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Terror in Paris
"Ich bin natürlich sehr erschrocken, aber nicht überrascht"

"Ich hatte schon erwartet, dass so etwas kommen würde", sagte der Politikwissenschaftler Henri Ménudier über die Terroranschläge in Paris. Er hoffe, dass Frankreich nicht den Fehler mache und allen muslimischen Einwohnern die Schuld gebe. "Es gibt natürlich schon die Gefahr, dass es zu solchen Übertreibungen kommt - vor allem auch, weil wir ja in der Wahlkampfzeit sind."

Henri Ménudier im Gespräch mit Christoph Heinemann | 14.11.2015
    Die Polizei sperrte nach den Attentaten viele Straßen von Paris ab, wie hier die Rue du quai des orfèvres.
    Die Polizei sperrte nach den Attentaten viele Straßen von Paris ab, wie hier die Rue du quai des orfèvres. (dpa / picture alliance / Olivier Lejeune)
    Christoph Heinemann: Inzwischen hat sich die Terrororganisation IS zu den Anschlägen in Paris bekannt, das teilte der IS in einer Erklärung mit. Und wir setzen natürlich unsere Berichterstatter heute Mittag fort, übrigens auch auf unserer Seite deutschlandfunk.de. In Paris sind wir verbunden mit dem Politikwissenschaftler Henri Ménudier, guten Tag!
    Henri Ménudier: Guten Tag!
    Heinemann: Herr Professor Ménudier, wie haben Sie die Nacht erlebt?
    Ménudier: Ja, ganz schlimm. Ich habe das praktisch bis drei Uhr morgens verfolgt. Ich muss aber sagen, ich bin natürlich sehr erschrocken, aber nicht überrascht. Ich hatte schon erwartet, dass so etwas kommen würde, bloß man wusste nicht wann, wo und wie. Aber diese Kriegserklärung an Frankreich ist eine Art Reaktion auf die französische Politik in Afrika, im Nahen und im Mittleren Osten, es ist eine Vergeltungsmaßnahme. Russland wurde vor Kurzem getroffen, jetzt sind wir dran.
    Heinemann: Rechnen Sie damit, dass dies die Diskussionen über den französischen Einsatz etwa in Syrien beeinflussen wird?
    Ménudier: Selbstverständlich. Einmal, weil man sich fragt: Was tun wir dort? Also in Ländern, wo wir militärisch präsent sind, aber wo wir keine politische Stabilität durchsetzen können. Und dann gibt es eine Diskussion gerade jetzt mit Syrien: Sollen wir mit Baschar al-Assad verhandeln oder nicht? Und die französische Politik ist darüber ziemlich gespalten. Es gibt schon eine Mehrheit unter den Politikern, die sagen, wir wollen mit Baschar al-Assad nichts zu tun haben, denn das ist ein Mörder. Es sind ja über 250.000 Menschen in Syrien gestorben wegen dieses Krieges, aber es gibt andere, die die Meinung vertreten, wir sollten mit den Russen und zunächst auch mal mit Baschar al-Assad zusammenarbeiten, damit wir überhaupt eine friedliche Lösung durchsetzen können, und später können wir sehen, was wir aus Baschar al-Assad machen.
    Heinemann: Sie sagten gerade, diese Anschläge werden diese Diskussion verändern. Heißt das auch, dass Frankreich möglicherweise diese Engagements im Ausland noch einmal überdenken wird, an einigen Punkten zumindest?
    Ménudier: Nein, das glaube ich nicht. Einmal, weil Francois Hollande sich da sehr klar, sehr deutlich engagiert in Afrika und jetzt im Nahen Osten, Mittleren Osten, und er kann natürlich keinen Rückzieher mehr machen. Weil, was geschehen ist, ist nicht nur ein Attentat, das ist so wie eine Art Kriegserklärung. Und natürlich darf man nicht hier nachgeben. Das heißt, man muss weiter kämpfen, man muss also Mut zeigen, wachsam bleiben, Verteidigungsentschlossenheit beweisen, das hat auch gerade Bundespräsident Gauck gesagt. Also, ich hoffe, dass die Bundesrepublik sich auch daran beteiligen wird. Also, auf keinen Fall dürfen wir nachgeben.
    "Wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen unserer Zeit"
    Heinemann: Professor Ménudier, der Präsident hat den Kongress nach Versailles einberufen, das passiert sehr selten in Frankreich. Rechnen Sie mit dem traditionellen Schulterschluss, mit der Union sacrée?
    Ménudier: Ja, das ist vielleicht ein bisschen stark. Ich wusste nicht, ich habe durch Ihre Korrespondentin in Paris das erst erfahren, ich hatte noch nicht gehört, dass es zu dieser Kongresseinberufung kommt. Das ist natürlich sehr, sehr selten, eine solche Einberufung findet nur statt eigentlich, wenn die Verfassung verändert werden muss und wenn beide Kammern zusammen abstimmen müssen. Aber damit, mit dieser Einberufung will ja Francois Hollande zeigen, dass das Land sich einheitlich zeigen will, und das ist natürlich sehr wichtig. Denn durch diese terroristische Barbarei sollen wir unsere Einheit verteidigen und gleichzeitig natürlich auch unseren demokratischen Werte. Es ist auch klar, glaube ich, jetzt, dass wir mit einem solchen Attentat jetzt vor einer sehr großen Herausforderung stehen, wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, und die müssen wir annehmen.
    Heinemann: Herr Ménudier, wie sollten die muslimischen Verbände in Frankreich jetzt reagieren?
    Ménudier: Ich nehme an, dass diese Verbände sich distanzieren werden, wie sie das gemacht haben im Januar, als es das Attentat gegen "Charlie Hebdo" gegeben hat, also bei den anderen Attentaten auch ein paar Tage später. Damals sind im Januar 17 Menschen gestorben und dazu kommen noch die Terroristen. Aber ich hoffe, wir müssen natürlich einen Unterschied machen zwischen Islamisten, zwischen den muslimischen Organisationen und den Islamisten, den radikalen Islamisten. Und ich hoffe, dass wir den Fehler nicht machen werden, dass wir sagen werden, jetzt sind alle muslimischen Menschen in Frankreich schuld. Aber es gibt natürlich schon die Gefahr, dass es zu solchen Übertreibungen kommt, vor allem auch, weil wir ja in einer Wahlkampfzeit sind, Anfang Dezember wird gewählt, am 6. und 13. Dezember haben wir Regionalwahlen. Und das Thema Europa, das Thema Migranten, Sicherheit wird eine sehr große Rolle spielen. Die zwei großen Themen, die Frankreich beschäftigen, sind einmal die Arbeitslosigkeit und zweitens das Problem der Sicherheit, das Problem indirekt auch der Migranten. Und viele Franzosen denken, dass wir dieses Problem der Migranten jetzt gerade haben, weil wir diese Kriege im Nahen Osten haben.
    Heinemann: Der Politikwissenschaftler Professor Henri Ménudier, danke schön nach Paris!
    Ménudier: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.