Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Studentenprotest gegen Hochschulreform
Ein Hauch von 1968 weht durch Frankreich

Plätze an französischen Elitehochschulen sind hart umkämpft - für den Zugang zu anderen Universitäten gab es bisher keine Einschränkungen. Ein neues Gesetz soll dies ändern: Zukünftig müssen sich Studierende an ihrer Wunsch-Uni bewerben. Dagegen regt sich Protest - etwa in Paris, wo Besetzerkomitees Hörsäale blockieren.

Von Jürgen König | 10.04.2018
    Studenten protestieren mit Schildern in Frankreich
    Studentenprotest in Paris gegen eine Hochschulreform, den Vidal-ORE Act (dpa / Picture alliance / Julien Mattia )
    "Heute Morgen sind 14 Fakultäten in ganz Frankreich blockiert", sagt ein Pariser Student unter dem Jubel der Kommilitonen - die Zahl der besetzten Hochschulen ändert sich täglich, die Forderungen aber bleiben gleich: Das Gesetz, das den freien Zugang zur Universität durch ein Auswahlverfahren einschränkt, soll wieder zurückgezogen werden.
    Es ist kein flächendeckender Protest an allen Universitäten, die meisten Studierenden bereiten sich auf ihre Semesterabschlussklausuren vor. Nur einzelne Universitäten wurden blockiert, mancherorts haben sich Besetzerkomitees gebildet – etwa in Paris. "Keine Interviews!" lautet ihre Devise: Aus Misstrauen gegen Medien" wollen die Studierenden die mediale Kontrolle über ihren Protest behalten.
    Studenten fordern Zurücknahme des Gesetzes
    In einem anonymisierten Aufruf, über die Sozialen Netzwerke verschickt und auf Youtube abrufbar, heißt es:
    "Gestern hat unsere Vollversammlung die Besetzung der Universität Paris/Tolbiac auf unbegrenzte Zeit beschlossen. Wir fordern den Rücktritt Emmanuel Macrons und die Zurücknahme des Gesetzes über die Hochschulzulassung.
    Wir haben uns maskiert, weil wir keine offiziellen Sprecher sein wollen, nicht das Individuelle zählt, sondern das Gemeinschaftliche. Wir laden die Studenten und die ganze Bevölkerung Frankreichs ein, die Universitäten zu besetzen, bei sich in der Nähe oder anderswo – um gemeinsam zu leben, zu kämpfen und ein kritisches Wissen zu bekommen, das normalerweise Studenten vorbehalten ist."

    Ein Hauch von "1968" weht durchs Land, angefacht auch durch die Demonstrationen und Streiks der Eisenbahner, die derzeit praktisch jeder Form öffentlichen Protestes große Aufmerksamkeit garantieren.
    Jeder Abiturient kann zehn Studienwünsche nennen
    Mit dem neuen Hochschulgesetz soll der Zugang zur Universität zum ersten Mal Bedingungen unterworfen werden. Es gibt in Frankreich zwar einen harten Wettbewerb um die Plätze der Elitehochschulen, aber keinen Numerus clausus für den Zugang zu den anderen Universitäten. Bei Fächern wie Jura oder Psychologie ist der Andrang gerade bei beliebten Universitäten groß, im Zweifelsfall entschied bisher das Los darüber, wer wo studiert.
    Wer eine Elitehochschule besucht, kann sich seine Stelle am Ende oft genug aussuchen; Absolventen anderer Universitäten haben dagegen vielerorts große Mühe, eine Arbeit zu finden. Hinzu kommt das Problem einer hohen Zahl von Studienabbrechern. Nach dem neuen Gesetz kann fortan jeder Abiturient zehn Studienwünsche äußern, alle müssen jeweils schriftlich begründet werden. Ein Lebenslauf gehört dazu sowie eine Seite mit den Zensuren der letzten beiden Jahre auf dem Gymnasium.
    Parlament hat dem Gesetz schon zugestimmt
    Auf dieser Grundlage werden die Universitäten sich fortan ihre Studierenden aussuchen – oder sie eben auch ablehnen. Die Regierung verweist darauf, dass die Universitätspräsidenten die Reform unterstützen würden, auch Berufsverbände und Gewerkschaften hätten dem Gesetz zugestimmt – doch Kritik gibt es trotzdem und nicht nur bei den Studierenden.
    Julie Pagis, Dozentin an der Pariser Hochschule für Sozialwissenschaften: "Ich bin überhaupt nicht dafür! Es gibt sie ja längst in Frankreich, die große Selektion, und sie ist überall sehr präsent!! In den Vorbereitungsklassen, in den ganzen Eliteuniversitäten geht es schon sehr selektiv zu! Und ich halte es eben für extrem wichtig, dass die Universität ein Ort bleibt, der offen für alle ist! Wer nicht schon aus akademischen Kreisen an die Uni kommt, weiß oft nicht sofort genau, was er studieren soll, relativ viele entscheiden sich nach einem Jahr noch mal um - so etwas wird durch die neuen Regeln unmöglich gemacht! In unserer Kultur war eine offene Universität für alle immer sehr wichtig, das ist eine… ja, eine essenzielle Grundlage unserer Geschichte. Das jetzt so in Frage gestellt zu sehen, ist traurig."
    Viel nützen dürften die Proteste nicht: Das Parlament hat dem Gesetz schon zugestimmt, ab 2021 werden die neuen Regeln angewandt.