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Tage ohne Schlaf

40 Menschen wollen einen Wettbewerb gewinnen: Wer am längsten seine Hand auf dem Blech eines Landrovers halten kann, ohne einzuschlafen, der erhält einen Eintrag ins Guinnessbuch - und obendrein den Wagen. Für Anthony McCarten ist das eine Metapher des Lebens.

Von Anja Hirsch |
    Irgendwo in den Wäldern um Wellington, der Hauptstadt Neuseelands, versank der legendäre eine Ring, der sie alle knechtete. Hobbits, Elfen und Orks mischten sich mit profanen Kamerateams. Als hier die große "Herr der Ringe"-Saga gedreht wurde, müssen Funken übergesprungen sein: Anthony McCarten, selbst Neuseeländer, schrieb damals mit 25 Jahren nicht nur zusammen mit Tolkiens Drehbuchschreiber Stephen Sinclair das sehr erfolgreiche, später unter dem Titel "Ganz oder gar nicht" verfilmte Theaterstück "Ladies Night" über vier arbeitslose Gründer einer Männerstripteasegruppe. Anthony McCarten inhalierte den Mythos. Seitdem schlummert er in ihm. Andere Romane mussten noch geschrieben werden - etwa "Superhero", die Geschichte eines krebskranken Jungen, der seine Jungfräulichkeit verlieren will. In seinem neuen Roman "Hand aufs Herz" hat McCarten den Mythos wieder zum Leben erweckt - nicht im grünen Auenland, sondern auf dem unwirtlichen Hof eines neuseeländischen Autohändlers. Dort regiert die Gier. Das Objekt: Ein Landrover, der verführerisch blitzt und glitzert, wie einst Tolkiens Ring. Wer ihn gewinnen will, muss nur die Hand auf das kühle Metall legen - länger als alle anderen Teilnehmer dieses verrückten Wettbewerbs, mit dem der marode Autohändler sein Geschäft aufpeppen will.

    "Ich habe immer nach einer sehr kleinen Geschichte gesucht, nach einer Metapher, die das Existenzielle des Lebens birgt - wie Ernest Hemingways Erzählung "Der alte Mann und das Meer", wo dieser Mann einen riesigen Fisch fängt, und als er an der Küste ankommt, ist nur noch das Skelett übrig. Dieser Wettbewerb, der hier beschrieben wird, ist eine große Metapher für das, was wir Leben nennen - ein Mikrokosmos der Gesellschaft."
    Anfangs plaudern die Menschen am Auto noch höflich miteinander, als stünde man an einer Bushaltestelle. Alle zwei Stunden gibt es eine kurze Pause und strenge Aufsicht. Dann legen die Teilnehmer wieder brav Hand ans Blech - der Autodieb, der einmal im Leben etwas legal erhalten will; der Sohn reicher Eltern, der gefordert sein möchte; ein zäher Rentner, der eigentlich nichts braucht; vierzig sind es beim Start. Freundschaften werden geschlossen. Dann wieder gebrochen - man ist Konkurrent. Es gelten Darwinsche Gesetze. Wer unachtsam ist oder einschläft, ist raus. Wie biblische Plagen fällt Regen, brennt die Sonne, krabbeln plötzlich überall Ameisen. Die Gruppe schrumpft, der Irrsinn wächst mit dem Warten, Tag um Tag.
    "Dieser Wettbewerb ist hart. Meine Recherche zeigte, dass man dabei nicht nur körperlich alles riskiert - Menschen sind währenddessen gestorben - sondern auch verrückt werden kann. Nach drei Tagen wird das Hirn unzuverlässig. Man kann halluzinieren, jeglichen Sinn für Realität verlieren. Drei Tage ohne Schlaf lässt einen Grenzen überschreiten hin zu komplett unbekannten Regionen."
    Muss man erwähnen, dass es solche Wettbewerbe wirklich gibt? Doch das ist nur die oberflächliche Dramaturgie, das, was den Leser weitertreibt, als wäre er selber im Gewinnfieber und warte auf das Erschlaffen der Anderen. Dabei beginnt einen ganz anderes zu interessieren. Was treibt diese Menschen an? Warum lassen sie sich knechten, für nichts als den Eintrag ins Guinnessbuch und ein Auto, ein gebrauchtes sogar, wie sich später herausstellt? Im Kern verhandelt McCarten vor diesem Tableau zentrale Fragen:

    "In meinem Kopf war die Idee: Was würde so stark sein, jemanden zum Weitermachen anzutreiben? Wäre es Toms Motivation, die Nummer eins zu sein? Oder wäre es der altruistische Impuls, den wir in Jess sehen?"
    Diese beiden einander völlig konträren Hauptfiguren lässt Anthony McCarten aufeinander los: Der verbissene Tom, der glaubt, nur Aggression und Klugheit zählen im brutalen Leben seiner Stadt; neben ihm steht Jess, die gutmütige Politesse, die den geräumigen Van für den Transport des Rollstuhls ihrer Tochter braucht. Ihre Strategie heißt: Man muss nett sein. Wer nett ist, wird auch von den Anderen freundlich behandelt. Mit Tom, dem Besserwisser, kann sie nichts anfangen. Wenn sie sich dabei ertappt, schlecht über ihn zu denken, erschrickt sie sofort. Trotzdem scheint am Ende sogar eine zarte Nähe zwischen beiden auf. Dass dieser Roman dennoch frei von Kitsch bleibt, liegt an seiner straffen Sprache. McCarten liefert seine Figuren nie aus. Er konfrontiert sie aber ständig mit Neuem - als prüfe er sie wie im Märchen, bevor die Liebe sie am Ende rettet.

    "Die Geschichte ist schlicht diese: Wir sind auf der Reise zum Erwachsenwerden. Und alle großen Geschichten über diese Reise handeln von der Hochzeit zwischen einer dunklen und einer hellen Seite, immer in Gestalt zweier Menschen, die zusammenkommen, der Prinz und die Prinzessin, sie heiraten, sitzen in der Kutsche. Das Auto, nach dem die Hände ausgestreckt sind, ist wie das menschliche Grundverlangen, der ständige Ruf 'Ich will, ich will, ich will! Ich will es halten, danach greifen!' Aber natürlich können Hände kein Auto umschließen."
    "Hand aufs Herz" erzählt weniger vom Festhalten als vom Loslassen. Es propagiert die Veränderung. Denn nichts ist Anthony McCarten mehr Graus als starres Verharren. Wer es sich in unverrückbaren Ansichten bequem macht, ist ihm suspekt. Man muss sich den heute 49-Jährigen als eines von acht Kindern vorstellen. Als die Mutter in die Wechseljahre kam, sagt er, herrschte großes Bedauern, wie in einer kleinen Stadt, die die Schließung einer Fabrik beklagt. Die Gegend war katholisch geprägt. Und vor der späteren Desillusionierung stand die Abfütterung mit Glaubensdingen.

    "Als Kinder gingen wir zur Sonntagsschule. Uns wurden lächerliche Dinge beigebracht - etwa, wie dick die Mauern der Hölle sind - 12,5 Fuß dick! Irgendwann, als es darum ging, wie real der Nikolaus ist, hinterfragten wir das. Woher wissen die das alles?"
    Anthony McCarten liebt es, mit zwei Meinungen zeitgleich zu jonglieren, mindestens zwei Länder zu bewohnen, zwei Jobs auszufüllen - einsam am Schreibtisch oder als Regisseur beim Dreh, wo er sogar eingestandenermaßen während kostspieliger Verzögerungen den unverwechselbaren Geruch von verbrennendem Geld genießt. Sein neuer Roman, zu dem er abends noch rasch das bereits verfilmte Drehbuch schrieb, ist raffiniert, weil er Lebensspannungen aufrecht erhält: Er dekonstruiert die Gier, aber verwirft sie nicht schlicht: Als Prüfung ist sie Gold wert.

    "Wenn man einer Sache sicher ist, befindet man sich außerhalb des menschlichen Gesprächs. Man ist dann nur noch in ein Selbstgespräch verwickelt, hat sich bereits eine Meinung gebildet und sich gegen andere Sichtweisen verschlossen. Ich will mit der Vorstellung brechen, dass Gewinnen eine so tolle Sache ist. Am Ende beschreibe ich, wie es für Tom ist, Weltrekordhalter zu sein. Und wie leer das ist! Weil du alleine auf dem Gipfel bist. Du bist da hochgegangen, aber dann stehst du da alleine. Und vielleicht bist du sogar über Menschen gegangen. Und dann wird es schwierig, wieder herunterzukommen - weil du Schaden angerichtet hast."
    Ein bisschen gleicht die Lektüre einer Gebirgswanderung. Und je länger der Wettbewerb über Klippen und Täler verläuft, desto mehr verbrennen überzogene Glücksvorstellungen. Das metallische Glitzern verliert seine Kraft - dafür beginnt die Geschichte dahinter zu leuchten. Anthony McCarten lehrt mit seinem Roman Warten - und schafft es, dabei weder moralisierend noch esoterisch zu klingen: "Hand aufs Herz" verknotet Satire und Melodram - und löst mit gewandter Leichtigkeit sture Fokussierungen.

    "Dann benutzt man andere Begriffe. Dann gibt es nicht Gewinner oder Verlierer. Man denkt dann in Begriffen wie 'wach sein', 'lebendig sein', 'bewusst leben'. Das ist die Geschichte: wach zu sein. Und diese Menschen sind wach für fünfeinhalb Tage, sich verzweifelt sehnend nach Schlaf!"

    Anthony McCartens Roman "Hand aufs Herz" ist bei Diogenes erschienen, hat 320 Seiten und kostet 21,90 Euro. Manfred Allié hat ihn aus dem Englischen übersetzt. "Show of Hands", so der Originaltitel, ist mittlerweile auch verfilmt. Und wer lesefaul ist, darf Rufus Beck den Roman - wie übrigens auch die beiden vorigen McCarten-Romane "Superhero" und "Englischer Harem" - lesen hören: ebenfalls Diogenes Verlag, 5 CDs, 29,90 Euro.