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Spiegelungen

Tahar Ben-Jelloun erhielt in diesem Jahr den höchstdotierten Literaturpreis, den IMPAC-Award. Für ein großartiges Buch, das ihm ein Freund Ende der 90er Jahre quasi in die Feder diktiert hatte. Das Schweigen des Lichts ging über die Folterjahre in einem marokkanischen Gefängnis. Der Vorwurf des Plagiats und der Ausschlachtung fremden Leids wurde damals schnell laut. Jetzt scheint Ben-Jelloun mit seinem neuen Buch Der letzte Freund dieselbe Geschichte noch einmal erzählen zu wollen. Zumindest ansatzweise und natürlich aus einem anderen Blickwinkel. Ben-Jelloun erzählt die Geschichte zweier Freunde. Ihr Entstehen, ihre Fortdauer, ihr Ende. Tahar Ben-Jelloun:

Von Oliver Seppelfricke |
    Es gibt mehrere Geschichten in diesem Buch. Da ist zunächst einmal die Geschichte jener Freundschaft, die zerbricht. Diese zwei jungen Männer. Dann gibt es aber auch die Geschichte Marokkos. Die Geschichte dieses Landes in den 70er Jahren. In der Geschichte der jungen Freunde spiegele ich die Geschichte des Landes. Ich habe sehr unangenehme Erinnerungen an diese Zeit. Es waren Jahre, in denen man wirklich verzweifeln konnte.

    Da ist zunächst Mamed. Der eigentlich Mohamed heißt, weder sich selbst noch andere liebt, der aus lauter Unsicherheit zynische Scherze treibt, ein einsamer Junge, einschlossen in seine Angst. Und da ist Ali, der Erzähler, ebenfalls 15 Jahre alt zu Beginn der Erzählung, ein vorsichtiger Beobachter. Ali schildert die Annäherung der beiden so verschiedenen Jungen im multikulturellen Tanger der Nachkriegszeit. Ihre ersten körperlichen Herausforderungen, ihre ersten intellektuellen Kämpfe. Schnell sind sie unzertrennlich. Es geht um erste Liebschaften, erste Bordellbesuche, erste Betrügereien, erste große Träume. Beide reden über Kultur und Politik, schwärmen für französisches Kino, sie besorgen sich ihre Zeitschriften beim Altwarenhändler, der sie kiloweise verkauft, doch das Wichtigste bleibt für lange Zeit, Mädchen zu finden. Mit Erfolg.

    Doch dann trennen sich die Wege. Mamed studiert Medizin, verschreibt sich verbissen der Politik, tritt in die KP Marokkos ein, verliert seinen Humor. Der Erzähler Ali studiert Film in Kanada und die Beziehung wird einseitig. Mamed erzählt, Ali hört zu. Mitte der 60er Jahre landen dann beide im Gefängnis. Wegen angeblichen "Angriffs auf die Staatssicherheit". Die anderen Gefangenen, Kriminelle, Diebe, Mörder können es nicht fassen, "etwas stimmt nicht in diesem Land", sagt einer von ihnen, "Ihr habt doch nur geredet." Dann folgen 18 Monate Disziplinierungslager, ohne jeden Prozeß, ohne Gericht, ohne Urteil. So war es einst Tahar Ben-Jelloun selbst ergangen, als er 1966 für 18 Monate ins Gefängnis gesperrt worden war. Man hatte ihm vorgeworfen, die Märzdemonstrationen des Vorjahres unter den Studenten vorbereitet zu haben. Tahar Ben-Jelloun:

    Ich kenne das Erziehungslager der Armee. Ich habe Elemente daraus in die Geschichte eingebracht. Ich kenne aber auch das Gefühl der großen Enttäuschung. Wie jeder Mensch habe ich Freundschaften und Enttäuschungen erlebt. Verrat und Traurigkeit. Mir hat das einmal so sehr wehgetan, daß ich davon erzählen wollte. Um von dieser schlechten Erfahrung frei zu werden.

    Als Mamed und Ali aus dem Lager herauskommen, sind sie noch immer die besten Freunde. Sie haben sich gegenseitig das Leben gerettet, und sind mit einem Schlag alt geworden. Und vorsichtig. Die politischen und intellektuellen Diskussionen erlahmen. Beide heiraten und "leben wie Kleinbürger, mit gebremsten Ambitionen und beschränktem Horizont", wie es heißt. Als Mamed, der inzwischen Arzt geworden ist, nach Schweden zieht, geht die Freundschaft bis auf eine Sparflamme zurück. Bis sie schließlich an einem Streit über Geld vollends erlischt.

    Man sollte in den Gefühlen eine große Relativität walten lassen. Zwei Menschen haben nie dieselben Gefühle. Nicht einmal in einem Paar ist das so. Wenn jeder der Partner seine Erfahrungen erzählt, merkt man, daß nie dieselbe Geschichte herauskommt. Man sollte die Ent-Täuschung kultivieren. Denn die Wahrheit hat viele Gestalten.

    In der Mitte des Buches, am Ende der 30-jährigen Freundschaft, wechselt dann auf einmal der Erzähler. Jetzt ist es Mamed, der erzählt, und natürlich ist alles auf einmal ganz anders. Das Zerwürfnis war nur herbeigeschafft, ein intrigantes Spiel, um den Freund vor Schlimmerem zu bewahren. Doch ob das wirklich so ist, läßt das Buch offen.

    Tahar Ben-Jelloun hat einen Roman geschrieben, der die Freundschaft zweier Jungen und Männer zum Mittelpunkt macht. Der aber eigentlich die politischen und gesellschaftlichen Zustände des Marokko der Nachkriegszeit zum Gegenstand hat. Der exilierte Schriftsteller, der seit 30 Jahren in Frankreich lebt, beschwört mit Wehmut das Tanger jener Jahre herauf. In denen die Stadt wegen ihres Status als Freie Stadt gewisse Freiheiten im Denken und Lebensstil gewähren konnte. Jahre, in denen eine nach dem demokratischen Norden orientierte Elite des Landes Hoffnungen hegte, bis heute. Jahre, in denen die Spitzel des Regimes allgegenwärtig waren.

    Tahar Ben-Jelloun erzählt so auch Teile seiner eigenen Geschichte. Seiner Gefangennahme, seiner politischen Betätigung. Es ist kein großes Buch geworden, viel weniger intensiv als das prämierte "Schweigen des Lichts". Das in der Schilderung der Leiden unübertrefflich ist. "Der letzte Freund" ist eher eine Art atemloser Bekenntnisroman, wie wir ihn bestens von Sandor Marai kennen. Lange Offenbarungen mit überraschenden Wendungen am Schluß, erstaunliche Erkenntnisse nach vielen Jahren des Irrtums. Aber auch das tut weh...

    Tahar Ben-Jelloun
    Der letzte Freund
    Berlin Verlag, 157 S., EUR 18,-