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Stadtlesebuch "Mein Istanbul"
Bilder einer einzigartigen Stadt

Istanbul liegt nicht nur auf zwei Kontinenten gleichzeitig, die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei hält noch mehr Widersprüche aus: Sie gilt als heimliche Hauptstadt des Landes, als Zufluchtsort für Künstler und Minderheiten. Der Stadtleseband "Mein Istanbul" lässt 56 Autoren ein facettenreiches Bild der Stadt zeichnen.

Sefa Suvak im Corsogespräch mit Sandro Schroeder |
    Blick auf Bosporus vom Szeneviertel Cihangir aus gesehen, Istanbul
    Blick auf Bosporus vom Szeneviertel Cihangir aus gesehen, Istanbul (imago stock&people/ Ali Kabas / Danita Delimont )
    Sandro Schroeder: Istanbul ist eine Stadt der Widersprüche: Sie liegt zeitgleich auf den Kontinenten Europa und Asien, steckt auch im Widerspruch zwischen Tradition und Moderne - eben in der Architektur, aber auch in der Politik: Denn in Istanbul hat einerseits die Karriere von Staatspräsidenten Erdogan begonnen, als er eben Bürgermeister von Istanbul 1994 wurde. Und andererseits haben dort auch 2013 die landesweiten Proteste gegen ihn begonnen. Auf diese vielen Widersprüche der Stadt Istanbul schaut jetzt ein Stadtlesebuch mit dem Titel: "Mein Istanbul", beziehungsweise "My Istanbul". Mit-Herausgeberin ist die Journalistin Sefa Suvak. Willkommen beim Corso-Gespräch, Frau Suvak.
    Sefa Suvak: Hallo.
    Schroeder: Das Buch beleuchtet nicht nur die Widersprüche, die die Stadt hat, es hat - finde ich - selber auch welche: Es ist gleichzeitig Foto- und Essayband, hat schwarz-weiße und farbige Fotografien, und auch noch Essays in gleich drei Sprachen. Warum haben Sie das alles in ein Buch gepackt?
    Suvak: Also das mit den drei Sprachen ist ja irgendwie klar. Weil wir türkischsprachige- und deutschsprachige Autoren hatten, wollten wir die Möglichkeit geben, dass die Leute das auch in der Ursprungssprache, also vor der Übersetzung lesen können. Und außerdem ist das Buch auch einfach für den internationalen Markt gemacht.
    "In Istanbul waren Dinge möglich, die woanders nicht möglich waren"
    Schroeder: Diese Widersprüche zwischen Tradition und Moderne, im Stadtbild, die hat ja eigentlich jede Großstadt auf der Welt, also New York, genauso wie Paris, wie Tokio. Was würden Sie sagen ist da im Fall von Istanbul anders, als bei anderen Metropolen? 
    Suvak: Ich glaube die Spannweite ist größer. Also Istanbul hat ja einfach mehrere Religionen so vorkommen. Es gibt keine islamische Stadt, die so europäisch ist, es gibt keine Stadt, die auf zwei Kontinenten liegt. Also die Natur und die Landschaft sind so sensationell, also der Bosporus, diese Hügel und die soziale Spannweite ist so groß. Ich habe die Stadt zum Beispiel kennengelernt so als Gastarbeiterkind, immer wenn wir mit meinen Eltern dahingefahren sind und wir Verwandte besucht haben und dann irgendwie mit den Verwandten diese Ausflüge zu der Blauen Moschee und so weiter gemacht haben. Und später dann, als Studentin, da habe ich das auch nochmal kennengelernt. Und ich hatte das noch nie so gesehen, habe das auch später nicht gesehen, dass wirklich Zivilisationen, Architekturstile und alles so wirklich aufeinanderknallen.
    Und das Besondere an Istanbul ist, dass da was Eigenes daraus entsteht. Und Istanbul war auch immer für die Türkei, für die asiatische Welt, für den vorderen Orient immer so was wie ein Labor: In Istanbul waren Sachen möglich, die in anderen arabischen Städten oder in anderen asiatischen Städten eben nicht möglich waren. Zum Beispiel, dass es da so eine große Gay-Community gibt, dass es diese Transvestitenszene gibt, dass es dort eine totale Technoszene gab und dass es irgendwie die Stadt war, wo es irgendwie moderne Kunst, europäische Kunst, und gleichzeitig byzantinisches, osmanisches Kunsthandwerk gab. All das war dort möglich und das war die Stadt, das hat mich halt so, als ich ein ganz junger Mensch war, dort total interessiert und total wirklich geflasht. Man konnte in so einem Straßen-Teeladen sah man da so alte Opis, die dann irgendwie ihren Tee schlürfen und daneben irgendwie Kopftuchfrauen. Ehrlich, die Erste mit einem Bauchpiercing habe ich dann gesehen, also Kopftuch und Bauchpiercing, und irgendwelche Freaks, die dann irgendwie über Technomusik diskutieren. Und dass die dann zusammensitzen konnten, das habe ich woanders nicht gesehen.
    "Das ungekämmte und ungewaschene wird von der Politik nicht gewürdigt"
    Schroeder: Sie schreiben auch in der Einleitung: "Kleinteilig, schräg, ungekämmt", dass Istanbul auch eine Art Zufluchtsort für Menschen war, die es in der restlichen Türkei nicht aushielten. Wie viel ist denn davon heute noch übrig? Wie viele Widersprüche, wie viel Freiheit kann Istanbul heute im Jahr 2017 denn noch aushalten?
    Suvak: Also zum Glück gibt es die noch, das ist die gute Nachricht. Und die schlechte Nachricht ist, dass die Anzahl von denen wirklich total minimiert werden. Und die Gründe dafür sind einfach, und das, das ist das, was viele von uns hier hören, dass man so sagt, dass durch die AKP-Stadtregierung oder die politische Führung, dass einfach ganz viel von dem ungekämmten, unangepassten einfach nicht anerkannt und gewürdigt wird, und dass sowohl die Musikszene und auch die - was weiß ich - die Stadt eingreift zum Beispiel in die Ausgehviertel und dass man versucht, den Alkoholausschank zu kontrollieren und dadurch einfach Stadtviertel, die Amüsierviertel sich verändern und so weiter.
    Aber ein anderer Grund ist zum Beispiel auch, dass so viel internationales Geld in diese Stadt gepumpt wurde und einfach, dass Hochhäuser, dass einfach die Leute, die so viel Geld in diese Stadt gepumpt haben, wollen einfach ihre Rendite sehen, das verändert die Stadt. Ja, das sind einfach so die größten Punkte, wo sich die Stadt verändert. Es gibt noch Nischen, und das ist die gute Nachricht. Also es gibt auch Viertel, wo man sich wohlfühlen kann. Aber die politische, wirtschaftliche Globalisierung, das sind einfach die Stichworte, die die Stadt sehr verändern, ja.
    An die Kraft der Stadt glauben
    Schroeder: Mich sprechen in diesem Buch vor allem die Schwarz-Weiß-Bilder an, von der Fotografin Cana Yilmaz, und ich finde, die betonen die Kontraste so unheimlich, also sie stellen dieses Schwarz-Weiß, was ja auch irgendwie sinnbildlich für etwas spricht, die stellen das enorm heraus. Da sind beispielsweise auf einem Bild so pechschwarze Häuserwände zu sehen, die enorm abgeranzt aussehen, und auf der anderen Seite sieht man dann so aus der Froschperspektive so ein gleißendes Reiseflugzeug am Himmel. Was sagt denn diese Bildsprache über die Stadt aus?
    Suvak: Die Cana Yilmaz ist eine Stuttgarter Türkin, also eine Künstlerin, die in Süddeutschland, in Stuttgart lebt und mehrere Reisen gemacht hat, um Istanbul zu entdecken. Und ich möchte jetzt gar nicht, ich kann gar nicht interpretieren, was sie jetzt mit diesem Bild sagen wollte. Ich kann aber sagen, dass Cana fotografiert, als würde sie malen, dass man die ganz großen Themen darin wieder entdeckt.
    Schroeder: Sie malen in diesem Buch ja auch eine Art Chronik von Istanbul. Es ist teilweise sehr persönlich, was auch die Autoren schreiben. Es ist auch - finde ich - es fühlt sich an, wie ein Abschied. Ist das Buch denn ein Abschied von Istanbul, wie es mal war?
    Suvak: Ja, es ist ja so, dass 56 Autorinnen und Autoren letztendlich Platz gefunden haben. Und das ist natürlich so, dass die Texte sehr unterschiedlich sind. Es gibt auch Texte, die so einen Zweckoptimismus - meiner Meinung nach - irgendwie vor sich her tragen und sagen, es ist doch wichtig, dass wir an die Stadt glauben und so weiter. Aber für viele war es wirklich - das war für mich die größte Überraschung beim Lesen der Texte - dass es ein Abschiedsbuch geworden ist, weil die Leute einfach total da stehen und wirklich staunen, wie sich ihre Stadt verändert. Durch die Alltagskultur, durch die politischen Veränderungen und, und, und.
    Dadurch, dass auch die Stadt architektonisch sich verändert, dass auf einmal innerhalb von zwei, drei Jahren ganze Viertel irgendwie wegkommen und stattdessen wieder so sieben Hochhäuser da stehen und so weiter. Dass eben das Kleinteilige, das Ungekämmte sich total verändert. Viele sind sentimental und Oya Baidar, die Grande Dame der türkischen Soziologie, sie hat gesagt, dass Istanbul, diese alte Stadt, diese 2.500, 3.000 Jahre alte Stadt schon so viele Eroberer und so viele Gemetzel und so weiter überlebt hat, dass sie einfach an die Kraft der Stadt glaubt, oder dass ihr eigentlich nichts anderes übrig bleibt, als daran zu glauben und hofft, dass die Stadt auch diese Veränderung irgendwie überleben wird und lebendig bleiben kann.
    Schroeder: Ein wehmütiger, aber auch vielleicht ein hoffnungsvoller Abschied von Istanbul und die Hoffnung auf ein neues Istanbul, das ist das Stadtlesebuch "Mein Istanbul". Die Journalistin Sefa Suvak hat es mitherausgegeben und sie war bei uns im Corsogespräch. Vielen Dank.
    Suvak: Danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.