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Tänzer der Unterwelt

"Befreiung" bestätigt einmal mehr Sándor Márais Ruf, einer der bedeutendsten Erzähler des 20. Jahrhunderts zu sein. Geschrieben hat es der ungarische Autor 1945 unter dem Eindruck des Kriegs - und hatte es eigentlich nie zur Veröffentlichung freigegeben.

Von Tanya Lieske | 06.06.2010
    Als der Literaturwissenschaftler und Autor W. G. Sebald 1999 in einem Aufsatz forderte, die Deutschen mögen den Luftkrieg und die Zeit in Schutzbunkern erzählen, da hat er vielleicht nicht mit bedacht, dass es auch schlummernde Manuskripte gibt, wartende, die zu ihrer Zeit das Licht der Welt erblicken. "Befreiung" ist ein solches Manuskript. Geschrieben hat es der ungarische Autor Sándor Márai 1945. Márai hat den Roman nie zur Veröffentlichung freigegeben, und doch ist es ein historischer Glücksfall, dass er überlebt hat, und nun in deutscher Sprache, in einer geglückten Übersetzung von Christina Kunze erschienen ist. Einmal mehr bestätigt sich darin Márais Ruf, einer der bedeutendsten Erzähler des 20. Jahrhunderts zu sein. Mit fast bedrückender Virtuosität füllt er die Leerstelle, die Sebald einst bemängelte, und zugleich legt er offen, wo dieser sich verrannt hatte. Denn den Luftkrieg haben nicht nur die Menschen in Berlin, Hamburg oder Dresden erlebt, also die Bevölkerung in Deutschland, sondern auch die Einwohner von Warschau, Prag und Budapest. Márai selbst war zur Jahreswende 1944/45 in Budapest, er hat die Belagerung und die Eroberung der Stadt durch die sowjetische Armee miterlebt. Das eigene Augenzeugnis und die Berichte anderer Menschen hat er zu einem Endspiel verdichtet, das durch Genauigkeit in der Beobachtung und Tiefe der Reflexion besticht, und dessen Grundton apokalyptisch ist.

    Die Bevölkerung von Budapest wurde in diesen Tagen einschließlich der Flüchtlinge auf eineinhalb Millionen menschliche Seelen geschätzt. Die Flüchtlinge, die die Schreckensnachrichten der Nazis vor den Russen aus ihrem Zuhause vertrieben hatten, aus fernen Gehöften in Siebenbürgen, dem Oberland und der Tiefebene - die Nachrichten, dass die Russen die Dörfer und Städte niederbrannten und die Bevölkerung töteten, dass sie nicht einmal bei Neugeborenen Gnade kannten, dass ein Vaterlandsverräter, ein Henker seiner Familie sei, wer nicht vor ihnen fliehe. Propaganda!, sagten viele, aber sie sagten es zähneklappernd. Als läge ein dichter Dunst zwischen der bekannten Welt und den Russen; wer nach ihnen griff, schien die Hand in Nebel zu stecken.

    Für Márai, der in der gefühlten und tatsächlichen Mitte seines Lebens angelangt war, war zur Jahreswende 1945 die Stunde Null erreicht. Das kollektive Schaffen der Menschheit hatte für ihn an Sinn verloren, künftig würden nur noch einzelne Sinngebungen möglich sein. Die vollzieht Márai exemplarisch an seiner jugendlichen Heldin Erzsébet, die mehr als drei Wochen in einem Keller fristet, die von einem russischen Soldaten vergewaltigt wird, die schließlich ihrer eigenen persönlichen Befreiung entgegengeht. Erzsébet glaubt an den Sinn des Leidens. Der Erzähler und mit ihm der Autor sehen das skeptischer, sie sehen nichts als Auflösung und vermuten dahinter den Abgrund. Beide Wahrnehmungen existieren gleichberechtigt in dem Roman. Diesen Widerspruch nicht aufgelöst zu haben, ist ein Verdienst des großen Erzählers Sándor Márai.

    Grundthema dieses Romans "Befreiung" ist die Frage, wie sich der Mensch verhält, wenn die Ordnung aller Dinge zerbricht. Márai greift hier zu starken Bildern, die den Roman über weite Strecken prägen und tragen. So beschreibt er die Stadt Budapest als Organismus, dessen kollektive Regungen sich angesichts der Bedrohung vereinheitlichen. Je näher die feindlichen Truppen rücken, desto animalischer wird dieser Organismus Stadt. In einem zentralen Bild wird sie zum gejagten Urwild. Die Reduktion des Krieges auf die archaische Metapher der Jagd bedeutet sowohl eine Vereinfachung wie auch eine Verlagerung des Gewichts in einen poetischen Raum. Márai wollte nicht diesen einen Krieg erklären, er wollte das Wesen des modernen Vernichtungskriegs an sich erfassen:

    Der Abend ist hell vom Mondlicht. Rechts sieht (sie) Erzsébet die Reste der gesprengten Margarethenbrücke, der ins Wasser gesunkene Pester Brückenkopf wirkt, als würde sich eine urtümliche Bestie in der Donau, diesem uralten Fluss, auf die Ellbogen stützen, ein in die Knie gesunkenes Urreptil, von einem gnadenlosen Jäger verwundet. Aber die Stadt, die kein einziges Licht mehr hat, lebt mit ihren dunklen Formen noch im Mondlicht. Die große Kulisse am rechten Ufer, die königliche Burg, das Ministerpräsidium und rechts das Parlament, alles, was aus Steinen aufgestapelte Geschichte in sich birgt, herausforderndes und stolzes Symbol, steht noch an seinem Platz.

    Gegner des Urreptils Stadt ist der Jäger. Die sowjetische Armee erscheint in einer komplementären Bewegung als ein mechanischer Riese, ein automatisierter, bis an die Zähne bewaffneter Golem:

    Dieser Riese ist das russische Heer, diese große Maschine ist zusammengesetzt aus den Kanonen, Flugzeugen, Stalinorgeln, Minenwerfern, Maschinengewehren der Zweiten Ukrainischen Armee. Nun arbeitet die Maschine gleichförmig im Takt. Dieses Geräusch ist nicht einmal mehr Furcht einflößend. Es ist so natürlich, als hörte man in einer Maschinenfabrik die Geräusche der nächtlichen Arbeit.

    Das Bindeglied zwischen Jäger und Gejagtem ist der Krieg. Der erscheint bei Márai personalisiert, er ist der eigentliche Animus des Geschehens. Dahinter sehr spürbar die Bemühung des Autors, nicht nur ein persönliches an eine Zeit und einen Ort gebundenes Zeugnis abzulegen, sondern die existenzielle, apokalyptische Dimension jener letzten Wochen festzuhalten, in denen Europa in Schutt und Asche gelegt wurde. Gerade wegen seiner archetypischen Bilder hat dieser Roman viele visuelle Qualitäten, man hat bei der Lektüre öfter den Eindruck, durch ein Höllenspektakel spazieren. Tatsächlich gibt es eine Oberwelt, dort stirbt die Stadt, und eine Unterwelt, das sind die Keller, in die sich die Menschen zurückgezogen haben.

    Der Krieg ist hier, er ist ganz nah, er lodert an den Ecken des Häuserblocks, und es braucht Zeit, bis die Bewohner des Kellers lernen, dass der Krieg Raum und Zeit anders misst als der Frieden. Jetzt, da sie diese harte Rechnung am eigenen Leib erfahren, verstehen sie, dass das Wesen des Krieges sich nicht nur an Erdteilen und Ländern auf eigenartige, besondere Weise erfüllt, sondern auch an der unmittelbaren Wirklichkeit.

    Der Krieg ist hier, man hört ihn keuchen, man spürt seinen heißen, fauligen Atem, er ist hier, ganz nah, in der Nachbarstraße oder drei Straßen weiter, und doch ist er auch nicht hier. Alle lauschen in der Dunkelheit, mit starrem Blick, mit rauschenden Ohren, wie die wilden Tiere, wenn sie die Nähe des Jägers spüren.


    Die Belagerung Budapests durch die sowjetischen Truppen begann zu Weihnachten 1944 und endete in den ersten Tagen des neuen Jahres 1945. Die Menschen haben sich in die Keller ihrer Häuser zurückgezogen und warten. Dabei spielen sich Dinge ab, die in Márais Beschreibung nah am Absurden angesiedelt sind. Man richtet sich häuslich ein, feiert wahre Gelage mit seinen Vorräten, bestiehlt die Nachbarn auch jetzt noch, wo Besitz schon längst nichts mehr zählt. Man verrät die letzten Juden an die letzten Verfolger. Dann heißt es nur noch: Warten. Márai behauptet hier, dass jedes Warten, auch auf das schrecklichste Ereignis, irgendwann von dem Wunsch beseelt ist, dass eben dieses Ereignis eintreten möge.

    Sie haben gebacken und gekocht für die Zeit der Belagerung, als würden sie sich auf einen geselligen Ausflug vorbereiten, sie haben ihre Bündel und Wertsachen schon zusammengepackt, sich in den Kellern eingerichtet [...]. Sie warten schon auf die Belagerung. Beinahe wünschen sie sie herbei. Sie erzittern vor ihr, aber zugleich erwarten und ersehnen sie sie, weil die Zeit reif ist, weil es sich erfüllt hat, Wirklichkeit geworden ist und jetzt ausgetragen und geboren werden muss in Blut und Schmerz, diese Schreckensgeburt, dieses im Schoß empfangene und zur Wirklichkeit gereifte Schicksal, die Belagerung.

    So viel Warten bedeutet, dass der reflexive Raum dieses Romans groß ist. Gefüllt ist er mit der Wahrnehmung der sterbenden Stadt und mit den Gedanken der Protagonistin Erzsébet. Die Menschen treten nur noch mit einem Minimum an Individualität auf. Auch Erzsébet lebt mit falschen Papieren und verschleiert ihre Identität.

    Ihren falschen Papieren zufolge - sie hatte sie von der Tochter einer Reinemachefrau der Universität bekommen - hieß die junge Frau Erzsébet Sós. In den Papieren stand, sie sei dreiundzwanzig Jahre alt und von Beruf Pflegerin in einem Krankenhaus, und all das hätte für den oberflächlichen Betrachter im Großen und Ganzen der Wirklichkeit entsprechen können. In Wahrheit jedoch stimmte durch irgendeinen gewöhnlichen Zufall nur der Vorname: Die junge Frau hieß tatsächlich Erzsébet. In der Namensgleichheit sah sie ein himmlisches Zeichen, eine günstige Fügung ...

    Erzsébet steht in den letzten Kriegstagen vor der fast unlösbaren Aufgabe, ihren Vater in einem sicheren Versteck unterzubringen. Der Vater ist ein angesehener Wissenschaftler, er wird von faschistischen Pfeilkreuzlern gesucht. Hab und Gut, ihre Wohnung, ihren Besitz, eine mehr als 5000 Bände umfassende Bibliothek haben die beiden verloren. Man erkennt in der Person des Astronomen ein Alter Ego des Autors Sándor Márai, der ebenfalls von den Nazis geächtet wurde, der seine aus vielen Tausend Bänden bestehende Bibliothek in einem Hausbrand verloren hatte, der sich für einen Großteil des Kriegs auf dem Land aufhalten musste:

    Die Person des Vaters, dieses einsame menschliche Leben, seine Arbeit, diese allen praktischen, alltäglichen Interessen entzogene wissenschaftliche Arbeit erzürnte und reizte seitdem die Kollegen und Politiker, und in der letzten Zeit war sein Name sogar für die Menschen auf der Straße eine Art hetzerischer Begriff.

    Warum? (...)

    Sein Schweigen reizte die "rechte Seite" genau so, als hätte er sich offen und lautstark gegen sie gestellt. Denn nichts hatten diese Machtverbände so nötig wie das moralische Ansehen des geistigen Menschen - alles hätten sie ihm gegeben, wenn er mit einem Nicken das blutige Abenteuer gutgeheißen hätte, das sie in den Massen, in gefällige Schlagworte von Nation und Rasse verpackt, erstrebenswert machen wollten.


    Márai hat seinen Roman "Befreiung" in nur wenigen Wochen des Jahres 1945 niedergeschrieben. Der Roman ist in drei Teilen erzählt, die einer dramatischen Grundstruktur mit Exposition, Peripetie und Auflösung entsprechen, doch die Chronologie sträubt sich gegen einen solchen linearen Verlauf. Es gibt einen gerafften Rückblick auf zehn Monate, die der Vater vor den Häschern flieht, eine fast dreiwöchige Gegenwartsstrecke im Keller, darin Vor- und Rückgriffe, Dopplungen und Simultanitäten. Ferner findet sich gelegentlich eine Dehnung der Zeit im Sinne eines dramatischen Stillstands. Immer sind es Situationen, in denen Erzsébets Leben eine Wendung nimmt.

    Zum Auftakt des Romans steht sie auf der Schwelle des Mietshauses, in dem sie die Belagerung und Eroberung erlebt der Stadt erlebt hat. Sie ist im Begriff, die Straße zu überqueren, hin zum Vater, der in einem Luftschutzkeller eingemauert ist. Zum Ende des Romans steht Erzsébet auf derselben Schwelle, derselbe Augenblick wird im Präsens erzählt. Die vielen Kontraktionen und Expansionen lassen ahnen, dass Márai sich in seiner Zeit in Paris in den 20er-Jahren mit den Theorien Henri Bergsons zurzeit und zum Raum, zur Durée und zur Simultanité beschäftigt hat. Jedenfalls dehnt sich für Erzsébet einige Male die Zeit im Sinne einer geschärften, fast übersinnlichen Wahrnehmung. Auch in dem Moment, in dem sie in einer wirklich ausweglosen Lage, ein letztes Versteck für ihren bedrohten Vater finden muss:

    Erzsébet spürt, dass sie ohnmächtig ist und ratlos, dass sie nicht mehr kann. Dies ist das Schicksal, der letzte Augenblick; an wen kann sie sich noch wenden? Und in diesem Moment, so, wie es einem in Träumen zu geschehen pflegt, wenn eine schreckliche und unlösbare Lage in einem Sekundenbruchteil das bekannte Weltbild aus dem Lot bringt, ist ihr, als riefe ihr jemand zu, als hörte sie eine Stimme: "Der Sabbatarier". Und sie sieht ein Gesicht. Was ist das für ein Gesicht? Kein besonderes. Das Gesicht eines Fünfzigjährigen.

    Und der Sabbatarier, Anhänger einer christlichen Reformationsströmung, für die der Samstag der höchste Feiertag ist, wird helfen. Er tut es nüchtern, ohne Eifer und ohne Erwartung einer Gegenleistung. Zwei Rätsel beschäftigen Erzsébet. Warum hilft der Sabbatarier? Und: Wie ist ihr der Name des unscheinbaren, bis dahin gesichtslosen Nachbarn plötzlich zugefallen? Erzsébet ist Naturwissenschaftlerin. Der Vater ist Astronom, der Geliebte Tibor Arzt. Diese Disziplinen, in all ihrer Empirie hoch gehandelt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, sind am Ende ihres Vermögens angekommen, wenn es um die Erklärbarkeit des Menschen geht. Um die Begründung seiner Bereitschaft, Krieg zu führen, genau so, wie um die seiner Hilfsbereitschaft:

    Später wird sie oft daran denken. Was für ungeahnte Kräfte wirken in solchen Augenblicken in den Tiefen des Verstandes und des Bewusstseins eines Menschen?

    Erzsébet ist Biologiestudentin, sie hat einen strengen Lehrer, der sie dazu erzogen hat, nur der Wirklichkeit zu glauben, dem, was man spüren, wahrnehmen, mit den Kontrollmethoden des Experiments festhalten kann. Erzsébet weiß, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit von Nervenreizen im menschlichen Organismus einhundertsechsundzwanzig Meter pro Sekunde beträgt, und sie kennt noch viele solcherlei Tausende und Abertausende von Malen gemessenen, kontrollierten Wahrheiten ... aber nichts von dem, was sie gelernt hat, kann die Frage beantworten, wie und warum ihr in diesem Augenblick, zwischen zwei Bomben, auf der Schwelle des verlassenen Hauses am Díszplatz dieser Begriff eingefallen ist: "Der Sabbatarier."


    Wir alle kennen solche Momente, auch wenn sie selten sind. Die Zeit scheint still zu stehen, alles verlangsamt sich bis zum Stillstand, die üblichen kognitiven und physikalischen Gesetze scheinen außer Kraft gesetzt, und dann geschieht etwas, was gültig ist, nicht zu widerrufen. Der Sitz dieser Bewegung ist natürlich die Intuition, die zugleich die Basis allen künstlerischen Schaffens ist. Die Tatsache, dass Márai diese Intuition hier schicksalshaft wirken lässt, sie zugleich infrage stellt, lässt erahnen, wie sehr er den Beginn des Jahres 1945 als Krise erlebt hat. Márai, im Jahr 1900 in Kaschau in ein liberalkonservatives Haus geboren, war durch und durch ein Kind der k. u. k. Monarchie. Sein Roman beweist, dass diese Monarchie mit ihrer ständischen Ordnung für ihn erst 1945 vollständig verschwand. Das Ergebnis war der Untergang der ihm bekannten Welt. Sein Roman "Befreiung" siedelt am Rande eines metaphysischen Rätsels, das bizarr ist, in Teilen sogar kafkaesk. Man nehme die Verlautbarungen des Propagandaministeriums im Angesicht des Untergangs:

    Das Radio sendete sogar noch von Zeit zu Zeit: Es "meldete", ordnete an, rief alle Lastwagenfahrer auf, sich umgehend nach den Angriffen hier oder dort zusammenzufinden, weil es viel Arbeit für sie gab. Irgendwo zwischen Himmel und Erde existierte noch eine Behörde, und diese Behörde verordnete und befahl, sie benahm sich, als hätte sie wirkliche Macht, als wären die Luftangriffe nur ein vorübergehender Unfall, den die Behörde schließlich überlegen abwendet. Dann begannen die Sirenen zu kreischen, im Radio wurde ein Zeichen gegeben, dass "die Gefahr aus der Luft vorüber" sei, die Menschen taumelten oder eilten aus dem Keller auf die Straße in den Sonnenschein, hielten die Gesichter ins Licht, trotteten zurück in die erkalteten Zimmer zu den offenen Fenstern, löffelten die ausgekühlte Suppe weiter, aßen zu Mittag oder begannen zu telefonieren, wenn das Telefon gerade funktionierte. Die Straßenbahnen fuhren los. Denn noch immer herrschte "Ordnung".

    Drei Viertel dieses Romans spielen im Keller, und das, was Márai dort beobachtet und festgehalten hat, erfüllt aufs Mustergültigste die Sebald'sche Forderung nach einer Erzählung des Luftkriegs. Wie aber deutet Márai die Zwangsgemeinschaft von 140 Menschen über 24 Tage in einem Keller mit einem einzigen Eimer, der als Abort dient? Er beobachtet ihr Ringen um Ordnung, auch hier. Und er deutet diese als Zwang zur Sinngebung, die der Mensch braucht, bis in den Tod und darüber hinaus. Insofern ist die Schwelle, die Erzsébét überschreitet, als sie in den Keller hinabsteigt, die Grenze zwischen der Oberwelt, in der Sinn erhalten werden muss, und der Unterwelt, in der er neu geschaffen werden muss.

    Erzsébet geht in den Keller hinunter, auf der Schwelle der Stahltür bleibt sie stehen. Drei große Gewölberäume befinden sich hier, die modrige, feuchte Luft, dieser herbe, bittere Geruch berührt sie wie ein körperlicher Stoß. Unschlüssig steht sie auf der Schwelle, als spürte sie, dass dies der Augenblick sei, in dem sie nicht zu einem Gelegenheitsbesuch in dem unterirdischen Versteck einkehrte ...

    140 Menschen ziehen in den Keller ein, es gibt Verteilungskämpfe und neue Hierarchien bilden sich. Besonders beliebt sind die Eckplätze. Bewohner aus dem Nachbarhaus werden in den hinteren, den dunkelsten und engsten Kellerraum verwiesen. Bettgestelle, Liegestühle und zusammenklappbare Eisenbetten werden aufgestellt. Ein Oberregierungsrat und seine Frau führen ihren Haushalt weiter, samt Herd und Köchin. Sie verteilen Essen an die Armen.

    Auch jetzt sind sie etwas Besonderes und haben gesellschaftlichen Rang. Und eigenartigerweise wird dieser Rang jetzt, da die Russen, die Bolschewisten, so nah sind, nicht so sehr von dem Oberregierungsrat und seiner Familie bewahrt, sondern von den "einfachen Menschen", den kleinen Leuten des Hauses, den Proleten. Die Frau ist auch jetzt weiterhin die "Frau Oberregierungsrat", niemand spricht sie anders an.
    Man erinnert sich daran, dass gerade in Deutschland viele Intellektuelle den Beginn des Ersten Weltkriegs begrüßten, da sie sich durch die Einberufung ein Ende des Ständesystems versprachen. Bei Márai liegen die Dinge anders. In der Auflösung liegt Unordnung, und diese ist der Feind des Menschen. "Befreiung" hätte im kommunistischen Ungarn nie erscheinen können. Nicht nur, weil Márai die Vergewaltigung einer jungen Frau durch einen Rotarmisten beschreibt, sondern auch, weil er sich kaum verschlüsselt als ein Vertreter dessen zu erkennen gibt, was später den Begriff der "bürgerlichen Dekadenz" bekommen würde: Er war ein im tiefsten Wesen durch die Donaumonarchie geprägter Intellektueller. Einige Jahre später würde der aus Moskau zurückgekehrte marxistische Philosoph George Lukács ihn mit folgenden Worten verurteilen: "Niedriger als sein politisches und menschliches Niveau ist nur noch das Niveau des Schriftstellers selbst."

    Zuvor lässt Márai noch einmal die alten Stände antreten, doch haftet diesem sich auflösenden Reigen schon etwas Irres an.

    Hochwohlgeborene, Reiche, Gelehrte, Kleinbürger, Schneider, ein Feuerwehrmann, ein Privatdozent von der Universität, den Erzsébet von irgendwoher kennt, ein neureicher Händler, der erst kürzlich zu Vermögen gekommen ist, als faschistische Verordnungen und Gewalttaten die jüdischen Händler ausmerzten, ein Anwalt, ein Parketttänzer, der jetzt mit Kupfervitriol handelt, alle möglichen Menschen.

    Später fallen die Begriffe "Raum des Wahnsinns", "Maskenball" und "Tänzer der Unterwelt". Die Bildgestaltung und die folgenden Ereignisse suggerieren die Danse macabre, den mittelalterlichen Totentanz. Im offenen Raum, der sich dahinter auftut, lungern, je nach Sichtweise, der Tod, die Hölle, die Anarchie der Nihilismus. "Befreiung" ist in jeder Hinsicht ein Schwellenroman, denn in ihm deutet sich bereits an, dass nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs das Absurde Eingang halten wird in die europäische Literatur.

    Im Sinne eines Totentanzes betritt der Tod drei Mal die unterirdische Kellergesellschaft, und jedes Mal wird er von den Bewohnern als lästige Störung der Ordnung abgetan. Zunächst stirbt ein Oberinspektor der Eisenbahn an Bauchspeichelkrebs. Die Unterweltler schauen weg:

    Als wollten sie sagen: "Übertreibung! Taktloser Kerl! Was für ein Sonderling!"

    Dann kommt ein Exekutionskommando der faschistischen Pfeilkreuzler den Keller, sie suchen, finden und töten einen der letzten untergetauchten Juden. Die Tat ist nah an der Groteske beheimatet, und die Täter wirken wie eine allegorische Gruppe aus einem mittelalterlichen Totentanz-Fresko.

    Vier Gestalten stehen inmitten der stinkenden Unordnung, ein gnomenhafter, buckliger Zwerg, ein baumlanger, pockennarbiger Mann im Ledermantel, den die anderen Kamerad Szappanos nennen, und zwei dicke, heiser fluchende, sichtlich betrunkene Kerle, sozusagen Henkersknechte und Helfer. Kamerad Szappanos ist der Anführer der Gruppe, aber der flinke Gnom ist die Seele des Kommandos. Sie tragen pelzbesetzte Jacken oder Ledermäntel und halten in den Händen Maschinenpistolen und elektrische Lampen, die mit blendendem Strahl leuchten. Der Gnom geht voran, gebeugt, als wäre er vollkommen heimisch unter der Erde, in der Unterwelt, als bewegte er sich in seinem Element und in dem ihm eigenen Raum.

    Eine junge Frau aus der Masse der Kellerbewohner heraus. Sie beginnt zu erzählen. Es stellt sich heraus, dass sie eine Überlebende des KZ Auschwitz ist. Sie berichtet von dem Lagerarzt Josef Mengele. Márai hatte derartige Berichte in den letzten Kriegstagen gehört, und sie bewegten ihn so sehr, dass er sie diesem Roman beifügte. Die historische Inkonsequenz nahm er in kauf, denn in den ersten Tagen des Jahres 1945 war Auschwitz noch nicht befreit. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Márai nie erwogen hat, seinen Roman "Befreiung" zu veröffentlichen, auch nicht später, als er in Italien und in Amerika lebte. Bemerkenswert ist in der Passage, dass Márai als vielleicht einer der ersten Schriftsteller die Mengele-Ikonografie formuliert, der selten beschrieben wird ohne Verweis auf seine Musikalität und seinen Sinn für Ästhetik:

    Der Doktor hat Grammophon gehört, wann immer er konnte, Aufnahmen von wunderbaren Konzerten hatte er in der Praxis, Bach in einer Aufführung der Londoner Philharmoniker und Mozart. Und in der Bewegung, mit der er gewinkt hat, nach rechts oder nach links, ins Gas oder noch für ein paar Wochen zur Arbeit, in dieser Geste lag etwas von der Bewegung eines Dirigenten.

    Kurz vor dem Eintreffen der sowjetischen Armee befiehlt der Hauswart die Räumung des Kellers. Alle gehen, bis auf Erzsébet und einen gelähmten Juden, der sich als Bekannter ihres Vaters zu erkennen gibt, und der ihr bedeutet, dass es nun darauf ankomme, nicht noch einen entscheidenden Fehler in letzter Minute zu machen. Es entspinnt sich ein Dialog, der eher thesenhaft ist, daher zu den schwächeren Passagen des Romans gehört. Márai suchte selbst nach Gewissheit in der Frage, ob der Mensch ein Wesen ist, das durch Leid geläutert werden konnte. Diese Ansicht vertritt Erzsébet. Ihr Gesprächspartner, auch er ein Wissenschaftler, neigt einem abgeklärten, illusionslosen Menschenbild zu.

    Dann kommt der Rotarmist. Márai, der selbst noch unter dem Eindruck der faschistischen Propaganda stand, die von schlitzäugigen, mordenden Horden berichtete, ist in seiner Beschreibung des russischen Soldaten sichtlich bemüht, das ethnische Klischee zu durchbrechen:

    Der Mann ist auf keinen Fall "russisch", wie es sich Erzsébet vorgestellt hat. Er hat weder breite Wangenknochen noch eine flache Stirn. Der Kopf ist länglich, erinnert eher an Menschen aus dem Norden, er könnte auch ein Deutscher aus Pommern oder ein Skandinavier sein, ein Norweger oder ein Schwede. (...) . Jede Bewegung ist gewählt, ausgeglichen. Die Art, wie er die Pelzmütze abnahm, sich das Haar glatt strich, dann die Maschinenpistole gegen das Tischchen lehnte, jede Bewegung ist selbstbewusst, diszipliniert, leidenschaftlich.

    Der Russe vergewaltigt Erzsébet, nicht sofort und auch nicht triebhaft, er sondiert erst die Umgebung, lässt sich von ihr Schnaps reichen, schenkt ihr danach ein Tütchen Zucker. Die Tat ist eher nüchtern und wahrscheinlich weit davon entfernt, was viele Frauen in den letzen Monaten des Krieges erlebten. In einer Hinsicht aber hat Márai das Wesen der Tat erfasst. Vergewaltigungen sind ein Mittel der Kriegsführung, sie dienen der Unterwerfung und Demütigung des Gegners. Wenn man sich hier noch einmal das Eingangsbild des roboterhaften, bis an die Zähne gerüsteten russischen Heerleibs in Erinnerung ruft, wird deutlich, wie sorgsam Márai seine Bilder setzt. Der junge Soldat aus Sibirien ist ein Stück Mechanik, eine Sprungfeder in diesem Heeresorganismus, und er handelt automatisiert, wie auf Befehl.

    Und Erzsébet spürt mit dem ganzen Körper, den der Russe mit einer einfachen und unerbittlichen Geste gefangen hält, spürt, dass der Mann nicht böse und feindselig, sondern traurig und hilflos schweigt, mit jener sonderbaren Hilflosigkeit, wie ein Soldat vor seinem Vorgesetzten schweigt, wie jeder schweigt, der einen gnadenlosen Befehl ausführt, den Befehl der Macht oder des Köpers oder der Instinkte!

    Das Schlusstableau des Romans führt zurück in die Oberwelt. Es hat geschneit, und der junge Russe liegt erschossen im Schnee. Die Einschusswunde über dem rechten Auge legt einen Selbstmord nahe. Erzsébet reinigt sein Gesicht, und in der Zugewandtheit dieser Geste wird deutlich, dass auch sie die Tat als eine Unpersönliche begriffen hat. Ihre letzten Worte, "Es scheint ich bin frei" deuten an, dass es nicht nur um eine physische, sondern vor allem um eine metaphysische Befreiung geht. Ähnlich wie die französische Philosophin Simone Weil, mit deren Werk Márai aus seiner Zeit in Paris vertraut war, glaubt Erzsébet an eine Erhöhung des Menschen durch Leiden. Aus seinen Tagebüchern wissen wir, dass Márai diesen Gedanken 1945 bereits verworfen hatte. Es zeugt von der geistigen Größe dieses Autors, dass er seine Hauptfigur dennoch in Hoffnung entlässt. Wenn uns sein Roman "Befreiung" nun, 65 Jahre nach seiner Niederschrift erreicht, darf man wegen dieser Größe getrost staunen.


    Sándor Márai: Befreiung. Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Kunze. Piper Verlag, München 208 Seiten geb. 16,95 Euro