Tagebuch - Freitag, 10. März 2006

Rückfahrt von Gao. Unser Fahrer Amadou, Paul, ein Journalist aus Bamako, der mich begleitet und ich. Wir schweigen. Jeder von uns dreien hat sich die letzten Stunden überlegt, was er für die vielen Illegalen in der Stadt hätte tun können, für die, die nichts mehr haben und weder vor noch zurück können. Für die Senegalesen, die seit drei Tagen nichts zu essen hatten. Für die Frauen, die anschaffen gehen müssen.

Von Rüdiger Maack |
    Wir können nichts tun. Einigen haben wir frisches Wasser gekauft. Dann tut es einen Schlag. Ein Reifen ist geplatzt. Amadou wechselt ihn in rekordverdächtigen zehn Minuten. Dann erklärt er, dass der geplatzte Reifen repariert werden muss. Wir haben ja kein Ersatzrad mehr dabei. Im nächsten Dorf halten wir beim Reifenflicker und seinem Gesellen, einem vielleicht achtjährigen Jungen.

    Der Reifenflicker trägt einen Vollbart. Meine malischen Begleiter sprechen ihn spöttisch mit "Mudjahidin" an – ein Mudjahid ist ein Glaubenskämpfer. Der Reifenflicker findet das nicht komisch, nein, nein, er sei kein Islamist, erklärt er. Als ich ihn mit "grand frère" anrede, will er auch das nicht hören. "Großer Bruder" ist eine sehr respektvolle Form der Anrede für jemanden, der älter als man selbst. Jetzt erst erklärt er, warum er diesen Bart trägt, der hier so auffällt: Er sei 24, verheiratet und liebe seine Frau über alles. Aber weil er so muskulös und gut gebaut sei, würden ihm alle Frauen hinterher rennen. Und weil er das seiner Frau nicht antun wolle, habe er sich den Bart wachsen lassen.
    Auf einer Bank neben der Freiluftwerkstatt des Reifenflickers sitzt ein junger Malier. Er wirkt verloren und ratlos. Sein Name ist Moussa. Er will nach Europa. Er sagt, er sei 26 und aus Kayes. Kayes ist eine Grenzstadt zum Senegal - ganz im Süden - und war früher die Hauptstadt Malis. Schon seit einem halben Jahrhundert zieht es die Menschen aus Kayes fort. Es gibt keine Gegend in Mali, aus der so viele auswandern. Die meisten sind Bauern und Händler, die Schwierigkeiten haben, ihre Familien durchzubringen und deshalb versuchen, im Ausland ihr Glück zu machen.

    Moussa will das jetzt auch. In der Tasche hat er neue Ausweispapiere. Die hat er sich in der Hauptstadt Bamako auf dem Schwarzmarkt besorgt, wo er knapp 50 Prozent mehr für seinen Reisepass ausgeben musste, als beim Amt. Auf dem Schwarzmarkt musste er ihn kaufen, weil er keine Geburtsurkunde hat. Ein Register gibt es in seinem Dorf nicht. Über einen Monat hat es gedauert, bis er seine Papiere zusammen hatte.

    Er hat sich auf den Weg gemacht, nachdem sein älterer Bruder angerufen hatte, erzählt Moussa. Der sei jetzt in Frankreich und habe ihn aufgefordert nachzukommen. Über Algerien oder Libyen, ganz egal. 100.000 Franc CFA hat der Bruder nach Bamako geschickt, das sind gut 150 Euro. Davon hat er den Transport bis Algerien bezahlt. Moussa, der weder Französisch spricht, noch richtig lesen und schreiben kann, hält einen kleinen zusammengefalteten Zettel in der Hand. Darauf stehen zwei Namen und zwei Telefonnummern: Die solle er anrufen, wenn er in Gao ist. Die Leute auf dem Zettel würden sich dann schon um den Rest kümmern.


    Meine Begleiter beginnen, auf Moussa einzureden - auf Bambara, der am weitesten verbreiteten Sprache Malis. Sie beschwören ihn umzukehren. Europa werde er niemals zu sehen bekommen. Dieser Trip sei viel zu gefährlich. Der Reifenflicker hört eine Weile zu, dann beginnt er zu schimpfen: "Moussa", sagt er, "dein Bruder ist ein Mörder. Der will Dich umbringen. Wie willst Du das denn überleben? Wenn er Dich wirklich in Frankreich haben will, dann soll er Dir ein Visum und ein Flugticket kaufen!" Er redet sich in Rage: "Ich habe hier am Straßenrand soviel gesehen!" Dann dreht er sich zu mir um: "Du könntest mir eine Million geben", sagt er, "ich würde trotzdem nicht gehen." Und zu Moussa gewandt: "Ich verdiene hier in Mali mein Geld – warum tust Du das nicht auch?"

    Moussa verteidigt sich, aber er wirkt unsicher: es gäbe nicht genug Arbeit und kein Geld in Mali. Deshalb müsse er gehen.

    Wir bieten ihm an, ihn nach Bamako mitzunehmen. "Was soll ich ihn Bamako?", sagt er, "da komme ich her." Moussa sitzt auf der Holzbank. Ein Haufen Elend. Aber er lässt sich nicht abbringen. Er wird weitergehen. Den ganzen Tag hat er noch nichts gegessen. Alles, was er in der Tasche hat, sind 5000 CFA, das sind 8 Euro. Bis nach Gao hat er noch 300 Kilometer vor sich.

    Moussa schaut uns aus ängstlichen Augen an. Und spricht sich selbst Mut zu. Bevor er sein Dorf verlassen habe, hat er sich mit einer magischen Flüssigkeit eingerieben, erzählt er. Er hat sie von einem Marabu bekommen, einem Magier. Ein paar Gri-Gris hat er auch dabei. Die würden ihn beschützen.

    Wir lassen Moussa auf der Holzbank zurück und fahren weiter.
    Der Schlauch leckt weiterhin und muß ersetzt werden.
    Der Schlauch leckt weiterhin und muß ersetzt werden. (Rüdiger Maack)
    Das ist Moussa. Wir treffen ihn beim Reifenflicker. Mit knapp 8 Euro in der Tasche will er es bis Europa schaffen.
    Das ist Moussa. Wir treffen ihn beim Reifenflicker. Mit knapp 8 Euro in der Tasche will er es bis Europa schaffen. (Rüdiger Maack)