SPD-Vorstand gehe es mit seinem entsprechenden Beschluss nicht um eine Senkung des Kindergeldes, sondern darum, ob es sinnvoll sei, es jetzt noch mal zu erhöhen, was der einzelnen Hilfe nicht sehr viel nutzen würde, oder das Geld in die Betreuungsinfrastruktur zu investieren, sagte die Bundestagsabgeordnete.

Moderation: Friedbert Meurer | 08.01.2007
    Friedbert Meurer: Kitaplätze für alle, wie sehr spricht Ihnen dieser Beschluss des Parteivorstands aus der Seele?

    Kerstin Griese: Der spricht mir sehr aus dem Herzen und aus der Seele, denn unser Ziel ist gute Lebenschancen für alle Kinder. Uns geht es als SPD darum, dass das Wohl der Kinder im Mittelpunkt der Familienpolitik steht. Deshalb haben wir gesagt, wir müssen jetzt eigentlich mal eine kleine Revolution machen, einen Quantensprung, und sagen, was wir wirklich wollen. Wir wollen bis 2010 diesen Rechtsanspruch auf ganztägige Angebote für Kinder von einem Jahr bis zum Schulbeginn. Wir haben ja immer schon über bedarfsgerechte Angebote gesprochen, wir haben mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz seit 2005 mit dem Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige begonnen. Aber die Entwicklung zeigt, dass wir wirklich für mehr Kinder unter drei und im Bereich der Ganztagsangebote Kitaplätze brauchen.

    Meurer: Liegt das im Wohl der Kinder, ab eins schon abgegeben zu werden, viele sagen, die sind ja noch zu klein?

    Griese: Aber wir wissen auch, und das wissen auch eigentlich auch alle Eltern und viele, die Kinder erleben, dass Kinder eine Lernlust haben, dass es gut für sie ist, wenn sie mit anderen Kindern zusammenkommen. Es geht nicht ums Abgeben, das ist ein bisschen ein deutsches Denken, dass es schlecht für die Kinder wäre, wenn sie nicht mit anderen zusammen kämen, dass es gut für sie wäre, wenn sie einzig und allein zu Hause blieben. Im Gegenteil, wir wissen aus vielen Forschungen und aus dem praktischen Leben, dass Kinder früh gefördert werden müssen und früh gefördert werden können, dass es da nicht um Zwang geht, sondern dass es um die Lust am Lernen, dass es um den Spaß auch für Kinder geht, zusammen zu sein. Uns geht es darum, dass Kinder früh in ihren Begabungen gefördert werden, dass aber auch Schwächen früh ausgeglichen werden können, dass zum Beispiel Sprachdefizite früher erkannt werden müssen, nicht erst dann, wenn die Kinder in die Schule kommen.

    Meurer: Wie gering, Frau Griese, ist im Moment die Versorgung mit Betreuungsplätzen ab einem Jahr? Ab drei, das Problem scheint ja gelöst zu sein mit dem Rechtsanspruch.

    Griese: Wir haben ab drei Jahren halbtags, das Problem haben wir, glaube ich, gelöst. Aber auch da ist der Wunsch nach mehr Ganztagsplätzen bei den Eltern sehr groß und sehr verständlich. Wir haben große Unterschiede in West- und Ostdeutschland. Wir haben in Westdeutschland im Durchschnitt für 10 Prozent der Kinder unter drei Jahren einen Platz, in Ostdeutschland für etwa 40 Prozent der Kinder. Das ist in Westdeutschland durch das neue Gesetz seit 2005 schon eine Steigerung von etwa vier Prozent auf etwa zehn Prozent, es reicht aber noch nicht aus. Unser Ziel bislang war 20 Prozent bis zum Jahr 2010. Wir als SPD wollen jetzt einen Schritt weitergehen und sagen, wir brauchen einen Rechtsanspruch. Das heißt, wir brauchen für Eltern ein zuverlässiges Angebot, dass ihre Kinder liebevoll, auch qualitativ gut betreut werden, während sie berufstätig sind.

    Meurer: Viele Eltern werden das begrüßen, was Sie sagen, nur, Frau Griese, in drei Jahren wollen Sie 10 Prozent Deckung in Westdeutschland auf 100 Prozent anheben?

    Griese: 100 Prozent ist ja nicht das, was wirklich gewünscht ist. Also wenn man den Studien glaubt, wird es um die 30, 40 Prozent etwa auch im Westen sein, weil es ja auch immer Fälle gibt, wo Eltern nicht einen Ganztagsplatz haben wollen. Aber es geht tatsächlich um einen massiven Ausbau. Wir wollen das auch schaffen und sagen, dafür muss der Bund den Kommunen und Ländern finanziell helfen. Wir wissen, dass sie das nicht alleine können, und haben deshalb auch gesagt, wir müssen genauer uns ansehen, wir man die Kommunen mit finanziellen Mitteln bei diesem Ausbau unterstützen kann.

    Meurer: Wie viel Geld soll das etwa sein?

    Griese: Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Da gibt es verschiedene Berechnungen, die wir auch gerade noch genauer prüfen, zwischen zwei und fünf Milliarden Euro wird dieser Ausbau kosten. Uns geht es darum, und das sagen auch alle Experten inzwischen, dass eine weitere Erhöhung des Kindergeldes nicht sinnvoll wäre, sondern dass man lieber das Geld in der Gesamtsumme nehmen sollte und in den Ausbau der Infrastruktur stecken sollte.

    Uns geht es auch darum, dass die Länder und Kommunen schauen, dass Mittel, die ja frei werden, weil wir leider immer weniger Kinder haben, nicht etwa dem Finanzminister für andere Bereiche zur Verfügung gestellt werden, sondern dass dieses Geld investiert wird in die Kinderbetreuung. Und uns geht es auch darum genauer zu schauen, wo sind finanzielle Transfers und zum Beispiel Steuerfreibeträge, Steuervorteile, die nicht der Gesamtheit der Kinder nützen, sondern die allein zum Beispiel sehr reichen Familien nützen, und da eine Umschichtung in Richtung Infrastruktur hinzukriegen. Ich glaube, das ist machbar, das ist ein sehr ambitioniertes Programm, aber für uns als SPD steht das im Mittelpunkt der Familienpolitik.

    Meurer: Die Frage ist, ob das rechtlich machbar ist. Steht das Bundesverfassungsgericht nicht vor Ihren Plänen?

    Griese: Es ist im Föderalismus alles sehr schwierig, wenn wir auf Bundesebene eine gute Idee erkannt haben, tatsächlich die auch in die Länder und Kommunen zu bringen. Es geht nur dann, wenn die Kommunen eigene Finanzierungsmöglichkeiten dafür haben. Wir haben als SPD in unserem Beschluss jetzt angedeutet, dass es beispielsweise möglich wäre, über eigene Anteile an der Umsatz- oder Einkommenssteuer für die Kommunen. Wir werden das genauer ausarbeiten und voraussichtlich im März ein Konzept haben, wie das rechtlich und finanziell wirklich geht. Ich glaube aber, dass das eine Idee ist, die bei so vielen Menschen auf Zustimmung stößt, dass man auch wirklich einen rechtlichen und finanziellen Weg dafür finden muss.

    Meurer: Der Föderalismus ist das eine, Frau Griese. Nur: Kann man wirklich vom Kindergeld etwas abzweigen, das stellt doch das Existenzminimum der Kinder dar?

    Griese: Ich habe ausdrücklich nicht von Kindergeld abzweigen gesprochen, damit wir uns richtig verstehen, sondern ich habe ausdrücklich gesagt, das Kindergeld in seiner jetzigen Höhe soll erhalten bleiben, das haben wir als Sozialdemokraten mit Christine Bergmann und Renate Schmidt dreimal erhöht. Das war auch richtig so, um die Schere zwischen denen, die Kindergeld bekommen, und denen, die über die Freibeträge durchaus mehr Geld bekommen, kleiner zu machen. Uns geht es nicht um eine Senkung des Kindergeldes, uns geht es nur darum, ob es wirklich sinnvoll ist, es jetzt noch mal um acht oder fünf Euro zu erhöhen, was der einzelnen Hilfe nicht sehr viel nützt, oder das Geld in der Gesamtheit zu nehmen und in die Betreuungsinfrastruktur zu investieren, darum geht es. Ich muss noch dazu sagen, uns geht es auch um ein Konzept auf mehreren Beinen, um den Ausbau von Bildung und Betreuung, uns geht es aber gleichzeitig auch um mehr Schutz für gefährdete Kinder, um Hilfen für Eltern. All das gehört für uns zusammen bei einer guten Familienpolitik.

    Meurer: Sie haben in der SPD-Klausur in Bremen ja auch beschlossen, dass die Tagesstättenplätze Zug um Zug ab 2010 kostenfrei werden sollen. Erstmal will man sozusagen hinten im Altern von fünf beginnen, dann soll das nach vorne gehen, ab eins schon kostenfrei. Wäre den Eltern denn mehr geholfen, wenn zwar Tagesstättenplätze etwas kosten, Sie aber dafür umso schneller eine Deckung mit Plätzen erreichen?

    Griese: Ausdrücklich ja. Ich bin Nordrhein-Westfälin und Westdeutsche und weiß, dass für uns das wichtige Problem, das zu lösen ist, ist erstmal ein Ausbau der Betreuung. Deshalb haben wir gesagt, den Vorrang hat der Ausbau der Betreuung und dann die schrittweise Gebührenfreiheit. Man muss aber auch sehen, wenn man sich ein Bundesland wie Rheinland-Pfalz, aus dem ja Kurt Beck kommt, ansieht, wenn man tatsächlich will, geht es. Es geht sowohl den Kindergarten auszubauen, in Rheinland-Pfalz sind die Kindergärten inzwischen ab zwei Jahren geöffnet, und es geht auch mit der Gebührenfreiheit zu beginnen, wie Rheinland-Pfalz als erstes Bundesland das schon begonnen hat mit dem letzten Jahr und jetzt auch schrittweise weiter nach vorne verlegt. Gerade wenn man sich die Situation in Nordrhein-Westfalen ansieht, wo wir eine sehr schlechte Betreuung für unter Dreijährige haben, sage ich es nochmal ganz deutlich, der erste Schritt ist für uns der Ausbau, und dann kann die Gebührenfreiheit schrittweise eingeführt werden.

    Meurer: Wie sehr, glauben Sie, wird die Union bei Ihrem Plan mitziehen, einen Rechtsanspruch für Betreuungsplätze ab eins herzustellen?

    Griese: Ich hoffe, dass sie mitzieht. Ich glaube, dass das eindeutig der Elternwille ist. Ich glaube, dass es den Kindern zugute kommt, dass es auch eine neue Qualität in der Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder bedeutet. Insofern kann ich nur an die Union appellieren, diesen großen Schritt, diesen großen Sprung in der Familienpolitik mitzumachen, weil er der Realität entspricht und weil er gut für Kinder und Familien ist.

    Meurer: Das war Kerstin Griese. Sie ist die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie und Jugend, und im SPD-Vorstand hat sie den Leitantrag mit formuliert, wonach Kindergartenplätze ab eins zum Rechtanspruch werden sollen. Frau Griese, schönen dank und auf wiederhören.

    Griese: Vielen Dank.