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Studie über Kinderarmut
Einmal arm, lange arm

Gut 20 Prozent aller Kinder in Deutschland leben laut einer Studie länger als fünf Jahre in armen Verhältnissen. Für weitere 10 Prozent sei Armut zumindest ein zwischenzeitliches Phänomen, heißt es in einer Untersuchung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Fazit: Wer einmal arm sei, bleibe es in den meisten Fällen für lange Zeit.

23.10.2017
    Kinder stehen in einem Kindergarten in Hamburg.
    Kinder stehen in einem Kindergarten in Hamburg (dpa-Bildfunk / Christian Charisius)
    "Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand. Zu wenige Familien können sich aus Armut befreien", sagt der Stiftungsvorstand Jörg Dräger. Dass viele Kinder in Deutschland in Armut leben, ist schon mehrfach erkannt und analysiert worden. Die Bertelsmann-Studie nimmt die einzelnen sozialen Schichten und Milieus in den Blick und hat untersucht, ob es gelingen kann, sich aus armen Verhältnissen zu befreien. Dafür haben die Forscher Daten aus den Jahren 2011 bis 2015 ausgewertet und kommen zu dem Schluss, dass die sozialien Milieus sich als weitgehend undurchlässig erweisen.
    Kein Kino, keine teuren Hobbys, zu wenig Wohnraum
    Was aber bedeutet Armut für die Kinder konkret? Die sogenannte Grundversorgung ist in Deutschland in der Regel gewährleistet - aber die Betroffenen sind vom gesellschaftlichen Leben weitgehend abgekoppelt. Die Wissenschaftler haben 23 Güter und Aspekte abgefragt, die aus finanziellen Gründen in den Familien fehlen. Demnach bedeutet Armut für die Kinder in den betroffenen Familien vor allem Verzicht: Auf den Kinobesuch, auf finanziell aufwendige Hobbys wie beispielsweise Musikunterricht, auf einen Computer mit Internetzugang, was vor allem für ältere Kinder und Jugendliche häufig einen Nachteil beim Erledigen von Hausaufgaben mit sich bringe. Viele Kinder schämen sich auch, Freunde einzuladen und leben mit ihren Familien oft in kleinen Wohnungen.
    Die Bertelsmann-Stiftung steht wegen ihrer Neigung zu wirtschaftsliberalen Positionen in der Kritik. Die lobbykritische Organisation "Lobbycontrol" nennt die Stiftung eine der "einflussreichsten neoliberalen Denkfabriken im Land", die "wirkmächtig die Privatisierung von staatlichen Bereichen propagiert". Die Stiftung übt laut ihrer Kritiker eine Gestaltungsmacht auf die Politik aus, die sich auch in der Formulierung der Agenda 2010 niedergeschlagen haben soll. Sie beriet den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder wie auch dessen Nachfolgerin Angela Merkel. Die Stiftung selbst sagt, dass sie nur "Empfehlungen" an die Politik gebe.
    Bertelsmann-Stiftung sieht Politik gefordert
    "Die zukünftige Sozialpolitik muss die Vererbung von Armut durchbrechen. Kinder können sich nicht selbst aus der Armut befreien - sie haben deshalb ein Anrecht auf Existenzsicherung, die ihnen faire Chancen und gutes Aufwachsen ermöglicht", fordert Dräger. Politik solle Kinder nicht wie kleine Erwachsene behandeln, sondern die bisherigen familienpolitischen Leistungen neu bündeln und unbürokratisch helfen.
    Besonders betroffen: Alleinerziehende
    Einem Medienbericht zufolge hat sich vor allem das Armutsrisiko von Alleinerziehenden in den vergangenen Jahren erhöht. Zwischen 2005 und 2016 sei in dieser Gruppe der Anteil von etwa 39 auf rund 44 Prozent gestiegen, meldet die Saarbrücker Zeitung und beruft sich auf Daten der Bundesregierung. 606.000 Alleinerziehenden-Haushalte hätten Hartz IV bezogen - knapp 42.000 mehr als elf Jahre zuvor.
    Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach von "armutspolitischem Scheitern" und forderte von der künftigen Regierung ein umfassendes Maßnahmenpaket. Als arm gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Nach der EU-Definition lag die Armutsgefährdungsschwelle im Jahr 2016 für einen Single-Haushalt in Deutschland bei 969 Euro im Monat.
    (tep/nch)