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Süße Nostalgie

Wer heutige Märchen daran mißt, ob ihre Handlung möglichst zeitgemäß ist, wird das Vogelkopp-Buch von Albert Wendt und Ernst Oppliger hoffnungslos altmodisch finden. Nirgends auch nur eine Andeutung des zeitgenössischen technischen Kinderalltags, nicht einmal ein Fernseher lärmt in der Ecke, geschweige denn ein Computer. Kommuniziert wird hier noch "face to face" statt mit "interface"; auf den Straßen sieht man statt Skatern ausschließlich Fußgänger. Die Häuser sind niedrig, die Werbung noch nicht erfunden.

Von Carsten Probst | 12.06.2004
    Es gibt eine schöne Königin, die noch wirklich regiert und sich Gesten der Ergebenheit ausbedingt, die heute allenfalls noch als Staffage für den Herrn der Ringe durchgehen würden, und Verbrechen werden noch durch das Beil auf dem Schafott gesühnt. Aber keiner verkörpert die naive Ursprünglichkeit dieses vorelektronischen Zeitalters so sehr wie die Hauptfigur dieses Bandes, der Waldarbeiter Vogelkopp, ein verträumter Hüne mit kindlichem Gemüt, der in einem Baumhaus lebt und von kadavergehorsamen Beamten der Königin verfolgt wird, weil er sich weigert, vor ihnen den Hut zu ziehen. Dies freilich tut er, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte, keineswegs aus böser Absicht, sondern weil er im Winter eine Vogelmutter mit ihren Küken unter seiner Mütze beherbergt. Daher auch sein Name.

    Doch niemand glaubt ihm, dem armen, harmlosen Vogelkopp, der nun vertrieben wird aus dieser schrecklichen Welt der Kriecher und Schleimer. Er verliert seinen Job und seine Ehe, und er verlöre vielleicht noch mehr, wenn, ja wenn nicht zufällig die schöne Königin ein Faible für solch "komische Käuze" wie ihn hätte und nach ihm suchen ließe, um ihn auf ihr alljährliches "Fest der Käuze" einzuladen. Prompt verlieben sich die beiden auf dem Fest ineinander, aber als sich Vogelkopp schließlich selbst vor der Königin weigert, seinen Hut zu ziehen, versteht auch die edle Dame keinen Spaß mehr.

    Auf das Nicht-den-Hut-Ziehen-Wollen steht nun einmal leider, als wäre an der Königin ein kleiner weiblicher Kaiser Caligula verlorengegangen, sofort die Todesstrafe. Das Leben, es nimmt eben rasche Wendungen in diesem Märchenstaat. Nur so ist es auch erklärlich, daß am nächsten Morgen bereits wieder alles anders ist. Die Königin betritt das Schaffott, auf dem vor einer riesigen Menschenmenge der Henker schon das Beil gegen Vogelkopp hebt, und erklärt die ganze Aktion Knall auf Fall für beendet, ja, sie bietet sich Vogelkopp sogar an, sie zu heiraten, wozu dieser, verständlicherweise in seiner Situation, nicht nein sagen kann. Seine Überraschung freilich hält sich in Grenzen.

    Das Vertrauen des Erzählers Albert Wendt in das Märchengenre, in eben offenbar alles und ohne viel Erklärung möglich sein muß, schlägt hier doch ein wenig über die Stränge. Erst am Ende erfährt man, daß es eigentlich die Vogelmama, die mit ihren Küken unter Vogelkopps Mütze lebt, gewesen sei, die die diese überraschende Wende herbeigeführt habe. Denn sie habe auf dem Fest der Käuze ihren verschwunden geglaubten Vogel-Gatten wiedergefunden, der sich inzwischen auf der Haarpracht der Königin eingenistet hatte, und dieser gute Vogelmann so es gewesen sein, der der Königin über Nacht eingegeben hat, den armen Vogelkopp am Leben zu lassen und viel lieber dafür zu sorgen, daß die kleine Vogelfamilie auf ihrer beider Köpfe wieder zusammenkommt.

    Albert Wendt erzählt diese fantastische Story zwar insgesamt durchaus gefällig und als rührendes Plädoyer für die Liebe zur Natur und wider den Ernst, den die Normen der Gesellschaft für sich beanspruchen. Doch ohne die grandiosen Illustrationen von Ernst Oppliger stünde diese Geschichte am Ende doch ein wenig zu lieb und verträumt da.
    Es sind Oppligers Scherenschnitte , die aus diesem vermeintlich nostalgischen Märchenbuch ein kleines Kunstwerk mit manchmal geradezu surrealistischer Anmutung machen, das dabei aber durchaus hintersinnig die Ästhetik von Kinderfibeln des 19. Jahrhunderts ebenso zitiert wie die traumartige Schwarz-Weiß-Malerei der Symbolisten um William Blake. Dahinter steht mehr als nur ein Appell an die unverbrauchte Kinderfantasie, die auf Gameboys und Fernseher verzichten können soll.

    Oppligers Scherenschnitte sind Meisterwerke, die auch Erwachsenen das Sehen und Staunen mit innerem Auge wieder beibringen können. Immer wieder schaut man fasziniert der eigenen Fantasie bei der Arbeit zu, die sich ständig aufs Neue angeregt fühlt durch die Betrachtung der geheimnisvoll anmutenden Schwarz-Weiß-Bilder, selbst wenn man sie schon mehrfach betrachtet hat. Jedes Mal verführen sie dazu, sich in sie zu versenken oder nur über sie zu staunen. Scherenschnitte in klassischer Form leiten die einzelnen Kapitel ein, die wie auf einer Gegenlichtbühne eine Szene aufführen. Schon diese kleinen Abbildungen, in denen Charaktere allein durch Körperformen, Gesten und Bewegungen erschaffen werden, weisen Ernst Oppliger als einen Meister seines Fachs aus.

    Doch wirklich prachtvoll und überwältigend sind die großformatigen, panoramenhaften Schnitte, bei denen Oppliger seine Figuren ganz dreidimensional in detaillierten Gesamtansichten, also nicht nur als Schattenrisse präsentiert. Die vielköpfigen Szenen wie das Fest der Käuze oder die alte Frau mit den vielen Gesichtern, aber auch die filigranen Strukturen des Waldes oder der Ornamente an den Gewändern der Königin sind Wunderwerke, die dem Buch durch ihren Schwung und Einfallsreichtum nicht nur jede Biederkeit nehmen. Sie verleihen ihm auch jenes Geheimnis, jene traumartige Atmosphäre, die am Ende das überzeugendste Plädoyer für eine lebendige Fantasie darstellt.

    Albert Wendt / Ernst Oppliger
    Der Vogelkopp
    Rosemarie Oppliger Verlag