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Spielplatz des Lebens

Wenn es in einer Gesellschaft von allem zu viel gibt, zu viele Waren, zu viele Häuser, zu viele Menschen mit ungenutzten Energien, dann steht nicht mehr zur Debatte, wie der "Kapitalismus" die Knappheit von Angeboten organisiert, um daraus Gewinn zu schöpfen, sondern wie dieser Überfluss abgebaut werden kann?

Von Michael Schmitt |
    Jochen Hörisch hat im letzten Merkur- Sonderheft über "Kapitalismus oder Barbarei" darauf hingewiesen und auch die Möglichkeiten angeführt, mit denen das, was zuviel ist, beseitigt werden kann: Zum einen durch Krieg oder zum anderen durch ritualisierte Formen der Verschwendung. Beide Prinzipien sind alt und bewährt, zum Krieg muss man auch weiter nichts sagen – in Sachen Verschwendung aber gilt wohl, dass sie umso fragwürdiger erscheint, je rigider sich ein Gemeinwesen über Disziplin, Akkumulation und Weitblick definiert.

    George Bataille hat schon vor Jahrzehnten über "Verschwendung" nachgedacht – und ist damit eher ein apokrypher Denker unter den Gesellschaftskritikern geblieben – und nun setzt auch der Roman "Die 120 Tage von Berlin", mit dem Lukas Hammerstein wieder als Schriftsteller an die Öffentlichkeit getreten ist, bei diesem Gedanken an.

    Hammerstein macht einen fiktiven Glas-Stahl-Palast kurz vor der Jahrtausendwende und vor dem Kollaps der New Economy am Potsdamer Platz zur befristeten Nische für einige ganz besondere "Aussteiger"; er übergibt ein paar Dutzend Menschen die noch leerstehende Immobilie als Spielplatz für ein Leben nach eigenen Regeln.

    Vier Monate lang sollen "Pseudomieter" das Haus als genutzt erscheinen lassen, um ernsthafte Interessenten anzulocken. Die "Pseudos" sollen ein Potemkin’sches Dorf an einem un-toten Ort inszenieren, sollen "Empfang" und "stilvolles Warten im Foyer" spielen, um eine Nachfrage zu stimulieren, die es anders womöglich gar nicht mehr geben würde.

    Umgehend wird die Investitionsruine aber auch zum Freiraum für die Zwischenmieter: für stolze Verlierer und Nischenbewohner, arrogante Versager, Verneiner und Systemverächter, für NINKS (no income no kids), "für Kriegsgewinnler in der Schlacht des Geldes mit sich selbst." In ihrem Pseudoland, von der Tiefgarage bis zum obersten Stock, entsteht alsbald ein Gegenreich von kreativ Arbeitslosen, Computerfreaks, arrivierten Aussteigern oder TV-Sternchen. Sie definieren die Büro-Etagen um, füllen sie mit Skateboard, Esoterik, Bodybuilding oder mit den Hackerträumen von Anarchie in den Netz- und Medienwelten draußen vor der Tür.

    Inmitten dieser bunten Schar hat der Erzähler selbst im siebten Stock sein Quartier bezogen – und schreibt dort einen Bericht über die vier Monate als Abschiedsbrief an eine Freundin, die im richtigen Leben Karriere macht. Hammerstein spiegelt die traditionelle Geschichte der Überwindung von emotionalen Ablösungsprozessen am Wachsen einer experimentellen, teils kollektiven, teils extrem individualisierten Daseinsform, die in einem großen Fest am letzten gemeinsamen Abend gipfeln soll.

    Der Kater am nächsten Tag wird groß sein, das wissen die Hausbewohner, aber, so der Erzähler: zu später Reue oder Furcht, zur Haushaltung der Kräfte, zu irgendeinem Maß fehlt ihnen die Zeit. An diesem Ort habe man nur eines gelernt: nicht an morgen zu denken. Vier Monate lang haben sie daran gearbeitet, ihr früheres geknebeltes Ich zu verlieren, haben ihren Hipness-Burnout kuriert, haben sich in kühlen Affären von alten Beziehungen freigevögelt. "Das Ich ist weg, das ist das Glück, solange man es aushält", heißt es -- und nun soll die Überbietung jeder Orgie, die Überbietung jeder Love-Parade-Intensität den Gipfelpunkt des formlosen Experiments markieren.

    Angesagt ist die ultimative Opferung des "Ichs", ganz real in einer körperlichen Form: Als kannibalistische Vernichtung, besser vielleicht: als kannibalistisches Aufgehen eines Körpers in allen anderen. Die Verschwendung kulminiert in der Verschwendung menschlichen Fleisches als Teil eines Gelages.

    Das ist etwas ganz anderes als Zeitgeist- oder Trendberichterstattung, die dem Autor zum Vorwurf gemacht worden sind. Das breit angelegte, mehr oder weniger kunstvolle Spiel mit den Gesten ist nur eine Oberfläche. Hammersteins Buch gehört in einen Zusammenhang, der diesem Roman viel mehr Brisanz gibt, der aber auch das Risiko des Scheiterns deutlich erhöht.

    Wer "Die 120 Tage von ..." sagt – und sei es auch nur "die 120 Tage von Berlin" – der sagt natürlich auch "Die 120 Tage von Sodom", bezieht sich auf Marquis de Sade und mutmaßlich auch auf Pasolinis Film "Saló", die Adaption dieses Romans unter dem Eindruck der letzten Tage von Mussolini. Es geht Hammerstein um größere Perversionen und um einen anderen Totalitarismus als bloß um das Diktat zeitgeistiger Ausstaffierungen des Alltags.

    Die Nischenbewohner unterscheiden stets zwischen dem Reich drinnen in ihrem Domizil mit seiner Freiheit -- und der Welt außerhalb, die vor allem aufgrund jener Art von Mentalität, die man Regierungsräten nachsagt, verseucht ist. Draußen herrscht die "Pest", sagen sie – aber sie wissen ganz genau, dass ihr eigenes Reich nur als Auswuchs dieser kranken Welt hat entstehen können.

    Das Motto ihres Festes lautet deshalb: "Wir sind die Pest, wir sind das Fest". Will sagen: Zwischen drinnen und draußen ist eigentlich kein kategorialer Unterschied, beide Sphären sind vom gleichen Geist beseelt – und wenn man es genau betrachtet, dann werden draußen die Menschen eher nur im übertragenen Sinne aufgefressen, während drinnen ganz real ein Körper in Teig gebacken und tranchiert wird.

    "Dies ist keine Party .. hier wird nichts versprochen ... vergesst wer ihr seid, dann könnt ihr was erleben ... ", so wird die Einladung formuliert – und die Pest vor der Tür ist anders als bei Boccaccio oder bei Camus weder etwas vor dem fliehen noch etwas vor dem man sich in einem existentiellen oder moralischen Sinne bewähren könnte. "Ihr habt versprochen, nicht nachzudenken", lautet ein Appell an die Tafelrunde oder auch ganz bieder " ... gegessen wird, was auf den Tisch kommt ..." -- es vollzieht sich de facto eine suggestive totalitäre Vereinnahmung -- und daher lautet die endgültige Frage, frei nach Göbbels, denn auch: "Wollt ihr das totale Fest?" Das sollte man nicht allzu ironisch auffassen -- das Nischendasein treibt in ritualisierter Form auf die Spitze, wovor die Aussteiger sich retten wollten – und die hedonistische Verschwendung rückt durch die Parallele zur Sportpalastrede von 1943 fatal in die Nähe des Krieges. Alles ist eins, der Krieg, die Lust und die Freiheit.

    Wie viel Wasser lässt dieser Braten, der den Protagonisten nicht wirklich schmeckt, nun aber dem Leser im Munde zusammenlaufen? Das ist nicht ganz leicht zu beantworten – denn die Grundidee, die fast aristotelische Geschlossenheit von Raum, Zeit und Ort ist ziemlich überzeugend. Im Einzelnen aber bleibt dann vieles zu wünschen, weil nämlich die orgiastische, die verschwenderische Dimension eher zu kurz kommt. Da wo man sich poetischen Überschuss, phantasievolle Ausgestaltung von Hackerträumen, Musikerfahrungen oder auch Erotik wünschen würde, herrscht zu oft nur die etwas kursorische Dürre journalistischer Reportagehaftigkeit.

    Es gibt nicht zu viel Zeitgeist in diesem Buch, sondern zuwenig Erzählung. Und dieser Mangel untergräbt natürlich bis zu einem gewissen Grade die insinuierte tiefere Bedeutung. Das bisschen Potsdamer Platz alleine trägt kaum einen so gewaltigen Überbau – und ganz egal, ob man Hammerstein zustimmen möchte oder nicht: es bleibt der Eindruck von säuerlicher Gesellschaftskritik.

    Lukas Hammerstein
    Die 120 Tage von Berlin
    S.Fischer Verlag, 219 S., EUR 10,-