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Syrien
"Größte Herausforderung, die Waffen zum Schweigen zu bringen"

Die Journalistin und Syrien-Expertin Kristin Helberg zeigte sich skeptisch, dass es in Syrien freie Wahlen geben werde. Für die ab Ende Januar geplanten Friedensverhandlungen in Genf stehe der Fahrplan fest: Darin fordere die Opposition die territoriale Integrität Syriens, einen religiösen Pluralismus, demokratische Wahlen und eine Übergangsregierung ohne Assad, sagte sie im DLF.

Kristin Helberg im Gespräch mit Martin Zagatta | 30.12.2015
    Zerstörungen in der syrischen Stadt Homs nach einem Bombenanschlag am 28.12.2015.
    Zerstörungen in der syrischen Stadt Homs nach einem Bombenanschlag. (afp / Str)
    Martin Zagatta: Und wir sind jetzt verbunden mit der Journalistin Kristin Helberg, die lange Jahre in Syrien gelebt hat und dorthin auch immer noch allerbeste Verbindungen hat. Frau Helberg, für wie berechtigt halten Sie denn diese Vorwürfe, also was zivile Opfer angeht? Unterscheiden sich denn da die russischen Angriffe, die russischen Luftangriffe so sehr von den amerikanischen?
    Kristin Helberg: Nun, wir haben seit Beginn der russischen Intervention Ende September immer wieder Berichte und Augenzeugenberichte gehört von vor Ort über diese russischen Angriffe. Insofern war es eigentlich überfällig, dass auch die großen politischen Mächte diese Vorwürfe mal aufgreifen. Wir haben inzwischen ja Berichte von Human Rights Watch, wir haben von Amnesty International Berichte, auch von Ärzte ohne Grenzen. Es gibt ganz konkrete Zahlen, dass zum Beispiel allein im November elf Schulen durch russische Luftangriffe bombardiert wurden, sechs medizinische Einrichtungen und sechs Märkte allein durch die russischen Angriffe, da sind jetzt die Angriffe des Assad-Regimes nicht mitgezählt, das sind Angaben des syrischen Netzwerkes für Menschenrechte, auf deren Daten auch die Vereinten Nationen zugreifen.
    Also, es scheint relativ erwiesen, dass tatsächlich die russischen Angriffe viele Zivilisten töten, übrigens auch viele Zivilisten in die Flucht treiben. Es gibt mehr als 100.000 Syrer, die geflohen sind entlang der Grenze vor allem zur Türkei, was vor allem auch damit zu tun hat, dass Russland eben jetzt diese Gebiete mit bombardiert. Russland dementiert das weiterhin und beharrt darauf, dass es vor allem den IS bekämpft und Terroristen, aber wenn wir allein die Gebiete anschauen, die bombardiert werden, dann sind das eben jene, in denen der IS gar nicht präsent ist. Also, ich halte das für glaubwürdig. Auf der anderen Seite, Sie erwähnten die amerikanischen Angriffe, die US-geführte Allianz bekämpft den IS in Syrien, auch dabei sterben Zivilisten, klarer Fall. Auf das ganze Jahr betrachtet zum Beispiel sind es 271 Zivilisten gewesen, die durch diese Angriffe umkommen. Da gibt es also natürlich auch Opfer. Aber ich denke, sie stehen in keinem Verhältnis. Und bei den russischen Angriffen erscheint es schon vor allem den Leuten vor Ort so, dass zivile Opfer bewusst in Kauf genommen werden oder eben gezielt auch Infrastruktur angegriffen wird. Und das ist genau die Strategie, die das Assad-Regime ja seit Jahren verfolgt, um jede Alternative in den Gebieten, die er nicht kontrolliert, Präsident Assad, zu verunmöglichen.
    "Da spielen dann eben russische Interessen oder Assad-Interessen auch dem IS in die Hände"
    Zagatta: Die russische oder die syrische Luftwaffe - so genau weiß man das hier ja nicht - soll ja jetzt gerade auch einen Rebellenführer getötet haben, der bei den in Genf geplanten Friedensverhandlungen mit dabei sein sollte. Werden diese Verhandlungen schon sabotiert oder nimmt man auf so was einfach überhaupt keine Rücksicht?
    Helberg: Dass die Verhandlungen im Vorfeld sabotiert werden, so nimmt es natürlich jetzt die Opposition wahr. Dieser Anführer, Sahran Allusch, ist ein mächtiger Rebellenführer, der das östliche Umland von Damaskus kontrolliert, er ist ein radikaler Islamist, er saß im Gefängnis, das Assad-Regime hat ihn im Juni 2011 freigelassen mit vielen anderen damals Salafisten und Islamisten. Die Vermutung ist, dass er diese Leute auch ausgesät hat, um den Aufstand damals zu radikalisieren. Das ist gelungen, Allusch und andere haben mächtige islamistische Rebellengruppen begründet, vor allem eben in diesen Vororten von Damaskus. Also, man muss diesen Menschen jetzt nicht unbedingt nachweinen, aber das ist sehr entscheidend, dass genau zwei große islamistische Rebellenverbände, nämlich Jaish al-Islam – also die Armee des Islam, deren Anführer Sahran Allusch war – und Ahrar al-Scham, eine weitere große Rebellenfraktion, dass die beiden Teil der Oppositionsdelegation sind, noch immer, die Ende Januar in Genf verhandeln sollen. Diese Gruppen einzubinden erscheint zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll, weil sie einen Waffenstillstand auch vor Ort garantieren müssen mit der Macht, die sie haben. Das sind aus westlicher Sicht keine Terroristen, weil sie keinen Dschihad führen gegen den Westen, die kämpfen gegen das Assad-Regime. Sie bekämpfen übrigens sehr erfolgreich den IS in Syrien. Insofern freut sich natürlich auch IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi über den Tod von Allusch. Da spielen dann eben russische Interessen oder Assad-Interessen auch dem IS in die Hände bei so einer gezielten Tötung.
    Zagatta: Welche Aussichten geben Sie denn diesen Friedensverhandlungen, die da Ende Januar in Genf geplant sind? Bisher ziert sich ja die Opposition noch mit einer Zusage.
    Helberg: Nein, die Opposition hat eigentlich schon zugesagt, dass sie teilnehmen möchte, man hat sich ja auch in Riad neulich auf sogar einen politischen Fahrplan geeinigt, der zum Beispiel die territoriale Integrität Syriens beschlossen hat, einen religiösen Pluralismus, demokratische Wahlen und eine Übergangsregierung ohne Assad, das ist ein wichtiger Streitpunkt. Aber genau diese Einigkeit in so ganz wichtigen Punkten ist überaus entscheidend für einen Verhandlungsprozess jetzt. Und die Tatsache, dass gerade auch radikale islamistische Rebellen dem zugestimmt haben, hat Hoffnung verbreitet in diesen Oppositionskreisen. Insofern wäre es sehr wichtig, die jetzt mit an Bord zu haben.
    Und wenn jetzt Russland und Assad im Vorfeld eben deren potenzielle Anführung oder eben mögliche Gesprächspartner ausschalten, weil sie sie als Terroristen definieren und deswegen legitim finden, sie umzubringen, dann ist das natürlich schon eine gewisse ... Zumindest torpediert es in gewisser Weise diese Verhandlung im Vorfelde. Das große weitere Problem, was noch nicht gelöst ist, ist die Zukunft von Präsident Assad, und da ist die Opposition sehr einig und sehr klar: Wir verhandeln mit Vertretern dieses Regimes, aber sobald es um eine Übergangsregierung geht, dann kann diese nicht mit Assad erfolgen, denn ansonsten würde auch die Opposition jede Glaubwürdigkeit verspielen im Land bei den Menschen, die jetzt eben seit Jahren auch bombardiert werden durch das Regime.
    "Zum jetzigen Zeitpunkt treffen wir noch keine Entscheidung über die ideologische Ausrichtung eines solchen Staates"
    Zagatta: Frau Helberg, wenn man ganz optimistisch ist und daran glaubt, dass es diesen Kompromiss geben könnte, dass da irgendwann - in 18 Monaten ist es, glaube ich, vorgesehen - dann freie Wahlen als Ergebnis stehen, was würde denn nach Ihrer Ansicht bei freien Wahlen in Syrien herauskommen, wenn man hört, dass die gemäßigte Opposition, alles, was wir als moderate Opposition bezeichnen, schon derart geschwächt sein soll, dass sie an vielen Fronten mit harten Islamisten zusammenarbeiten muss? Würde dann bei freien Wahlen herauskommen ein islamischer Staat? Ein islamistischer Staat vielleicht?
    Helberg: Das denke ich nicht. Also, was wir von diesen islamistischen Brigaden auch hören, ist ja sehr unterschiedlich. Mal sagen sie, ja, wir wollen einen Staat mit der Scharia als Vorbild, wir wollen ... Die sagen auch, die Syrer sollen das alles entscheiden mit demokratischen Wahlen. Ich glaube, zum jetzigen Zeitpunkt treffen wir noch keine Entscheidung über die ideologische Ausrichtung eines solchen Staates. Eben die Tatsache, dass sich die Opposition durchgesetzt hat in Riad, mit dieser Forderung nach religiösem Pluralismus zum Beispiel im Land, das war sehr wichtig. Und wir müssen das im Endeffekt den Syrern überlassen. Wir haben auch in anderen Ländern der Region gesehen, die Muslimbrüder gewinnen vielleicht die erste demokratische Wahl, dann ist es wichtig, wie wird die nächste Wahl gestaltet sein? Werden islamische Parteien das System so weit aushöhlen, dass es gar keine demokratischen Wahlen mehr gibt, oder wird es eine Ablösung geben, wie wir das in Tunesien gesehen haben? Das ist aber Sache der Syrer, darüber können wir nicht bestimmen. Wir müssen den Syrern dabei helfen, diesen Krieg zu beenden, vor allem die Luftangriffe zu beenden, damit sie überhaupt in der Lage sind, sich zu besinnen. Und wenn wir sehen, was es im Land noch gibt an zivilem Widerstand trotz aller Widrigkeiten, dann habe ich schon große Hoffnungen, dass die allermeisten Syrer sich etwas anderes wünschen als Hardcore-Islamisten.
    Das sind ja auch die Syrer, die gerade das Land verlassen, die fliehen vor solchen radikalen Vorstellungen. Also, ich denke, dass die große Mehrheit der Syrer sich etwas anderes wünschen. Und wenn man denen dabei hilft, tatsächlich sich in freien Wahlen zu entscheiden, dann habe ich Hoffnung, dass in Syrien schon etwas anderes dabei herauskommt als ein radikales System, wie es zum Beispiel der IS propagiert.
    Zagatta: Also, Sie sind einigermaßen optimistisch?
    Helberg: Ich bin optimistisch, wenn es je zu freien Wahlen kommt. Ich bin noch sehr skeptisch, dass es überhaupt so weit kommt, weil wir eben sehen, dass die größte Herausforderung ist, die Waffen zum Schweigen zu bringen, und dass es nach wie vor große Unterschiede gibt in der Definition des Terrors. Und solange wir uns nicht darauf geeinigt haben – sprich: die internationale Gemeinschaft, Russland, die USA, Iran, die lokalen Mächte –, wer ist in Syrien Terrorist und darf und muss weiter bekämpft werden – sprich: der IS und die Nusra-Front als Al-Kaida-Ableger – und wer ist aber auf der anderen Seite Teil von Verhandlungen, muss am Tisch sitzen, weil sich sonst auf dem Boden gar nichts ändern wird für die Menschen, wenn kein Waffenstillstand eingerichtet wird, solange darüber keine Einigkeit herrscht, werden einfach alle weiterkämpfen, wie sie möchten, und vor allem werden eben Assad auch und Russland weiterhin die Gebiete bombardieren, von denen sie behaupten, dass dort Terroristen sitzen. Und die Definition des Terrors aus Assads Sicht ist ja, dass jeder, der gegen ihn aufsteht, Terrorist ist. Und da muss man eine andere Definition finden und darauf müssen sich alle einigen und das muss dann auch durchgesetzt werden. Und das ist die große Herausforderung für Ende Januar. Denn mit den Verhandlungen soll ja auch der Waffenstillstand beginnen.
    Zagatta: Die Syrien-Expertin Kristin Helberg. Frau Helberg, vielen Dank für diese Informationen, die Sie uns geliefert haben, und Ihre Einschätzungen!
    Helberg: Ja, danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.