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Stolperstein für Angela Merkel

Der EU-Verfassungsvertrag bleibt in Deutschland bis auf Weiteres auf Eis. Das Bundesverfassungsgericht setzte die Behandlung der Klage des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler gegen die EU-Verfassung aus bis zur Klärung des EU-Verfassungsprozesses unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007. Dazu eine Europakolumne von Alois Berger.

Von Alois Berger | 06.11.2006
    Wahrscheinlich ist es nicht einmal Absicht, wie sich das Bundesverfassungsgericht in die Europapolitik einmischt. Wahrscheinlich ist es einfach nur politische Ahnungslosigkeit, dass der zuständige Richter eine Entscheidung über die Vereinbarkeit von Grundgesetz und Europäischer Verfassung für nicht so wichtig hält. Es gebe derzeit keine Priorität für eine gerichtliche Prüfung. Anders ausgedrückt: Weil der europäische Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden ohnehin von der Bevölkerung abgelehnt wurde, braucht ihn auch Deutschland nicht zu ratifizieren, meint der Verfassungsrichter.

    Welch grandiose Fehleinschätzung. Um es klar zu sagen: Die Frage, ob und wieweit die EU-Verfassung mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist, diese Frage fällt durchaus in die Kompetenz der deutschen Verfassungsrichter. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Klage von einem abgehalfterten CSU-Politiker eingereicht wurde, der für sein Stammtischgenörgel eine öffentliche Bühne sucht. Das gibt der Sache einen faden Beigeschmack, aber der wäre schnell vergessen, wenn das Gericht einfach das Nahe liegende tun würde: eine Entscheidung fällen. Ja, die Europäische Verfassung und das Grundgesetz, das geht zusammen, oder Nein, die Verfassung verstößt gegen das Grundgesetz, weil erstens, zweitens, drittens. Damit könnte man etwas anfangen. Da wüsste man, wo man dran ist. Das wirklich Atemberaubende ist die Begründung für die richterliche Untätigkeit: Eine Entscheidung des Gerichts würde in den Europäischen Verfassungsprozess eingreifen. Als ob das Gericht jetzt nicht eingreift.

    Im nächsten Halbjahr hat die Bundesregierung die EU- Ratspräsidentschaft. Eines der großen Projekte der Bundeskanzlerin ist es, die Diskussion um die EU-Verfassung wieder in Gang zu bringen. Europa braucht diese Verfassung, allein schon, weil ein paar Regelungen drinstehen über Stimmrechte und Kompetenzverteilung, ohne die Europa bald nicht mehr handlungsfähig sein wird. Ob es klug war, diese organisatorischen Probleme ausgerechnet in der Verfassung zu beantworten, ist eine andere Frage. Aber jetzt steht das nun mal da drin, und nachdem inzwischen 16 EU-Staaten diesen Verfassungstext ratifiziert haben, kann man nicht mehr einfach hingehen und sich herauspicken, was einem passt und was nicht.

    Die Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Rettung der EU- Verfassung war bis letzte Woche eindeutig: Wenn zum Schluss 20 oder 22 EU-Staaten die Verfassung ratifiziert haben, dann wird eine neue Dynamik entstehen. Dann wird man einen Kompromiss finden, der zwar den Bedenken in Frankreich und den Niederlanden Rechnung trägt, aber doch sehr nah am vorliegenden Verfassungstext ist.

    Doch das geht nur, wenn Deutschland als größtes EU-Land eine entschlossene Vorreiterrolle einnimmt. Genau das ist jetzt nicht mehr möglich. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat Angela Merkel mit einer lächerlichen Begründung die Beine weggezogen.

    Die Situation könnte kaum absurder sein. Obwohl der deutsche Bundestag mit 94 Prozent der Abgeordneten für diese Europäische Verfassung gestimmt hat, obwohl Regierung und Opposition fast geschlossen hinter diesem Text stehen, obwohl selbst die sonst so aufmüpfigen Bundesländer keine Einwände haben, trotz alledem hat Deutschland offiziell keine Meinung mehr zur Europäischen Verfassung. Sie zählt zu den Wackelkandidaten, von denen man nicht weiß, ob sie ratifizieren oder nicht.

    Für die Europäische Verfassung sah es schon vorher nicht gut aus. Aber jetzt ist es zappenduster. Es ist schon bedenklich, mit welcher Tollpatschigkeit ein deutscher Verfassungsrichter in der Europapolitik herumfuhrwerkt.