Mittwoch, 15. Mai 2024

Archiv


Temperamentloser Selbstfindungstrip zu den roten Steinen

Walter Kappacher schickt in seinem neuen Buch seine Hauptfigur auf eine Reise in die "Canyonlands" in den USA, auf der Suche nach dem neuen Leben. Seltsam uninspiriert wird der Selbstfindungsstrang allerdings ausgearbeitet.

Von Günter Kaindlstorfer | 11.05.2012
    Walter Kappacher zählt zu den "großen Stillen" der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Und das zu Recht, denn auftrumpfend, großtuerisch, vollmundig kommen seine Bücher ebenso wenig daher wie der Autor selbst. Ein Stiller ist auch der Protagonist von Kappachers neuem Roman, Wessely heißt der Mann, ein eigenbrötlerischer Landarzt aus Bad Gastein. Der Eintritt in den Ruhestand stürzt den Mediziner in eine veritable Lebenskrise. Wessely ist, wie viele Kappacher-Helden, von der Sehnsucht nach einem "neuen Leben" erfüllt. Inspirationen für diese neue Leben erhofft er sich von einer Reise in die USA, konkret: in die "Canyonlands" am Kreuzungspunkt der Bundesstaaten Colorado, Utah, Arizona und New Mexico.

    Walter Kappacher kennt die bizarre Schönheit diese Canyonlands aus eigener Anschauung. Vor einigen Jahren hat er das "Land der roten Steine" im Südwesten der USA zusammen mit seiner Frau besucht:

    "Und dann sind wir immer weiter Richtung Norden gefahren, in den Canyonlands-Nationalpark. Und ich habe gebeten, können wir nicht ein bisschen da hineinfahren? Das hat so toll ausgeschaut, diese Felsgebilde. Dort ist irgendetwas passiert, das kommt ja auch im Buch vor. Da ist irgendetwas passiert. Ich kann gar nicht darüber reden. Was ich sagen konnte, habe ich ins Buch gebracht. Und es hat mir dann keine Ruhe gelassen, also bin ich im nächsten Jahr allein noch einmal hingefahren, Anfang September, mit einem Führer, da gibt es so eine Agentur. Der hat mich da hineingebracht, ins Zentrum der Maze, ins Labyrinth."

    In den Canyons von Utah, die Green River und Colorado-River in jahrmillionenlanger Tätigkeit in die Felsen gefräst hat, in dieser überwältigenden Landschaft habe er "metaphyische Erlebnisse" gehabt, erzählt Walter Kappacher. Eine Erfahrung, die der Autor mit seinem Protagonisten Wessely teilt:

    "Etwas hatte sich ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form, und doch gleichzeitig wie strahlende, rätselhafte Energie. Seit unvorstellbaren Zeiten war es dagewesen, seit Ewigkeiten, so kann man Zeitläufe nennen, die dem Menschen unfassbar sind. Es zu schauen, war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen. Er wünschte sich heftig, diese Erinnerung kehre irgendwann wieder, er war sicher, dies würde ihm helfen, zu dem neuen Leben zu gelangen, das er sich so sehr wünschte."

    "Unberührte Natur – ich weiß gar nicht, ob's so was gibt. Nicht einmal dort. Aber, ja, in die Richtung geht das schon. Ich bin schon gern in Gegenden, in denen niemand ist. Unberührt würde ich es nicht nennen. Es geht mir ums Alleinsein in einer Landschaft. Ums Ungestörtsein."

    Kappacher hat seinem Romanhelden einen Führer mit in die Wüste gegeben, Everett Kish heißt der Guide, ein alter, müder Mann vom Volke der Navajo. Beim Abendessen am Campingtisch in unmittelbarer Nähe eines Felsabbruchs philosophiert Everett mit Wessely über den Lauf der Welt.

    "Die Maschinen hätten die schreckliche Eigenschaft, alles beschleunigen zu wollen, sagte Everett. Ob auf den Highways, ob bei der Arbeit – der rasende Taumel unserer steuerlosen Welt: Alles könne nicht schnell genug gehen. Er wolle sich kaum noch einen Film im Fernsehen anschauen, weil ihn das Tempo nerve. Also kaufe er sich Filme aus den 50er-, 60er- und 70er-Jahren. Er habe nie verstanden, wofür die Geschwindigkeit gut sein solle."

    Als Everett eine ganztägige, nicht unriskante Wanderung in Angriff nimmt, beschließt Wessely, allein in der Nähe des Autos zurückzubleiben und hier auf seinen Führer zu warten. Dann und wann unternimmt der Tourist aus Österreich kleinere Streifzüge in die Umgebung.

    "Plötzlich erschreckte mich der Gedanke, Everett könne womöglich nicht zurückkehren, er sei auf einem der Slick Rocks gestürzt, gehunfähig. Oder er habe einen Schwächeanfall erlitten, sei für Stunden unfähig zurückzuwandern. Und ich, als Arzt, könnte überhaupt nichts tun. In der Dunkelheit dann müsste Everett sich einen Schlafplatz suchen.
    Was, wenn er nicht zurückkam? Ich wäre außerstande, den Chevrolet in die zivilisierte Welt zu steuern. Auch eine Rückkehr zu Fuß schien unmöglich, weil ich nicht genügend Wasser und Nahrungsmittel würde schleppen können... Wenn nicht in den nächsten drei oder vier Tagen ein Jeep mit "Maze"-Reisenden auftauchte, wäre ich verloren."


    Die eben zitierte Passage gehört zu den spannenderen eines atemberaubend spannungsarmen Romans. Man kann diese Spannungsarmut als Vorzug sehen, je nach Gusto, man muss es aber nicht. Im zweiten Teil seines tryptichonartigen Romans jedenfalls ermüdet Kappacher seine Leser mit ausgedehnten Landschaftsbeschreibungen, die in ihrer kompromisslosen Redundanz eine radikal fatigierende Wirkung entfalten.

    "Und dann, nach weiteren zehn Minuten Fahrt – manchmal waren die zerklüfteten Canyons tief unten noch einmal zu sehen – endlich der "Chimney Rock", knapp an einem tiefen Geländeabbruch sich erhebend, er sah von jeder Seite völlig anders aus. Einmal ähnelte er sogar dem stangenförmigen "Standing Rock", der Durchmesser jedoch voluminöser und die Oberfläche unregelmäßiger; von einer anderen Seite sah er tatsächlich wie ein Kamin aus."

    Man muss es sagen: Der Hauptteil von Kappachers Roman liest sich wie eine Sammlung von Reisenotizen, die der Autor in ein, zwei Lektoratsdurchgängen ohne viel Inspiration redigiert hat. Natürlich, es geht gar nicht wirklich ums Reisen in Kappachers Buch, es geht um die Selbstfindung des Protagonisten, um die Überwindung seiner Renteneintrittsalterskrise. Um diese Selbstfindung ins Werk zu setzen, hätte Wessely vielleicht gar nicht nach Utah fahren müssen, wie Kappacher an einer Stelle des Romans andeutet, vielleicht hätte es auch genügt, die Landschaft des Salzburger Pongaus intensiver wahrzunehmen, aus dem er stammt. Oder er hätte das gleiche Ergebnis durch das Studium der Schriften Meister Eckharts erzielt, die der Landarzt nach seiner Rückkehr nach Gastein beim Buchhändler seines Vertrauens bestellt. Aber auch dieser Selbstfindungsstrang in Kappachers Roman ist seltsam uninspiriert und temperamentlos ausgearbeitet.

    Warum das "Land der roten Steine" so viele anerkennende, ja enthusiastische Rezensionen bekommen hat, bleibt nach der Lektüre des Buchs ein Rätsel. Tilman Krause in der "Welt" hat sich sogar zu der Behauptung hinreißen lassen, Kappacher habe den wichtigsten deutschsprachigen Roman dieses Frühjahrs geschrieben. Darüber wäre zu diskutieren.

    Buchinfos:
    Walter Kappacher: "Land der roten Steine", Hanser-Verlag, München, 158 Seiten, Preis: 17,90 Euro