Freitag, 17. Mai 2024

Archiv

Terrorismus in Deutschland
"Unsere Polizisten sind überlastet"

Bislang gibt es in Deutschland keine konkreten Terrorwarnungen - auszuschließen ist ein Anschlag jedoch nicht. Man dürfe sich jetzt nicht zurücklehnen, sagte der SPD-Politiker Dieter Wiefelspütz im Deutschlandfunk. Man sei in Deutschland noch nicht optimal aufgestellt und habe zu wenig Polizei. Die brauche man aber, um den Herausforderungen im digitalen Zeitalter gewachsen zu sein.

Dieter Wiefelspütz im Gespräch im mit Thielko Grieß | 26.03.2016
    Der SPD-Politiker Dieter Wiefelspütz
    "Die Welt ist in mancherlei Hinsicht gefährlicher geworden", sagte der SPD-Politiker Dieter Wiefelspütz im Interview mit dem Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Thielko Grieß: Jetzt begrüße ich am Telefon Dieter Wiefelspütz von der SPD, früher Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag und bis 2013 Abgeordneter in eben diesem Parlament. Herr Wiefelspütz, guten Tag!
    Dieter Wiefelspütz: Guten Tag, Herr Grieß!
    Grieß: Habe ich richtig gezählt? Sie waren 26 Jahre lang Abgeordneter?
    Wiefelspütz: Na, 26 und ein halbes Jahr.
    "Mit Terrorismus werden wir auch noch eine Reihe von Jahren leben müssen"
    Grieß: Oh, das wollen wir nicht unterschlagen. Ist denn in dieser Zeit oder dieser Zeit, die Sie überblicken, ist die Bundesrepublik Deutschland jemals so terrorgefährdet gewesen wie heute?
    Wiefelspütz: Wir haben jetzt seit Jahren eine Bedrohung durch Terrorismus. Die ist auch nicht geringer geworden. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, und mit Terrorismus werden wir, fürchte ich, auch noch eine Reihe von Jahren leben müssen. Ich glaube eher, dass die Welt in mancherlei Hinsicht gefährlicher geworden ist, ja.
    Grieß: Die Welt?
    Wiefelspütz: Insgesamt. Wir rücken ja alle miteinander zusammen, haben dadurch viele Vorteile durch Globalisierung, aber eben halt auch einige Nachteile.
    Grieß: Also Sie würden schon sagen, das hat jetzt eine Dimension, mit der Sie in den sechsundzwanzigeinhalb Jahren als Abgeordneter noch nicht zu tun hatten?
    Wiefelspütz: Am Anfang sicherlich nicht, wobei ich auch nicht unterschätzen will – denken Sie an die RAF-Zeit in den 70er-Jahren, das war auch keine Kleinigkeit.
    Grieß: Das waren aber keine islamistischen Terrorzellen, die Verbindungen bis in den Nahen Osten hatten.
    Wiefelspütz: Das ist richtig.
    "Ich glaube nicht, dass wir nur Glück gehabt haben"
    Grieß: Na, obwohl, zu den Palästinensern vielleicht, aber ansonsten war das eine andere Dimension. Würden Sie sagen, dass die Tatsache, dass in Deutschland noch nichts passiert ist, jedenfalls nicht sehr viel, dass das ein Beleg dafür ist, dass die Sicherheitsbehörden gut arbeiten?
    Wiefelspütz: Insgesamt ja. Ich glaube nicht, dass wir nur Glück gehabt haben. Glück auch, aber ich glaube schon, dass wir insgesamt gesehen in Deutschland in einem Land leben, das relativ gut regiert wird und das auch gut aufgestellt wird. Aber wir haben auch in den letzten Monaten immer wieder festgestellt – denken Sie beispielsweise mal an die Silvesternacht von Köln –, dass wir uns nicht einfach zurücklehnen können, und dass es durchaus an der einen oder anderen Stelle Sorgen gibt. Beispielsweise haben wir, simpel gesprochen, zu wenig Polizei in Deutschland. Wir sollten und werden in den kommenden Jahren mehr Polizeibeamtinnen und -beamte einstellen und ausbilden müssen und werden auch an der einen oder anderen weiteren Schraube drehen müssen, denken Sie bitte an die Vorratsdatenspeicherung, die kürzlich eingeführt worden ist.
    Grieß: Da ist ja schon dran gedreht worden.
    Wiefelspütz: Ja, das wird aber auch in Zukunft nötig sein. Die Herausforderungen sind neuartig, wir leben im digitalen Zeitalter – haben wir eine digitale Sicherheitsstruktur, haben wir angemessenen Austausch zwischen den Polizeibehörden, haben wir das alles rechtsstaatlich sauber geklärt? Da gibt es eine ganze Reihe von Baustellen, die wir dauernd zu bearbeiten haben. Und weil die Sicherheitsherausforderungen heute international sind, ist auch das große Thema internationale Zusammenarbeit, in Europa zumindest, aber auch über den Atlantik hinweg zwingend notwendig, und da können wir viel, viel besser werden. Also, Glück auf der einen Seite, aber andererseits sicherlich auch gute Leistungen unserer Sicherheitsbehörden, Polizei und Nachrichtendiensten insgesamt gesehen. Aber zu sagen, wir seien optimal aufgestellt in Deutschland, halte ich für vermessen und für völlig überzogen.
    "Bis ein Polizeibeamter tüchtig arbeiten kann, braucht es vier, fünf Jahre"
    Grieß: Und wenn Sie das, Herr Wiefelspütz, im Nachgang nun so betrachten, die Jahre, die auch Sie ja überblicken, ein gutes Vierteljahrhundert eben als aktiver Bundestagsabgeordneter, würden Sie heute mit den Zähnen knirschen und sagen, wir haben zu viel an Polizei- und Sicherheitsdiensten gespart?
    Wiefelspütz: So weit würde ich nicht gehen wollen. Wir sind eigentlich, glaube ich, insgesamt ganz ordentlich aufgestellt. Wir haben eine, finde ich, sehr rechtsstaatliche, effektiv arbeitende, übrigens auch sehr freundliche Polizei in Deutschland, das ist ja auch nicht ganz unwichtig. Wir haben also eine richtig gute, demokratische, rechtsstaatliche Polizeikultur in Deutschland auf diesem Sektor. Das ist eine große Errungenschaft, das gilt für den Bund, es gilt für die Länder. Das sind alles qualifizierte Leute, die in diesen Bereichen arbeiten. Wir haben an vielen Stellen auch Zusätzliches aufgebaut, an anderer Stelle aber auch Personal eingespart. Unsere Polizisten sind überlastet auf der Ebene des Bundes und der Länder, und das kann man und muss man und wird man ändern in den kommenden Jahren. Allerdings geht es nicht von heute auf morgen, weil bis ein Polizeibeamter tüchtig arbeiten kann, braucht es locker vier, fünf Jahre an Ausbildung und praktischer beruflicher Erfahrung.
    Grieß: Eben. Und in der Zwischenzeit müssen wir hoffen, dass sich mögliche Attentäter erwischen lassen.
    "Verbrechensbekämpfung in Europa kann nur rechtsstaatlich funktionieren"
    Wiefelspütz: Na ja, so dramatisch ist das nicht, Herr Grieß. Ich denke, es wird schon engagiert an vielen Stellen in Deutschland gearbeitet. Aber wir müssen mehr tun. Und ich will noch mal sehr deutlich sagen, wir leben in einer offenen, freien Gesellschaft, die war in Deutschland noch nie so frei wie heute. Das geht aber nur – und das ist kein Gegensatz –, wenn es einen starken Staat zum Beispiel im Sicherheitsbereich gibt. Das sind Dinge, die keine Gegensätze sind, sondern die müssen zusammengeführt werden und müssen zusammen gesehen werden. Auch Datenschutz und Terrorismusbekämpfung ist kein Gegensatz. Das sind doch alles idiotische Debatten an dieser Stelle. Sondern Verbrechensbekämpfung in Europa kann nur rechtsstaatlich funktionieren. Das ist aber kein Gegensatz, es muss dann nicht etwa an der Effektivität fehlen. Es geht darum, dass wir uns hierfür besser vernetzen, viel besser austauschen. Das Ganze muss rechtsstaatlich gesichert sein, und dann wird man diesen Problemen auch Herr. Das Schlimmste wäre, wenn wir uns sozusagen das Gesetz des Handelns von Terroristen aufdrücken ließen, unsere Gesellschaft zum Nachteil verändern würden. Das wäre ganz fatal, ist aber auch überhaupt nicht notwendig, ich sage es noch einmal. Diese Gesellschaft kann und wird frei sein und offen sein können und effektiv Terrorismus bekämpfen können.
    Grieß: Sie plädieren also für mehr Personal und mehr Vernetzung. Wenn wir nach Belgien schauen – Sicherheitsfachleute in Belgien sagen, die belgischen Sicherheitsdienste, Geheimdienste, haben etwa tausend Leute, tausend Angestellte, und ungefähr genauso viele Islamisten müssen sie beobachten. Da kann man sich vorstellen, dass das nicht gutgeht, und dabei geht es ja nur um Islamisten. Es gibt ja noch andere Richtungen, aus denen Gefährdungen kommen können. Ist Belgien möglicherweise ein Land, bei dem wir feststellen müssen, es ist zu klein für den internationalen Terrorismus?
    "Gesellschaften lernen manchmal nur durch Schock und Katastrophe"
    Wiefelspütz: Ich tue mich schwer, Herr Grieß, mit Fingern auf andere zu zeigen. Das ist auch, wie ich finde, ein bisschen zu billig. Es kann aber durchaus sein –
    Grieß: Aber Kleinsein ist ja kein Fehler, vor allem kein selbstverschuldeter.
    Wiefelspütz: Ja. Es gibt ja eine Debatte, die Fehler festmacht in Belgien. Ich glaube, dass das zu kurz gesprungen ist. Es ist leider so, Herr Grieß, lassen Sie mich das mal etwas platt und allgemein sagen, dass Gesellschaften manchmal auch nur durch Schock und Katastrophe lernen. Ich bin mir sehr sicher, dass die Vorgänge in Brüssel jetzt endlich dazu führen, in Belgien und an anderen Stellen, auch in Deutschland und in anderen Staaten der Europäischen Union, dass man sich endlich zusammenrauft und viel intensiver zusammenwirkt. Internationalen Terrorismus national zu bekämpfen alleine, ist völlig hilflos und ergebnislos. Es geht nur international. Und deswegen müssen wir mehr zusammenrücken, uns vernetzen, zusammenarbeiten, Informationsaustausch – das sind wichtige Elemente, um mit diesen Herausforderungen besser klarzukommen.
    Grieß: Dieter Wiefelspütz, früher Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag, inzwischen ehemaliger Abgeordneter. Herr Wiefelspütz, Danke für das Gespräch heute Mittag!
    Wiefelspütz: Herr Grieß, Danke!
    Grieß: Und Ihnen ein schönes Osterwochenende.
    Wiefelspütz: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.