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Streitfall Alpen
Funsport-Zentrum oder wilde Natur?

Aus der Ferne betrachtet sind die Alpen ein Sehnsuchtsort für viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Sehnsüchten. Für die sportbegeisterten Skifahrer, Mountainbiker, Kletterer oder Gleitschirmflieger sind sie vor allem ein großer Freizeitpark. Aus der Nähe betrachtet sind die Alpen aber noch einiges mehr.

Der Alpenforscher Werner Bätzing im Gespräch mit Thomas Kretschmer | 13.09.2015
    Der Alpenforscher Werner Bätzing
    Der Alpenforscher Werner Bätzing (Foto: Heiner Kiesel)
    Thomas Kretschmer: Anfang Juni 2015 ist ein Bild der Alpen um die Welt gegangen, das Bild vom G7‑Gipfel in Elmau bei Garmisch-Partenkirchen, auf dem die Staatschefs der G7‑Staaten zu sehen waren vor einer Bergkulisse und diesem Hotel. Es war ein Bild der Alpen, aber vielleicht kein spezifisches. Was hat Ihnen dieses Bild gesagt und erklärt?
    Werner Bätzing: Das ist für mich das Bild der Alpen als ein Hochsicherheitstrakt. Und da spielen die Alpen durchaus eine Rolle in der Politik, weil die Alpen ein Raum sind, den man, wenn man möchte, politisch schön kontrollieren kann, weil viele hohe Pässe die Übergänge erschweren. Mit wenigen Polizisten vor Ort kann man im Prinzip ein Tal sehr einfach abriegeln, viel besser als im Flachland. Und da kann man sagen, das ist eine Funktion der Alpen, die Alpen als ein Schutzraum, der halt den Menschen, die im Alpenraum leben, die Möglichkeit eröffnet, sich gegen außen ein Stück weit abzuschotten.
    Kretschmer: Jetzt ist das ein spezifisches Bild der Alpen. Wir können vielleicht auch über andere sprechen, um uns diesem Raum anzunähern. Ein Raum, der jetzt mal einfach definiert wird als ein Gebirgszug, der von der französisch-italienischen Küste sich dann erst nach Norden zieht und dann weit hinüber nach Osten bis fast nach Wien in Österreich. Ein Gebirgszug mit dem höchsten Gipfel Montblanc und sieben oder acht Anrainerstaaten, je nachdem, ob man die ganzen kleinen wie Monaco und Liechtenstein mitzählt. Was zählt für Sie noch zur Definition der Alpen, ganz wesentlich?
    Bätzing: Dieser Gedanke, dass die Alpen ein Rückzugsraum sind, ein Raum, der abgeschottet ist, ist das eine Element. Das andere Element ist, dass die Alpen in Europa einen Verbindungsraum darstellen. Und wenn man beide Sichtweisen miteinander vergleicht, würde ich sagen, dass in der Geschichte Europas und in der Geschichte der Alpen die Bedeutung der Alpen als Verbindungsraum, als Transitraum wichtiger war als die Rolle der Alpen als ein abgeschotteter Raum. Das kann man an der politischen Geschichte dadurch sehen, dass wir im hohen Mittelalter eine Entwicklung hatten, dass sich Alpenpassstaaten entwickelt haben, aber diese Alpenpassstaaten kleine, besondere Einheiten wie die schweizerische Eidgenossenschaft um den Gotthard herum, Tirol um den Brenner herum und so weiter, die haben keinen langen Bestand gehabt, die Alpen waren immer zu stark mit Europa verflochten, waren Teil von Europa, als dass die Alpen ein abgeschotteter Raum gewesen wären.
    Kretschmer: Ein abgeschotteter Raum oder ein offener Raum, Sie haben gerade zurückgeblickt in die Geschichte. Wenn wir in die Gegenwart schauen, sind die Alpen da eher am Rande oder im Zentrum?
    Bätzing: Zurzeit werden die Alpen praktisch vom modernen Wirtschaften und Leben voll erfasst bis in den letzten Winkel. Kein Bergbauernhof mehr ohne Internetanschluss, das heißt, die Alpen sind von der modernen Entwicklung zu 100 Prozent erfasst. Und das führt dazu, dass die Alpen ihre Funktion als Wirtschafts- und als Lebensraum verlieren, sie können nicht mehr am normalen Wirtschaften teilhaben, weil das Wirtschaften in ihnen zu schwierig ist, es ist nicht konkurrenzfähig, die Erreichbarkeit für Lkw ist zu schlecht. Und deswegen werde Teile der Alpen heute von Europa abgehängt und werden wieder zur Wildnis. Das heißt, die Menschen wandern ab, die Dörfer verfallen, die Kulturlandschaften verwildern und die Wildtiere wie Wölfe und Bären kehren zurück. Man muss sich verdeutlichen, die Alpen sind kein Naturraum. Die Städter haben das Gefühl, wenn sie in die Alpen fahren, sie wären in der puren Natur. Das ist vollkommen falsch.
    Damit die Menschen in den Alpen überhaupt leben konnten und existieren und wirtschaften konnten, mussten sie die Alpen tief greifend ökologisch verändern. Das heißt, sie haben Teile der Alpen gerodet, sie haben aus Waldflächen Wiesen, Weide- und Ackerflächen gemacht, der Wald wurde kleinräumig aufgelichtet. Dadurch ist eine sehr kleinräumige Kulturlandschaft entstanden. Und diese Kulturlandschaft ist es, die heute wieder verschwindet. Es verschwindet also nicht die Natur im Alpenraum, es verschwindet die vom Menschen veränderte Natur, in der der Mensch allerdings über Jahrhunderte hinweg stabil gelebt hat und wo er stabil wirtschaften konnte. Das heißt, um ein Beispiel zu bringen: Wir haben viele Flächen im Alpenraum, die seit dem hohen Mittelalter genutzt werden landwirtschaftlich und die heute noch ertragreiche Flächen sind. Und den Rekord finden wir im Unterengadin, wo wir Ackerflächen haben, die seit der Bronzezeit, seit 2000 vor Christus bis heute ununterbrochen genutzt werden und die immer noch produktive Landwirtschaftsflächen sind.
    "Wenn die Landschaft verbuscht und verwaldet, kriegen wir ökologisch instabile Zwischenphasen"
    Kretschmer: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, wir haben da eine spezielle Form der Nutzung oder der Kulturlandschaft, die aber durch die moderne Wirtschaft oder das, was man vielleicht auch als Neoliberalismus beschreibt, in Gefahr ist. Wie kommt das, können Sie das noch mal ein bisschen erklären?
    Bätzing: Die Bauern im Alpenraum wie die Menschen im Alpenraum in der vorindustriellen Zeit insgesamt haben stets langfristig gedacht. Ihnen war bewusst, wenn sie den Wald roden, muss die Kulturlandschaft ganz bewusst gepflegt und stabilisiert werden. Da gab es zahlreiches Erfahrungswissen, was man machen muss, nicht zu früh anfangen zu nutzen, nicht zu lange zu nutzen, die richtige Zahl der Tiere auf die Alm treiben, eine Menge von Reparaturarbeiten machen und so weiter. Die Menschen wussten, dass sie Natur nicht einfach so nutzen können. Natur ist kein Material, was dem Menschen beliebig zur Verfügung steht. Und dieses Wissen der Menschen ist, denke ich, eine der wichtigsten Ressourcen für heute, weil, der Alpenraum macht deutlich: Selbst in einem so schwierigen, extremen Lebensraum wie einem Hochgebirge kann der Mensch in Natur eingreifen, kann der Mensch Natur verändern, ohne sie zu zerstören.
    Mit der industriellen Revolution, mit dem gesamten modernen Wirtschaften kommt etwas ganz anderes in die Alpen hinein, nämlich das Gefühl, der Mensch hat Natur total im Griff, Natur ist Material - ich gebrauche hier ganz bewusst einen Begriff des Philosophen Heidegger -, Natur ist Material, was vom Menschen beliebig verändert werden kann. Und das führt langfristig gesehen für den Menschen zu Naturkatastrophen im Alpenraum. Diese Form des Wirtschaftens, die schafft im Alpenraum heute große ökologische Probleme. Die gesamten städtischen Umweltprobleme haben wir in den Tallagen der Alpen genauso wie im Ruhrgebiet oder wie in Berlin.
    Kretschmer: Und kann man da den Menschen durch diese Nutzung auch direkt verantwortlich machen für Naturkatastrophen, wie es dann heißt? Also Muren im Sommer, wenn bei starkem Regen ganze Hänge den Berg hinabgespült werden, oder Lawinen im Winter? Gibt es da einen Zusammenhang?
    Bätzing: Die Zusammenhänge sind meines Erachtens sehr deutlich. Allerdings ist die Natur im Alpenraum dermaßen komplex und da spielen so viele Faktoren eine Rolle, dass eine eineindeutige Ursachenerklärung, wie es Naturwissenschaftler gerne hätten, so einfach nicht möglich ist. Man kann aber ganz einfach sagen: Wenn nicht mehr auf eine nachhaltige Weise gewirtschaftet wird, wenn also das Wirtschaften nicht bloß das Ziel verfolgt, Produkte herzustellen und zugleich die Landschaft zu stabilisieren, dann gibt es Umweltprobleme, sei es durch Übernutzung, aber auch bei Unternutzung. Das heißt, wenn der Mensch sich wieder zurückzieht, wenn die Landschaft verbuscht und verwaldet, kriegen wir ökologisch instabile Zwischenphasen. Und in dieser Zeit nimmt die Gefahr von Lawinen, von Muren, von Hochwassern zu.
    Kretschmer: Jetzt waren wir am Anfang bei dem Bild von den G7-Staatschefs in Elmau vor dem Hotel, was man ja auch als Sinnbild lesen kann vom Neoliberalismus, der in den Alpen angekommen ist. Und es ging ja schon einige Jahre oder sogar Jahrzehnte früher los. Wann würden Sie das konkret festmachen?
    Bätzing: Neoliberalismus heißt, dass der Staat sich stark zurückzieht aus früheren staatlichen Aufgaben. Und dass er das alles dem Markt überlässt. Eine wichtige frühere Staatsaufgabe war im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft, dass alle Regionen eines Staates gleichberechtigt sein sollen. In Deutschland war das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse in allen Teilgebieten der Bundesrepublik Deutschland. Gleiches galt für die Schweiz, für Österreich, für Italien und Frankreich. Und das heißt, alle Staaten haben die Strategie verfolgt, die Alpengebiete sollen Anteil an der modernen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung haben. Dann kommt die große Epochenzäsur von 1989 mit dem Verschwinden des Kommunismus, mit der deutschen Einigung. Und dann beginnt langsam ein neoliberales Denken sich durchzusetzen. Das heißt, man meint, es wäre effektiver, wenn der Staat eine Reihe von früheren Staatstätigkeiten einstellen würde und sich daraus zurückziehen würde. Das betrifft vor allen Dingen periphere Räume, dünn besiedelte Räume. Das wird in Deutschland vor allen Dingen diskutiert an Nordbrandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, wo dann die eine Parole heißt, dieses Gebiet soll wieder den Wölfen dienen, da können die Menschen sich zurückziehen.
    Im Alpenraum gibt es diese Diskussion genauso zugespitzt, am schärfsten in der Schweiz, wo die Position von wirtschaftsliberalen Kräften vertreten wird, der Staat solle die teuren Berggebietsförderungen einstellen, die Bergbauern kosten zu viel Geld, Straßenbau, Lawinenschutz im Alpenraum ist viel zu teuer, das Geld kann man viel besser verwenden, wenn man es vom Berggebiet abzieht und dafür die Metropolen Zürich, Basel und Genf für den globalen Wettbewerb konkurrenzfähig macht, damit sie gegenüber Hongkong oder New York besser dastehen können. Diese Diskussionen gab es ansatzweise sogar in Bayern, das war ein Vorstoß von Seehofer mit seinem Zukunftsrat Bayern, die gefordert haben, alle Förderungen des Staates sollen sich nur noch auf die acht größten bayrischen Städte konzentrieren und den Rest bräuchte man eigentlich nicht unbedingt. Was in Bayern dann einen sehr großen Aufschrei gab, und seitdem ist das Thema wieder vom Tisch. Aber es wurde diskutiert und dieses Thema, dass der Staat seine Förderungen aus den Alpen zurückziehen sollte, ist im Prinzip seit gut zehn Jahren ein Thema im Alpenraum. Und es ist die Frage, wie das in Zukunft sich entwickeln wird. Und hier haben wir seit etwa zehn Jahren einen heftigen Streit, während früher eigentlich alle politischen Parteien und alle gesellschaftlichen Kräfte das gleiche Ziel hatten, nämlich die Alpen sollen Anteil an der modernen Entwicklung haben, gibt es jetzt einen sehr starken Streit.
    "Die Erde ist ein sehr empfindlicher Ökomechanismus, die Alpen zeigen das sehr eindrücklich"
    Kretschmer: Jetzt müssten Sie vielleicht noch Ihre Position in diesem Streit ein wenig näher erläutern. Was setzen Sie den Menschen entgegen, die sagen, die 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Alpen, die sind in diesem großen Europa doch fast vernachlässigbar?
    Bätzing: Für mich sind die Probleme, die im Alpenraum jetzt offensichtlich werden, gar keine Probleme der Alpen, keine Probleme der Umwelt der Alpen, der Geschichte der Alpen, der Kultur der Alpen. Es sind meines Erachtens Probleme mit dem europäischen Wirtschafts- und Lebensmodell, die hier deutlich werden. Es ist das Problem, das der Alpenraum sehr deutlich zeigt: Wenn man mit Natur als Material umgeht, dann gibt es Umweltzerstörung. Der Mensch hat Natur nicht im Griff. Das glaubt man gerne in Berlin oder in München oder in New York, aber es ist nicht so. Die Erde ist ein sehr empfindlicher Ökomechanismus, die Alpen zeigen das sehr eindrücklich. Die Metropolen versuchen, das zu verdrängen. Man glaubt heute, ein uneingeschränktes Wirtschaften, das wäre die Zukunftsperspektive, die Wirtschaft werde ständig wachsen, sie könne ständig wachsen. Im Alpenraum wird ganz klar, wenn man sich ein normales Alpental anguckt, was begrenzt ist, wo die nutzbaren Flächen klein sind, da ist vollkommen klar, in einem so stark begrenzten Raum kann es gar kein unbegrenztes Wirtschaftswachstum geben. Das ist eine Illusion, ein Gedanke, der praktisch in den Metropolen entstehen kann, wo man extrem naturfern geworden ist, aber die Alpen zeigen sehr konkret, sehr sinnlich, anschaulich, dass das so nicht ist. Hier ist unser europäisches Wirtschaftsmodell dabei, sich selbst zu zerstören. Das wird in den Metropolen noch nicht so auffällig, aber im Alpenraum als auch an der Peripherie wird das viel besser sinnlich deutlich, und vor allen Dingen: Man kann es richtig wahrnehmen.
    Kretschmer: Wo zeigt sich da in den Alpen als Frühwarnsystem, dass aus Ihrer Sicht dieses Wirtschaftssystem an ein Ende kommt oder an Grenzen stößt?
    Bätzing: Das moderne Wirtschaften dringt im Alpenraum nur an diesen Stellen ein, wo man mit dem Lkw günstig hinkommt. Das heißt, entlang der Autobahnen. Die Autobahnen sind sehr stark steigungsempfindlich, das heißt, die Autobahnen haben wir in den tiefen, flachen Tallagen; an dem Punkt, wo das Tal dann anfängt, steil zu werden, verschwindet die Autobahn im Tunnel. Und die Gewerbegebiete, die man heute an jeder Autobahnausfahrt sieht, die immer größer werden, die Gewerbegebiete sind nur auf dem flachen Talboden zu finden. Da, wo auf einmal das Tal anfängt steil zu werden, wo man mit dem Lkw Serpentinen fahren müsste, wird es sehr teuer, solche Straßen zu bauen. Und da lohnt es sich einfach überhaupt nicht, solche Gewerbegebiete dann abseits der Autobahn zu errichten. Und das heißt, das moderne Wirtschaftswachstum konzentriert sich auf lange, schmale Bänder im Alpenraum und jenseits davon ist es nicht zu finden. Solche Bänder wären zum Beispiel das Unterinntal zwischen Kufstein und Innsbruck. Jeder, der die Alpen besucht und auf der Autobahn durchfährt, wird sehen, wie stark zersiedelt dieses Tal ist, wie stark verstädtert dieses Tal ist, dass man da von den Alpen eigentlich nichts mehr findet. Die großen Firmen, die in den Industriegebieten, in den Gewerbegebieten links und rechts der Autobahn sind, das sind globale Firmen, die sind mit München mit Mailand enger vernetzt als mit dem benachbarten Alpenraum, sie haben den Standort gewählt im Unterinntal, in den Alpen, weil die Alpen halt so praktisch genau mitten zwischen München und Mailand liegen, mitten im Herzen Europas. Aber diese Betriebe haben mit den Alpen eigentlich überhaupt nichts zu tun. Sie liegen im Alpenraum wegen der zentralen Lage der Alpen in Europa, fertig! Und da kann man sehen: Dieses moderne Wirtschaftswachstum bildet nur ganz enge, lange Bänder aus und ist sonst nirgendwo zu finden.
    Kretschmer: Was wir noch nicht besprochen haben: Wie verändert der Tourismus die Gesellschaft, die Menschen in den Alpen? Was passiert da?
    Bätzing: Man muss sagen, dass der Tourismus seit etwa 30 Jahren im Alpenraum stagniert, er wächst nicht mehr, quantitativ. Genauer gesagt, er stagniert auf einem sehr hohen Niveau. Aber dadurch, dass er nicht weiter quantitativ wächst, verschärft sich der Konkurrenzkampf untereinander. Das führt dazu, dass die Tourismuszentren immer größer werden, jedes Tourismuszentrum baut seine touristischen Infrastrukturen aus, um im Konkurrenzkampf wettbewerbsfähiger zu sein, was dazu führt, dass immer größere Kapazitäten entstehen, dass der Wettbewerb immer gnadenloser wird und dass viele kleine und bereits mittlere Tourismusorte da nicht mehr mithalten können. Der Tourismus konzentriert sich heute in sehr starkem Maße auf bloß 300 Tourismuszentren, das sind etwa fünf Prozent aller Alpengemeinden, nicht mehr, nur fünf Prozent. Der Tourismus ist in diesen großen Zentren oftmals als eine Art Tourismusgetto organisiert, das heißt, man befindet sich in künstlichen Urlaubs- und Freizeitwelten, die sich sehr stark vom normalen Leben im Alpenraum abgekoppelt haben. Und wenn der Gast dann noch regionale Kultur erlebt, ist es oftmals eine inszenierte Kultur, die dem Gast vorgespielt wird, also keine echte Natur. Darin sehe ich ein sehr großes Problem, der Tourismus ist ein Fremdkörper im Alpenraum. Er wird immer stärker technisch dominiert, ohne die entsprechenden Skilifte, ohne die entsprechenden technischen Anlagen kein Tourismus mehr. Und langfristig, kann man sagen, ist ein solcher Tourismus, der technisch ausgerichtet ist, eigentlich in Indoor-Strukturen besser aufgehoben. Sie sehen es am Beispiel Skihallen, wo man schon im Flachland Ski fahren kann, und es gibt inzwischen sogar schon in der Nähe des Alpenraums die ersten Skihallen. Oder denken Sie an die Kletterhallen, einfach, in einer Kletterhalle kann man dann klettern, wenn man es möchte, auch nachts. Während, im Alpenraum ist es nachts dunkel, kann man nicht klettern. Oder es regnet. Oder es ist zu starker Wind. Das heißt, die Natur ist unberechenbar, die Natur durchkreuzt die Pläne. Und das ist für einen modernen Touristen heute eigentlich nicht mehr akzeptabel. Er hat seinen Urlaub gebucht, seine kostbaren Tage, und dann möchte er auch sein Freizeitprogramm genau abspielen, was er sich vorgenommen hat. Und das geht langfristig eigentlich nur in technisch gebauter Infrastruktur und am besten in geschlossenen Räumen. Nur dann hat man alle Sachen wirklich im Griff. Und deswegen ist meine große Befürchtung: Ein Tourismus, der weiter in diese Richtung geht, der wird sich über kurz oder lang aus den Alpen zurückziehen und wird dann in künstlichen Freizeit- und Erlebniswelten langfristig besser untergebracht sein.
    "Die Alpen waren immer gegenüber Europa geöffnet, sie waren nie ein abgeschotteter Raum"
    Kretschmer: Aber meinen Sie, man kann das Skifahrerlebnis in, sagen wir, Davos oder in den Trois Vallées in der Schweiz in einer Halle nachbauen und nachstellen?
    Bätzing: Aber das gibt es doch schon! Was macht die Skiindustrie, wenn es noch wärmer wird? Die Ideen sind die, dann die Skipisten zu übertunneln, damit man dann in den Tunneln unter entsprechenden niedrigen Temperaturen noch schön abfahren kann. Diese Ideen sind doch alle schon da. Und die werden auch umgesetzt, befürchte ich. Und das ist eine Entwicklung des Tourismus, die für mich total unverträglich mit dem Alpenraum ist. Der Gast, der sich in diesen Tourismuszentren aufhält, der erlebt von den Alpen eigentlich überhaupt nichts, der erlebt nicht, wie die Alpen von Natur aus sind, erlebt nichts von der Geschichte, nichts von der Kultur der Alpen, der ist in einer künstlichen Freizeitwelt. Und eigentlich das, was die Alpen ausmacht, diese faszinierende Hochgebirgslandschaft, davon bekommt ein Tourist in solchen Touristenzentren nichts mit.
    Kretschmer: Ich glaube, wir haben jetzt im Laufe des Gesprächs festgestellt, es gibt viele sozusagen Folien, die sich über das Bild der Alpen legen und gelegt haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten, die man so einzeln abziehen kann, um dann vielleicht näher hinzugucken. Die eine Folie, die Sie gerade beschrieben haben, war diese Folie des Tourismus, die andere Folie ist die der Wirtschaft, nur noch die Bänder in den flachen Tälern, siehe das Inntal, wo dann die Lkws durchbrausen können und eine an die globale Wirtschaft angeschlossene Wirtschaft stattfinden kann. Sie schlagen in der Diskussion einen dritten Weg vor, zwischen diesen beiden Bildern ein neues Bild der Alpen zu entwerfen. Wie würden Sie das kurz skizzieren?
    Bätzing: Das wäre das Bild der Alpen als ein Lebens- und Wirtschaftsraum in Europa, der einerseits von seinen eigenen Potenzialen lebt, aber andererseits auch davon lebt, dass europäische Funktionen im Alpenraum ausgeübt werden. So wichtig die Potenziale im Alpenraum sind, Potenziale für Land- und Forstwirtschaft, für Handwerk, für Alpen-spezifische Dienstleistungen, so muss man andererseits sagen, es leben heute 15 Millionen Menschen im Alpenraum, die können nicht alle von Alpen-spezifischen Potenzialen leben. Und da ist mir der Gedanke unglaublich wichtig, dass man da nicht auf eine falsche Abschottungsidee kommt, die sofort dann sehr leicht heute rechtsradikal oder rechtspopulistisch missverstanden werden könnte. Zurzeit dominieren die europäischen Nutzungen im Alpenraum die Nutzung der Alpen-spezifischen Ressourcen. Zurzeit sind die exogenen Nutzungen, die Nutzungen, die von außen kommen, viel stärker als die Nutzungen im Alpenraum durch die Einheimischen selber. Deswegen ist meine Leitidee eine ausgewogene Struktur zwischen beiden Nutzungsformen, zwischen Alpen-spezifischen Nutzungen und europäischen Nutzungen, um damit von vornherein jeden Gedanken an eine Abschottung der Alpen nach außen in Richtung eines Rechtspopulismus zu vermeiden. Das ist mir sehr wichtig, weil gerade mit dem Alpenraum sich oftmals solche Gedanken verbinden. Und das ist in meinen Augen der falsche Weg, die Alpen waren immer gegenüber Europa geöffnet, sie waren nie ein abgeschotteter Raum, auch wenn es Abschottungselemente gibt. Aber das Dominante ist die Offenheit gegenüber Europa. Und diese Balance zu finden, die Balance zwischen Alpen-spezifischen Nutzungen und europäischen Nutzungen, das ist für mich die Schlüsselfrage.
    Kretschmer: Sie haben den Fachbegriff der exogenen Nutzung gerade verwendet. Können Sie das noch mal ein bisschen plastischer machen, was Sie damit meinen? Also die europäische Nutzung, was holen die Leute da heraus, ohne was zurückzugeben vielleicht?
    Bätzing: Ja. Exogene Nutzungen sind die Wasserkraft, wo die großen Wasserkraftkonzerne ihren Standort außerhalb des Alpenraums haben, die Investitionen kommen von außerhalb in die Alpen, die Gewinne fließen wieder ab. Und auch der Strom, der im Alpenraum produziert wird, geht im Wesentlichen an die außeralpinen Gebiete und bleibt nur zum geringsten Teil im Alpenraum. Eine andere exogene Nutzung ist die Nutzung der Alpen für den Transitverkehr, der heute so schnell geworden ist, dass man die Alpen in wenigen Stunden durchquert. Das heißt, die Alpen haben vom Transitverkehr nichts mehr, es übernachtet keiner mehr im Alpenraum und den Alpen bleiben nur noch die negativen Effekte, das heißt Lärm, Luftverschmutzung und diese ganzen Belastungen. Das sind für mich klassische exogene Nutzungen, Nutzungen, die von außen kommen und wo die positiven Effekte nach außen wieder abfließen und der Alpenraum die negativen Auswirkungen dieser Nutzungen hat.
    Kretschmer: Jetzt habe ich Sie, glaube ich, richtig verstanden, Sie haben auch gesagt, die Alpen könnten eine Vorbildregion sein auch fürs Flachland gewissermaßen. Wieso das?
    Bätzing: Auch im Flachland haben wir die Entwicklung, dass die moderne Wirtschaft sich immer stärker auf die großen Metropolen konzentriert und dass die Peripherien abgehängt werden. Nur, das merkt in Deutschland, das merkt im Flachland meistens kein Mensch so richtig. Wenn ich daran denke, an das Sauerland, an die Eifel, an Teile des Schwarzwaldes, hier in der Nähe von Bamberg, an die Fränkische Schweiz oder an große Teile von Oberfranken, es gibt ganz viele Gebiete in Deutschland, die von der modernen Entwicklung allmählich abgehängt werden. Weil diese Gebiete aber kein so starkes Image wie die Alpen haben, wird das normalerweise gar nicht so wahrgenommen. Und deswegen ist meine Hoffnung, diesen Prozess, der in ganz Europa abläuft, am Beispiel der Alpen exemplarisch zu thematisieren. Da wird er am ehesten öffentlich wahrgenommen, da wird am ehesten darüber dann öffentlich breit diskutiert. Aber das Ziel wäre es, wenn man über den Alpenraum darüber dann sensibilisiert worden ist, dann natürlich genauso auch über die Peripherien in Deutschland und in Europa zu diskutieren, und diese Gebiete müssen weiter ebenfalls Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben. Eine Entwicklung, bei der nur die Metropolen als Lebens- und Wirtschaftsraum übrig bleiben würden, also Flächen, kleine Metropolen wie München, Berlin oder das Ruhrgebiet, diese Entwicklung führt meines Erachtens zur Selbstzerstörung. Die Metropolen brauchen große, lebendige ländliche Räume zwischen ihnen, damit sie als Metropolen überhaupt weiter existieren können. Und ohne den permanenten Austausch mit diesen ländlichen Räumen verlieren auch die Metropolen ihre Lebendigkeit und ihre Lebensfähigkeit. Und deswegen sage ich: Eine Entwicklung, die nur auf die Metropolen setzt, die führt zur Selbstzerstörung der Wirtschaft.
    Kretschmer: Wir haben das Gespräch begonnen mit dem Bild der G7-Staatschefs vor dem Hotel in Elmau und dem Wettersteingebirge dahinter, das, glaube ich, doch sehr präsent war in diesem Sommer. Welches Idealbild der Alpen würden Sie dem entgegensetzen? Kann man das skizzieren?
    Bätzing: Ja, ich würde dagegensetzen die Alpen als Kulturlandschaft, als eine kleinräumige Mischung von Wiesen und Weiden und Waldflächen, darüber Felsen und Gletscher, eine Mischung, die deutlich macht, man hat einerseits die große, dominante, auch gefährliche und bedrohliche Natur, aber dann gibt es auch Teile der Natur, die der Mensch nutzen kann, in der er leben kann, in der er auch sicher leben kann. Und wo die Nutzung zu hochwertigen Produkten führt, weil halt im Hochgebirge der Einsatz der ganzen Agrarchemie wenig sinnvoll ist und deswegen oftmals auch nicht so stattfindet. Das heißt, dieses Bild, dass wir dann Kühe weiden haben, ist verbunden mit der Qualität, mit der hohen Qualität von Milch, Käse und Fleisch. Und diese Mischung von gefährlicher Natur und Natur, die für den Menschen nutzbar ist, das wäre für mich das Symbol der Alpen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Der Kulturgeograf Werner Bätzing beschäftigt sich seit 1977 als Wanderer und Wissenschaftler mit den Alpen. Thomas Kretschmer spricht mit ihm über die Zukunft der Bergwelt in Zeiten der Märkte und unzeitgemäße Vorschläge jenseits von Wildnis und Freizeitpark.