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Start des TV-Kanals Viceland in den USA
Lifestyle, Dokus, Sex und Terror

Das ursprüngliche kanadische Lifestyle- und Jugendmagazin "Vice" startet mit einem eigenen Fernsehkanal: Viceland. Dort wird ein ähnliches Themenspektrum wie im Magazin abgebildet: Musik und Drogen, sexuelle Identität, gutes Essen, aber auch Terror und Cyberwar. Allerdings alles überraschend zahm, wie unser Autor findet.

Thomas Reintjes im Gespräch mit Marietta Schwarz |
    Marietta Schwarz: Herr Reintjes, was versteht Viceland unter Lifestyle und Entertainment?
    Thomas Reintjes:Wer das Magazin Vice kennt, wird das gleiche Themenspektrum in dem Fernsehsender wiederfinden. Es geht um Musik und Drogen, sexuelle Identität, gutes Essen, aber auch Terror und Cyberwar. Und manchmal werden diese Themen auf eine atemberaubende Weise miteinander verwoben. Eine Sendung dreht sich beispielsweise um den Rapper Action Bronson. Der war früher mal Koch und jetzt checkt er Viceland zusammen mit seinen Rapper-Freunden ver-schiedene Restaurants aus. Ich fand das allerdings kein gelungenes Experiment.
    Schwarz: Haben Sie denn auch Gelungenes am ersten Tag von Viceland gesehen?
    Reintjes: Durchaus. Zu seinen Aushängeschildern hat Viceland sechs Doku-Reportageformate gemacht. Gemeinsam haben sie, dass ein Reporter durch die Sendung führt. In den meisten Fällen konnte ich mich als Zuschauer gut mit den Reportern identifizieren und sie haben mir Orte und Themen näher gebracht, die ich noch nicht kannte und mit denen ich mich sonst auch nicht beschäftigt hätte. Zach Goldbaum beispielsweise geht in der ersten Folge der Musiksendung Noisey in das Gangster-Rapper-Viertel von L.A. schlechthin: Compton. Als weißer Hipstertyp wirkt er völlig deplatziert in dieser schwarz-dominierten Kultur voller Bandenkriminalität. Aber er nähert sich dem Thema und seinen Interviewpartnern auf Augenhöhe. Er hat diese Welt in diesen 45 Minuten ganz gut für mich erschlossen.
    Schwarz: Dreht sich auf Viceland denn alles um US-amerikanischen Lifestyle?
    Reintjes: Schwerpunktmäßig sicherlich, aber die zweite Folge von Noisey dreht sich um die Musikszene von Sao Paulo. Auch andere Magazine blicken hin und wieder über den amerikanischen Tellerrand hinaus. Vor allem natürlich die Reisesendung Gaycation - die mit Reisesendung zugegebenermaßen sehr schlecht umschrieben ist. Es geht um Reiseziele für die LGBT-Community, also Homosexuelle, Transsexuelle usw. Die kanadische Schauspielerin Ellen Page (Juno, Inception) und ihr bester Freund erkunden in der ersten Folge die Gay-Szene von Tokio.
    Schwarz: Das klingt, als könnte es sehr oberflächlich sein. Hollywoodstar trifft auf fremde Kulturen.
    Reintjes: Am Anfang habe ich das auch befürchtet, und die Sendung fängt auch mit einem Streifzug durch Tokios Schwulenbars an. Aber die Sendung wird immer ernster, es wird mehr und mehr klar, wie versteckt Schwule, Lesben und Transgender in Japan noch leben müssen. Ellen Page hat sich selbst erst vor zwei Jahren als lesbisch geoutet und man merkt ihr an, dass ihr das zu Herzen geht. Sie spielt keine Rolle, sondern ist ganz sie selbst. Das wird vor allem in der Szene klar, in der sie einen jungen Japaner begleitet, als er sich bei seiner Mutter outet. Die Wackelkamera wird plötzlich ruhiger, die Schnitte langsamer, als Ellen Page von ihrem eigenen Coming Out erzählt.
    "I think it became so important to me to not be at all hiding anymore. You know, the level of toxicity of it was just so extreme. And wanting to be in love and love someone openly was far more more important to me than being in movies. I just wanted to be happy, and I wasn't happy."
    Reintjes: Für mich definitiv das Highlight aus dem, was ich bisher von Viceland gesehen habe.
    Schwarz: Sie haben mir eben schon erzählt: Obwohl Sie in den USA sind, konnten Sie gar nicht alles sehen. In Ihrem Fernseher gibt es Viceland nicht, richtig?
    Reintjes: Ja, weil ich keinen Kabelanschluss habe. Ich gucke Fernsehen über's Internet, Mediatheken, Netflix, YouTube und so weiter. Ich konnte also nur das gucken, was Viceland auf seiner Website veröffentlicht oder bei YouTube reinstellt. Das sind die Hochglanz-Produktionen für die Prime Time am Abend. Aber wie das Tagesprogramm aussieht, weiß ich nicht. Einen Live-Stream gibt es nicht, auch nicht gegen Geld. Und das wundert mich, denn gerade in der jungen Generation, die Viceland erreichen will, ist Cord Cutting, sich von seinem Kabelanschluss zu trennen, im Trend.
    Schwarz: Die eigentliche Frage ist ja, warum startet Vice überhaupt einen Fernsehsender, wenn die vermeintliche Zielgruppe doch eher im Internet zu finden sein dürfte?
    Reintjes: Zwei Gründe fallen mir ein: Erstens ist das Fernsehpublikum immer noch riesig. 70 Millionen Haushalte in den USA und Kanada können Viceland seit gestern empfangen. Auch wenn die Zahlen schwer zu vergleichen sind, aber das Obama-Interview, das Vice vor knapp einem Jahr geführt hat, hat noch nicht einmal zwei Millionen Aufrufe bei YouTube. Also: mehr potenzielle Zuschauer im Fernsehen, und das heißt auch potenziell höhere Werbeeinnahmen. Der zweite Grund: Die Gelegenheit hat sich ergeben und man hat sie einfach ergriffen. Es gibt ja kaum noch Medienbereiche, in die Vice noch expandiert in seinem atemberaubenden Aufstieg. Es ist 1994 als Stadtmagazin für Montreal gestartet. Inzwischen ist Vice zum Medienkonzern geworden mit rund 30 Standorten weltweit, bringt verschiedene Online-Magazine heraus, betreibt YouTube-Channels und produziert sogar Spielfilme, neuerdings zusammen mit 20th Century Fox. Ein Fernsehsender hat einfach noch im Portfolio gefehlt.
    Schwarz: Geben Sie uns am Schluss noch einmal ein Gefühl für diesen Sender. Hat man es nur aus, den zu gucken, wenn man unter 30 ist?
    Reintjes: Ich bin weit über 30 und mir haben die Dokus gefallen. Ich war fast ein bisschen enttäuscht, dass sie relativ brav daher kamen. Von Vice hatte ich Provokanteres, Polarisierenderes und Innovativeres erwartet. Ich glaube, man hat da einfach Kompromisse machen müssen, um die Kabelfernseh-Kundschaft zu erreichen. Das merkt man auch an der Zensur, die hier staatlich vorgeschrieben ist. Also: In Gaycation, wo es um sexuelle Selbstbestimmung geht, werden Brüste verpixelt, sogar als die Kamera über ein Comic-Buch schwenkt, das sich die Moderatoren in einem Laden in Tokio ansehen. Eine andere Sendung, die Restaurantkritik-Sendung mit Rapper Action Bronson, heißt "Fuck, that's delicious". Aber wenn sie den Sendungstitel sagen, wird auf das Fuck ein Piepton gesetzt.
    "Tonight we've invited Action Bronson and the crew, because we're big fans of his music and F*** that's Delicious."
    Reintjes: Von manchem, was ich gesehen habe, würde ich mir auch gerne die nächsten Folgen ansehen, weil es gut gemacht ist. Es ist aber alles recht zahm.