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Sprachentwicklung
Umbrüche und Krieg hinterlassen Spuren

Historische Umbrüche im Spiegel der sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschung standen auf dem Programm der diesjährigen Sommerschule an der Universität Heidelberg. Insbesondere die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Sprache standen im Fokus der Tagung.

Von Terry Albrecht | 07.08.2014
    Die Nahaufnahmen einer Schreibfeder.
    Schriftliche Zeugnisse geben Hinweise auf die Umbrüche während des Ersten Weltkrieges. (picture-alliance/ dpa / Hans Wiedl)
    Die diesjährige Tagung trug den verheißungsvollen Titel "Historische Unsicherheit im Spiegel sprachlicher Konstruktion". Ohne Umschweife stieg der Essener Historiker Jörn Rüsen mit seinem Eröffnungsbeitrag auf dieses Thema ein. Die Geschichte sei nur eine Konstruktion betonte er und forderte eine neue Geschichtswissenschaft, die auch in die aktuelle Gesellschaft hinein Orientierung gäbe und insbesondere den Diskurs über die Bedeutung der Religion stärke.
    Sprache und Geschichte untrennbar miteinander verbunden
    Dieser Gastvortrag eines Historikers brachte gleich zu Beginn eine These auf die Tagesordnung, mit der sich die Sprach- und Literaturwissenschaftler auf der fünftägigen Tagung in Vorträgen und Workshops auseinandersetzten. Hier wurden Zeichen für eine stärkere Ausrichtung der Germanistik auf die literaturlinguistische Forschung gesetzt. Denn diskutiert wurde auf vielen Veranstaltungen die Sprachforschung im Kontext von Geschichts- und Literaturwissenschaft. Dass Sprachbildung und Geschichte untrennbar miteinander verbunden sind, machte die Sprachhistorikerin Anja Lobenstein-Reichmann von der Universität Göttingen deutlich:
    "Mein hauptsächliches Anliegen war es, die Frage von Interaktion und Kommunikation in Geschichte und Gegenwart zu diskutieren. Inwiefern Sprache als Medium der Erkenntnis und Darstellung dient. Aber auch und das ist das Entscheidende: zur Hervorbringung und Gestaltung der Welt. Das kann ich am Beispiel der Hexe demonstrieren. Wenn wir zurückgehen in die Geschichte, hat keiner jemals eine Hexe erlebt. Interessant ist aber, wie wird eigentlich die Hexe konstruiert. Wenn man sich die Textsorten in der Geschichte anschaut, Bußbücher, der Malleus Maleficarum, ganz berühmte Texte, dann arbeiten die vor allem mit einem ganz bestimmten sprachlichen Mittel, das nennt man Präsupposition. Man fängt an etwas zu erzählen, zum Beispiel, wieviel Schaden die Hexen in den letzten Jahren angerichtet haben. Dass aus diesem Grund jetzt, 1591 in der Region soundso viele auch hingerichtet worden sind. Man schreibt und spricht immer so, als gäbe es sie. Das ist sprachliche Konstruktion von Welt."
    Fiktionalität und Faktizität in der Sprache
    Mit ihrem Vortrag über die angebliche Existenz von Hexen berührt Anja Lobenstein-Reichmann eine zentrale Fragestellung der Tagung: die nach der Fiktionalität und der Faktizität in Literatur und Sprache:
    "An diesem Beispiel sieht man sehr deutlich, wie diese Fiktionalität am Ende brutale Faktizität werden kann, für diese Frauen, die man sprachlich zur Hexe macht. Solche sprachlichen Mittel, mit denen wir die Hexe konstruieren, sind genauso gültig für die Judenverfolgung. Genauso wird der Jude konstruiert. Sodass wir zwar ganz viel über die Juden in dieser Stigmatisierungspraxis der Geschichte lesen, aber eigentlich erfahren wir gar nichts über diese Menschen, die dahinterstecken, sondern wir haben immer nur dieses Konstrukt vor Augen. Sprachwissenschaftlich ist interessant daran, dass wir dieselben sprachlichen Strategien nutzen für die Hexenverfolgung, für die Konstruktion der Hexe wie für die Konstruktion aller Ausgegrenzten in unserer Gesellschaft. Inklusion ist nur der andere Teil von Exklusion. Wir machen das, um uns etwas über uns selbst zu sagen. In diesem Fall, dass wir besser sind zum Beispiel."
    Soldaten verschriftlichten Erfahrungen
    Auch das Schwerpunkthema der Tagung, der Umbruch, den der Erste Weltkrieg bedeutete, wurde als Geschichtskonstruktion unter dem sprachlichen Brennglas untersucht.
    Agnés Steuckardt von der Universität Montpellier, zeigte auf, wie sich französische Soldaten im Ersten Weltkrieg plötzlich neu zu artikulieren lernen mussten, durch das Schreiben von Briefen und Postkarten. Viele einfache Soldaten hatten bis zum Kriegsausbruch kaum Schreiberfahrung. Nun waren sie gezwungen Erfahrungen zu verschriftlichen. Die einzige Chance, um mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben. Es entstand, so Agnés Steuckardt, eine ganz eigene Transkription von Sprache in dieser Feldpost.
    In der Literatur dieser Zeit lässt sich die sprachliche Konstruktion von Geschichte nur bedingt belegen. Das zeigten die weiteren Vorträge der Tagung. In der Lyrik des Dichters und Heidelberger Professors Friedrich Gundolf zum Beispiel. Insbesondere in seinem Gedicht "1914" , entstanden im November 1914:
    "Das Menschentum so deutsches Wesen schafft / Geduldig bis zur Trägheit, schwer vor Fülle / Unscheinbar hinter Zucht, Bedacht und Hülle / Fährt nun aus bedrohten Herd als Kraft / Die alle Schlacken auswirft und verschweißt / O heilig Volk gereinigt durch Schänder / Du dunkler Kern und Ausbund aller Länder / Wie bist du wider Erz und Glut und Geist!"
    "Das Realpolitische spielt in Gundolfs Lyrik vor 1914 keine Rolle. Dann, zu Kriegsbeginn gehörte Gundolf zu denen, die dieses Augusterlebnis ganz national emphatisch begrüßt haben. Der Sprachstil änderte sich nicht sehr", sagt der Heidelberger Germanist Philipp Redl.
    Bereits zuvor war Gundolfs Lyrik getragen von sakraler Überhöhung. Die mythische Sprache, ganz im Geiste des Stefan-George-Kreises, änderte sich ab 1914 kaum. Sie wurde nur nationaler, politisch aufgeladen, so Philipp Redl.
    Geschichts- und Sprachforschung müssen enger zusammarbeiten
    Anders sah das bei Gottfried Benn aus. In ihrem Vortrag zum ahistorischen Schreiben des weist Friederike Reents, die Herausgeberin des Benn-Handbuches, nach, dass Gottfried Benn mit der sogenannten Zeitenwende 1914 nichts anfangen konnte. Sein Schreiben bleibt auch über den Ersten Weltkrieg hinaus ein ahistorisches - bis zu seiner kurzzeitigen Hinwendung zur nationalsozialistischen Ideologie Anfang der 30er Jahre. In den Rönne-Novellen und besonders in den nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Essays benenne er historische Ereignisse nur, um deren historische Bedeutung zu negieren, so Reents. Die Idee, dass Geschichte sich wandele durch radikale Einschnitte wie 1914-18 habe Benn verworfen.
    Dass Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaften in ihrer Forschungsarbeit wieder enger zusammen rücken müssen, stellte der Sprachwissenschaftler Wolf-Andreas Liebig in einem Resümee der Tagung fest. Beim Thema Religion und ihrer Überhöhung - nicht nur in den Versen Friedrich Gundolfs - sei das besonders deutlich geworden, gerade auch im Hinblick auf die vielen religiös motivierten Kriege in der Gegenwart:
    "Religion ist ein entscheidender Faktor. Religiöse Überhöhung wie von der George-Gruppe. Und die Rolle die Religion spielt bei der Projektion in die politische Kultur, das ist noch ein entscheidendes Moment, das gar nicht richtig bearbeitet wurde, was aber für die Zukunft wichtig wäre."