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Tessin
Als Alpaka-Züchter im Bleniotal

Vreni und Felix Kohler leben seit 1990 im Tessin, in der Südschweiz. Zu Beginn war es für die beiden Stadtmenschen aus Zürich nicht leicht als Landwirte. Ihre Nachbarn begegneten den Neuankömmlingen zunächst mit einer Mischung aus Misstrauen und Spott - auch, weil sie die ersten waren, die Alpakas hielten.

Von Andreas Stopp | 07.02.2016
    Der Lago Maggiore im Tessin
    Zunächst waren die Alpakazüchter für ihre Nachbarn Fremde. (dpa - picture alliance / Thomas Muncke)
    Grigio möchte schmusen. Wir beide sind bereits sehr vertraut miteinander, denn wir tragen dasselbe Fell. Grigio hat ein sanftes, einnehmendes Wesen, schöne große braune Augen, einen geradezu sinnlichen Wimpernschlag, und - ich sollte auch das erwähnen - zwei riesige Frontzähne im Unterkiefer und Unterbiss. Grigio ist ein Alpaka, und mein Pullover ist aus seiner Wolle gestrickt.
    "Da waren mal zwei, drei - ein Bruder von ihm und dann ein Schwiegersohn und noch jemand, und die haben gesagt: Du, bei uns in der Deutschschweiz ist das jetzt aktuell, möchtet Ihr nicht auch? Und da ich ja ein Spinnrad hatte und schon das Spinnen beherrschte, haben wir gedacht: warum eigentlich nicht? Wir waren eigentlich die ersten, die Alpakas hatten hier, und inzwischen hat es über 100 im Tessin."
    Vreni und Felix Kohler leben seit 1990 im Tessin, in der Südschweiz. Felix ist Mitte 60, einige Jahre jünger als Vreni. Es war den beiden Deutschschweizern, Stadtmenschen aus dem Tösstal im Osten von Zürich, nicht vorbestimmt, Viehzüchter im Bleniotal zu werden. Hier ist Schwyzerdütsch nicht Muttersprache, bestenfalls erste Fremdsprache. Ihre Nachbarn, Landwirte wie sie, sprechen italienisch, und begegneten den idealistischen und tierlieben Neuankömmlingen zunächst mit einer irritierten und irritierenden Mischung aus Vorsicht, leichtem Mißtrauen und etwas Spott.
    "Wir waren ja fremde Leute, nicht, das ist wie auch in Deutschland. Da kommen die Emigranten und die Flüchtlinge, und die einen sagen: "Jawohl, kommt!" Und die anderen sind sehr skeptisch: "Nein, wir brauchen keine Ausländer hier." Früher waren wir Ausländer, und jetzt haben wir die Spreu vom Weizen getrennt und haben viele Freunde hier. Was hatten denn die anderen Bauern gegen die Alpakas? Also ich weiß nicht, vielleicht böse gesagt: Das kann man ja nicht essen."
    Es käme den Kohlers nicht in den Sinn, Alpakas zu schlachten, Freunde isst man eben nicht. In der Tat: Alpakas sind neugierig, sozial, sauber, sanftmütig und launenfrei, als Jedermanns Haustier unhandlich, aber als Tiertherapeuten sicherlich unschlagbar. Als ich einmal ein ein Tage altes Jungtier auf den Arm nehme, stupst mich das Muttertier zärtlich an, nicht etwa besorgt, sondern eher neugierig.
    Vreni sitzt im Wohnzimmer des Rusticos am Spinnrad. Sie spinnt Alpaka- Wolle aus eigener Schur, ca. 70 Kilo pro Jahr, und verkauft sie an Liebhaber. Alpakarohwolle besitzt wenig Wollfett. Folge: Bakterien auf der Oberfläche können sich nicht vermehren und sterben ab. Und – die Haarfaser ist hohl, und so isoliert Alpakawolle im Winter besser vor der Kälte und im Sommer besser vor der Hitze. – Aber von Zeit zu Zeit strickt Vreni eben auch Pullover, und so den für mich aus der Wolle von Grigio.
    "Wir haben sie wirklich für die Wolle. Und das hat sich dann herumgesprochen. Wir haben die Kartmaschine noch und machen alles von Grund auf selber."
    Felix und ich gehen auf die Terrasse und hinunter zu den Schafen.
    Wallfahrtsort für Kirchenhistoriker
    Es ist ein kalter sonniger Wintermorgen. Das Bleniotal ist weit und licht. Wie viele andere Täler - Vercasca, Maggia, Centovalli - gehört das Bleniotal im Nordosten des Kantons zu den stilleren Schönheiten des Tessin, anders als die populären Lago Maggiore oder Luganer See. Der Bauernhof von Vreni und Felix liegt in Morgensonnenlage am Hang, weit über den meisten anderen Agrarbetrieben der Gemeinde Acquarossa, und unterhalb der romanischen Kirche San Carlo de Negrentino, einem Wallfahrtsort für Kirchenhistoriker, geschmückt mit dem Urner Stier, Machtzeichen von Uri. Das war einmal, heute ist es Tessin.
    Die Wallfahrer ziehen jedoch an Vreni und Felix vorbei, und die beiden sind froh darüber. Sie lieben die Stille. Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass die beiden aus ihren früheren Leben im Kanton Zürich ausgebrochen sind, und es wird nicht leicht gewesen sein. Sie haben sechs Kinder aus früheren Ehen, sie hatten beide in kaufmännischen Berufen gearbeitet. Vielleicht war es die Amour fou eines schon damals nicht mehr ganz jungen Paares. Der Entschluss, zukünftig gemeinsam als Landwirte, als Viehzüchter zu arbeiten, wurde zu einer unwiderruflichen Entscheidung, einer Verpflichtung für den Rest des Lebens. Ist es das Leben, das sie sich gewünscht haben?
    "Eigentlich schon, doch, mit den Tieren, und irgendwie die Freiheit. Man kann die Zeit einteilen, in der Regel. Also, wenn man mal einen Tag nicht mag, dann kann man sagen, naja, dann mach ich das morgen. Da ist kein Chef da, der sagt: "Du, heute Abend muss es fertig sein." Aber im Grunde sind es die Gegebenheiten, die euch zwingen, jeden Tag etwas zu machen? Ja, aber das ist eher zu akzeptieren, finde ich, wie jemand, der sagt, heute Abend muss das fertig sein."
    Vegetarier sind die Kohlers nicht. Sie bringen auch ihre Schafe zum Schlachten - aber sie betonen, dass diese ein wenn auch kurzes, aber doch schönes Leben führen, und die Trennung von ihnen fällt ihnen auch heute noch, nach 25 Jahren, schwer.
    "Wir könnten es einfacher machen. Wir könnten die verladen in den Schlachthof. Das haben wir einmal (gemacht), denn wir wollten ja wissen wie das ist. Dann sind Sie da eingepfercht – Schafe, Schweine, Kühe, Esel, Pferde, und wir müssen warten, und die riechen doch das."
    Felix begleitet seine Schafe regelmäßig auf ihrem letzten Gang.
    "Wir haben einen Metzger in Malvaglia. Und dann geht er mit Fünfen, eins zum anderen geht er rein zum Metzger. Das ist voll Vertrauen dort, und dann wird geschossen. Und das merkt nichts."
    16 Hektar müssen bewirtschaftet werden, Alpakas und Schafe wollen täglich versorgt werden. Die Bedürfnisse der Tiere diktieren den Alltag, den Tages- und Jahresrhythmus - die ewige Wiederkehr von Versorgung und Reinhaltung, von Geburt und auch Tod.
    Wiederkehr von Geburt und Tod
    Eine Flucht aus dem Alltag?
    "Das Problem ist, dass wir zu keinem Ende mehr kommen im Moment. Wir müssen weiterarbeiten, und wir müssen sehen, die wir uns die Freiheit rausnehmen. Aber manchmal kommt doch eine Tochter von mir oder eine Tochter von Vreni mit ihrer Familie, dann können wir 3,4 Tage zur Kur oder ins Thermalbad."
    Nach Andeer, ins benachbarte Graubünden, eineinhalb Stunden entfernt.
    Vreni und Felix sind sehr verschieden. Felix ist lebhaft, aktiv, Vreni in sich ruhend. Wie funktioniert das Zusammenleben so unterschiedlicher Temperamente, zumal dann, wenn es kein Ausweichen voreinander gibt, zum Beispiel im Winter, wenn der Hof eingeschneit und von der Umwelt abgeschnitten ist?
    "Ich sage immer, das ist die Zeit, da bin ich bei mir. Da kann ich im Spinnrad sitzen, spinnen, Musik hören und meinen Gedanken nachhängen und den Stress im Sommer ein wenig verarbeiten. Ich freue mich eigentlich immer, wenn diese Zeit kommt."
    Finanziell müssen sich Vreni und Felix keine Sorgen machen. Die AHV, die schweizerische Altersversorgung, bereitet ein komfortables Bett. Aber es wird die Zeit kommen, da die Arbeit schwerer wird, vielleicht zu schwer. Denken die Beiden schon über einen Abschied vom Bleniotal nach?
    "Wir haben keine Pläne geschmiedet. Wir nehmen, wie es kommt. Und wenn du Pläne machst: Es kommt meistens anders denkt als du denkst."