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Sure 22 Verse 39-40
Zur Legitimation von Gewalt

Grundsätzlich lehnt der Islam Gewalt nicht ab. Das ist unter islamischen Theologen und Islamwissenschaftlern weitgehend unbestritten. Manche halten die Gewaltverse im Koran sogar für einen Freibrief. Der amerikanische Koranexperte Mustansir Mir von der Youngstown State Universtiy im Bundesstaat Ohio erklärt im DLF einen der Verse, wonach Muslime zu den Waffen greifen dürfen.

Von Prof. Dr. Mustansir Mir, Youngstown State University, Ohio, USA | 21.08.2015
    "Die Erlaubnis sich zu verteidigen ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah. Siehe, Gott hat die Macht, ihnen beizustehen. Jenen, die ohne Recht aus ihrer Wohnstatt vertrieben wurden, nur weil sie sprachen: "Unser Herr ist der eine Gott." Und hätte Gott nicht die Menschen, die einen durch die anderen zurückgehalten, zerstört worden wären Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird. Gott wird fürwahr dem helfen, der ihm hilft."
    Dieser Auszug stammt aus einer medinensischen Sure. Der Koran gestattet hier der frühen muslimischen Gemeinde unter dem Propheten Mohammed, zu den Waffen zu greifen, um Angriffe abzuwehren.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Während der mekkanischen Phase seiner Prophetenschaft vom Jahr 610 bis 622 hatten die Muslime unter der Verfolgung durch die Quraisch, des herrschenden Stamms in Mekka zu leiden. In dieser Zeit waren die Muslime noch nicht in der Position, Gewalt anzuwenden, um diese Verfolgung zu stoppen. Erst nach der Errichtung eines unabhängigen muslimischen Stadtstaats in Medina 622, erhielten sie von Gott die Erlaubnis, sich mit Waffengewalt zu wehren.
    Das bedeutet nun erstens, die Berechtigung zum Kampf im Islam wurde grundsätzlich dazu erteilt, sich gegen Aggressionen zu wehren. Zweitens, Muslime dürfen nur dann zurückzuschlagen, wenn sie als organisiertes politisches Gemeinwesen zusammenleben beziehungsweise als muslimischer Staat.
    Prof. Dr. Mustansir Mir.
    Mustansir Mir, amerikanischer Koranwissenschaftler mit pakistanischen Wurzeln. (priv.)
    Im Umkehrschluss haben einzelne Muslime oder isolierte Gruppen somit nicht das Recht, von selbst zu den Waffen zu greifen, um Aggressionen zu begegnen. Denn ein solches nicht autorisiertes Vorgehen könnte zu Anarchie und Instabilität führen.
    Die Begründung für die in Vers 40 verkündete Erlaubnis trägt einen deutlichen religiösen Charakter: nämlich den Schutz von "Klöstern, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird". Mit diesen Worten bestätigt der Koran, dass die Moschee nicht der einzige Platz ist, der im Namen des einen Gottes gewählt wird.
    So lautet eine Schlussfolgerung aus Vers 40, dass allen religiösen Gemeinschaften die Unversehrtheit ihrer Gotteshäuser zusteht und nicht nur der Schutz islamischer Heiliger Stätten in die Verantwortung eines islamischen Staatswesens fällt. Das hier zugrundeliegende Prinzip kann als religiöse Toleranz oder - noch allgemeiner gefasst - als Religionsfreiheit betrachtet werden.
    Dies wird bestätigt, wenn man die Aussage im Lichte einer Reihe anderer koranischer Verkündigungen betrachtet - zum Beispiel Sure 2 Vers 256, in der Zwang in religiösen Fragen abgelehnt wird. Eine islamische Gesellschaft ist folglich dazu verpflichtet, Religionsfreiheit sicherzustellen - und zwar für Muslime wie für Nicht-Muslime.
    Der zitierte Koranabschnitt zeigt ferner, wie ein bestimmtes historisches Ereignis genommen wird, um eine allgemein gültige Regel abzuleiten. Das ist vergleichbar mit Sure 2 Vers 251. Dort wird von der Niederwerfung der Philister durch die Israeliten und der Tötung Goliaths durch David berichtet. Sodann heißt es, die Erlaubnis zum Bekämpfen der Aggressionen diene dazu, der Verderbnis auf Erden vorzubeugen. Da Gott gerecht ist, würde er es nicht erlauben, dass Unrecht und Ungerechtigkeit ungehemmt die Oberhand gewinnen können.
    Allerdings haben die Menschen die Aufgabe, als Gottes Erfüllungsgehilfen der Etablierung von Gerechtigkeit und Gleichheit auf Erden zu dienen. Bemerkenswert ist, dass der Kampf gegen Unrecht und Ungleichheit hier als Hilfe für Gott beschrieben wird, sprich als ein göttlich sanktionierter Akt. In diesem Sinn unterstützen Menschen, die sich gegen Ungerechtigkeit erheben, die Sache Gottes.
    Die Audioversion musste aus Sendezeitgründen gekürzt werden.