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Texte der Erinnerung

In den Texten, die in dem Band "Augenblicke des Daseins" neu übersetzt und veröffentlicht werden, schreibt Virginia Woolf so offen wie sonst nirgendwo über ihre innersten Empfindungen. Ob Selbstzweifel, die Angst vor dem Wahnsinn oder die sexuelle Ausbeutung durch ihre beiden Halbbrüder - alles kommt offen und reflektiert zur Sprache.

Von Angela Gutzeit | 15.07.2012
    Um zu fühlen, wie die Gegenwart über die Tiefen der Vergangenheit gleitet, brauche man inneren Frieden, notierte Virginia Woolf am 19. Juli 1939. Und fährt fort:

    ".. ich schreibe dies hier teils, um mein Gefühl für die Gegenwart wiederzufinden, indem ich die Vergangenheit dazu bringe, einen Schatten über diese aufgebrochene Oberfläche zu werfen. Lasst mich also wie ein Kind, das barfuß in einen kalten Fluss watet, wieder in dieses Wasser eintauchen."

    Als Virginia Woolf diese Zeilen schrieb, konnte von Frieden kaum noch die Rede sein. Nazideutschland rüstete auf und ein neuer Krieg zeichnete sich ab. Kaum ein Jahr später flogen deutsche Bomber mit ihrer tödlichen Fracht jede Nacht nach England. Und um den inneren Frieden war es in Virginia Woolfs Leben nie gut bestellt. Umso erstaunlicher, mit welcher Konzentration und Virtuosität sie in ihren letzten Lebensmonaten, bedrängt von einer näher rückenden Front, mit ihrem Text "Skizze der Vergangenheit" noch einmal hinabtaucht in das tiefe Wasser der Erinnerung, in die Zeit der Kindheit im Kreis einer einst großen Familie.

    "Skizze der Vergangenheit" bildet den dritten Teil des Bandes "Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen". Den ersten Teil, "Reminiszenzen", verfasste die britische Autorin bereits 1907. Da war sie erst 25 Jahre alt. Der Mittelteil umfasst drei Vorträge, die Virginia Woolf zwischen 1920 und 1936 vor dem "Memoir Club" hielt, einer Neuformierung des legendären Intellektuellen-Zirkels "Bloomsbury". Eine Veröffentlichung dieser Texte hatte Woolf offensichtlich nicht geplant, denn es liegt keine Druckfassung vor. Für die heutigen Leser ist das ein absoluter Glücksfall! Denn nirgendwo - darauf weist der Herausgeber Klaus Reichert in seinem Vorwort hin - weder in ihren ca. 4000 Briefen noch in den fünf dicken Tagebuchbänden hat Virginia Woolf sich auch nur annähernd so offen über das geäußert, was sie im Innersten bewegte: Selbstzweifel, die Angst vor dem Wahnsinn, die sexuelle Ausbeutung durch ihre beiden Halbbrüder, überhaupt das Thema Sexualität und speziell in homosexueller Form im Bloomsbury-Kreis. Dann die vielen Toten in ihrer Familie und die Folgen für ihr Leben. Diese so diskrete und jedes Wort abwägende Autorin hätte vor einer Veröffentlichung diese Texte sicherlich noch etliche Male umgeschrieben und damit wahrscheinlich den Blick in ihr Innerstes wieder verstellt. Nirgendwo sonst wird die enge Verwobenheit von Virginia Woolfs Leben mit ihrem literarischen Schaffen so deutlich wie in diesen Texten der Erinnerung. Und nirgendwo sonst hat sie so offen und intensiv über das Glück und das Unglück in ihrer Familie geschrieben - über das Sommerglück der endlosen Kindheitstage am Meer in St. Ives und über die Dunkelheit nach dem Verlust von Mutter und Schwester.

    "Ich denke nicht an Mutter und Stella; ich denke an den Schaden, den ihr Tod anrichtete (...) Wenn derartige Verstümmelungen etwas Gutes haben (was ich bezweifle), dann, dass sie einen empfindsamer machen. (...) Aber war es gut? Wäre es nicht besser gewesen (...) auch weiterhin, wie in St. Ives das Brausen und Tosen des Familienlebens zu fühlen? Von der Familie umgeben zu sein; allein auf Erkundungen und Abenteuer zu gehen, während all die Zeit die Familie als Ganzes ihren prosaischen, holprigen Weg fortsetzte; wäre das nicht besser gewesen, als diesen Schutz zu verlieren; aus der Zuflucht der Familie herausgeschleudert zu werden; sie aufgebrochen und aufgeschlitzt zu sehen; und der Familie gegenüber kritisch und skeptisch zu werden - ? (...) Und so lernte ich, die Familie als etwas extrem Reales zu sehen."

    Die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit geschah an einem sonnigen Maitag des Jahres 1895: Julia Stephen, die über alles geliebte Mutter, starb mit 49 Jahren. Da war Virginia Woolf 13 Jahre alt. Sieben Kinder hatte Julia Stephen in zwei Ehen zur Welt gebracht. Sie opferte sich für die Familie auf und ordnete sich dem selbstsüchtigen zweiten Ehemann Leslie Stephen unter. Sie kam ihren gesellschaftlichen Pflichten in den höheren Kreisen der spätviktorianischen Gesellschaft nach, sah aber ihre Berufung in der Hilfe für Arme und Kranke. Ein rastloses Frauenleben, noch ganz eingespannt in den engen sittlichen Rahmen des 19. Jahrhunderts, ein Leben, das trotz seiner menschlichen Größe keine materiellen und intellektuellen Spuren hinterließ.

    "Sie hatte nie einen Raum oder Zeit für sich",

    schreibt Virginia Woolf über ihre Mutter in "Skizze der Vergangenheit". Zu diesem Zeitpunkt hatte Woolf schon alle ihre großen Werke geschrieben - auch den berühmten Essay "A Room of One‘s Own"/"Ein Zimmer für sich allein" von 1929, der zum Schlüsseltext der Frauenbewegung werden sollte.

    "Frauen haben seit Millionen Jahren in geschlossenen Räumen gesessen, sodass inzwischen sogar die Wände durchdrungen sind von ihrer Schaffenskraft",

    heißt es in diesem Essay, dessen untergründige Empörung, formuliert auf hohem intellektuellem Niveau sicherlich im Kern auf das Schicksal der Mutter zurückzuführen ist.

    Nur zwei Jahre später, 1897, stirbt ihre Schwester Stella, die gerade geheiratet hatte. Diese beiden Toten stehen im Mittelpunkt ihres frühen Textes "Reminiszenzen", der in Briefform verfasst, sich an das ungeborene Kind der Schwester Vanessa richtet, und bereits die tiefen Erschütterungen markiert, die wegweisend für Virginia Woolfs Werk werden sollten. Ein Lebensrückblick mit 25 Jahren - das ist eher ungewöhnlich. Aber die Familie ist 1907, im Entstehungsjahr des Textes, endgültig zerrissen. Wohl um der "orientalischen Schwermut", wie sie schreibt, zu entrinnen, versucht hier die angehende Autorin, Muster dieser verlorenen, gemeinsamen Zeit zu erkennen und die Menschen, die sie prägten, in kleinen Charakterstudien zu fassen. Wortlos ist sie aber noch angesichts der weiteren Verluste, für die sie erst in ihrem späten Erinnerungstext eine hoch reflektierte und gleichzeitig tief anrührende Sprache gefunden haben wird: 1904, zwei Jahre nach Stellas Tod, stirbt der Vater; 1906 der geliebte Bruder Thoby, der die "Thursday Evenings", die Urzelle des "Bloomsbury-Kreises mit Cambridger Studienfreunden organisiert hatte. Ein Jahr später heiratet Vanessa, die ihr am nächsten stehende Schwester, das Bloomsbury-Mitglied Clive Bell. Das letzte stützende Familienmitglied war ausgezogen.

    In diesem frühen Text enthalten ist bereits die scharfe Kritik an der männlichen Anmaßung, über das Leben von Frauen zu verfügen, wie Virginia Woolf es in ihrer Familie erlebte. Hier - wie auch in ihrem ersten Vortrag im Memoir-Club 1920 - entwirft sie ein düsteres Portrait ihres Halbbruders George. Nach dem Tod der Mutter quälte George seine Schwestern mit seinem Führungsanspruch in der Familie und missbrauchte seine Schwester Virginia zu der Zeit, als eine Etage tiefer der Vater seinem Krebstod entgegen dämmerte. George, nichts weiter als ein einfältiger Rohling, schreibt sie, "abnorm dumm" und mit "einem Übermaß an animalischer Energie ausgestattet". Und den Vater beschuldigt sie nach dem Tod seiner Frau der emotionalen Ausbeutung und Gängelung seiner Tochter Stella. Als auch sie stirbt, nahm er, so schildert es Virginia Woolf, in rücksichtsloser Weise seine Tochter Vanessa in die Pflicht.

    "... und schon gab es erste Anzeichen, die uns in eine Art Raserei versetzten, dass er entschlossen war, Vanessa zu seinem nächsten Opfer zu machen. Wenn er traurig war, erklärte er, auch sie habe traurig zu sein; wenn er zornig war, was in regelmäßigen Abständen der Fall war, wenn sie ihn um einen Scheck bat, sollte sie weinen; stattdessen stand sie vor ihm wie ein Stein. (...) Wir machten ihn zum Inbegriff all dessen, was wir im Leben hassten; er war ein Tyrann von unvorstellbarer Selbstsucht, der die Schönheit der Toten durch Hässlichkeit und Trübsal ersetzt hatte."

    Leslie Stephen war ein bedeutender Historiker, Literat und Kulturphilosoph. In seinem Londoner Haus Hyde Park Gate 22 gaben sich die gesellschaftlichen Größen - Politiker, Wissenschaftler, Poeten - der spätviktorianischen Ära die Klinke in die Hand. Trotz der vernichtenden Zeilen über diesen Mann als Vater - Virginia Woolf hat ihm auch Respekt gezollt, sich an ihm abgearbeitet. In ihrem wunderbaren Roman "To the Lighthouse"/"Zum Leuchtturm", den ihr Mann Leonard Woolf zu Recht wegen seiner kunstvollen Komposition als "philosophisches Gedicht" bezeichnete, hat sie Leslie Stephens schwierigen Charakter und sein Verhältnis zur Familie verarbeitet. Aber wie in ihrem gesamten Werk, so steht auch in diesem 1927 erschienenen Familienroman nicht die männliche Existenz im Mittelpunkt, sondern die weibliche. Mit der Figur der charakterstarken Mrs. Ramsey, hat sie in diesem Buch der über alles geliebten Mutter ein Denkmal gesetzt.

    Die fünf in diesem Band enthaltenen Texte aus dem Nachlass Virginia Woolfs erschienen das erste Mal 1976 unter dem Titel "Moments of Being" in der Bearbeitung von Jeanne Schulkind. Die erste deutsche Ausgabe kam 1984 in der Übersetzung von Elizabeth Gilbert als Fischer Taschenbuch heraus. Und nun liegen diese Erinnerungsschriften in der Neubearbeitung von Klaus Reichert und der Neuübersetzung von Brigitte Walitzek als ein weiterer Band der Werkausgabe vor. Die Übersetzung besticht durch eine präzise und einfühlsame Annäherung an den Woolfschen Duktus und seine oft komplizierten Satzkonstruktionen. Und der Herausgeber Klaus Reichert hat die Texte durch Tagebucheintragungen Woolfs ergänzt, die Anmerkungen zum Verständnis der Schriften erheblich erweitert und durch ein informatives Vorwort bereichert. Ein absoluter Gewinn! Viel deutlicher als zuvor treten dadurch im Spiegel dieser Selbstzeugnisse die intellektuelle Entwicklung der Autorin hervor, ihr ästhetisches Konzept, das maßgeblich zur Modernisierung des Romanschaffens im 20. Jahrhundert beitrug, sowie ihr genauer Blick auf den Epochenwandel in der britischen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts.

    Schrittweise löste sich Virginia Woolf nach dem Tod der Mutter aus ihrer traumatischen Befangenheit, aber auch aus der alten Welt ihrer Herkunft mit ihren erstarrten sozialen Regeln, ihrer Prüderie und lähmenden Konversation. In den drei Vorträgen vor dem Memoir Club, gehalten 1920, 1922 und 1936, blickt sie zurück auf die für sie als Frau und als Schriftstellerin so wichtigen "Donnerstagabendgesellschaften". So die Bezeichnung für den ersten Bloomsbury-Zirkel, der zwischen 1904 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges eine völlig neue Kultur des intellektuelles Austausches einführte. Der zunächst überwiegend aus Thoby Stevens Cambridge-Kommilitonen bestehende Kreis diskutierte über Sexualität in all ihren Spielarten, über Kunst und Politik, sie stritten um die besten Argumente und waren, wie Virginia Woolf schreibt, "voll der Experimente und Reformen". Der Abstand zum Gesellschaftskreis der Eltern hätte nicht größer sein können.

    "Diese Donnerstagabendgesellschaften waren, so weit es mich betrifft, der Keim, dem alles entsprang, was seitdem - in Zeitungen, in Romanen, in Deutschland, in Frankreich - sogar, wage ich zu behaupten, in der Türkei und in Timbuktu -, mit dem Namen Bloomsbury bezeichnet wird. Sie verdienen es, festgehalten und beschrieben zu werden." (...)
    "In der Welt der Booths und Maxses wurde nicht oft von uns verlangt, dass wir unseren Verstand gebrauchten. Hier brauchten wir nichts anderes. (....) Die ganze gewaltige Last der äußeren Erscheinung und des Benehmens, die George unseren ersten Jahren aufgebürdet hatte, verschwand vollständig."


    14 Jahre später, mit dem dritten Vortrag vor dem Memoir-Club, tritt die reife Schriftstellerin hervor, die sich selbst zum Thema ihrer Reflexionen macht. Ironisch betrachtet sie ihre "Snob-Psyche" und ihre seltsame Faszination für den Adel. Erstaunlich, wie präzise die Schriftstellerin ihre Stellung zwischen den Epochen, zwischen - wie sie notiert - viktorianischer und edwardianischer Kultur, zwischen Stagnation und Aufbruch in die Moderne nach dem Ersten Weltkrieg erkennt. Hinter dieser Erkundung der eigenen Person steckt aber auch ihr von Sigmund Freud inspiriertes Interesse an den Mustern und der Komplexität der menschlichen Persönlichkeit. Immer wieder hatte sie Nervenzusammenbrüche erlebt, im Traum sah sie im Spiegel ein anderes Gesicht neben ihrem eigenen und im realen Leben versuchte sie sich mehrmals selbst zu töten. Diese Abstürze ins Bodenlose hat Virginia Woolf in diesen Texten nicht direkt thematisiert. Darüber informiert der Herausgeber Klaus Reichert in seinen Erläuterungen. Im dritten Teil des Buches jedoch, in der 1939/40 tagebuchartig verfassten "Skizze der Vergangenheit", schreibt Woolf über ihre Schockerfahrungen und den Zusammenhang von Schock und Schreibimpuls. Auch wenn ihr Leben sich oft äußerst krisenhaft zuspitzte, so will sie doch als erfahrene Autorin in dieser psychischen Disposition und Empfindsamkeit den entscheidenden Schlüssel zum Schöpferischen sehen. Die Schocks als Zugang zu den Worten, zu einer Wahrheit hinter den Banalitäten des Alltags.

    "(...) obwohl ich immer noch die Eigentümlichkeit besitze, diese plötzlichen Schocks zu erhalten, sind sie inzwischen immer willkommen; nach der ersten Überraschung habe ich immer augenblicklich das Gefühl, dass sie besonders wertvoll sind, Und so fahre ich mit der Vermutung fort, dass es diese Schockempfänglichkeit ist, die mich zur Schriftstellerin macht. Ich wage die Erklärung, dass ein Schock in meinem Fall sofort von dem Wunsch gefolgt wird, ihn zu erklären. Ich habe das Gefühl, einen Schlag erhalten zu haben; aber anders, als ich als Kind dachte, nicht einfach nur einen Schlag von einem Feind, der sich hinter der Watte des täglichen Lebens versteckt; es ist eine Art Offenbarung, oder wird zu einer werden; es ist ein Zeichen für etwas Reales hinter dem Schein; und ich mache es real, indem ich es in Worte fasse. Erst indem ich die Erfahrung in Worte fasse, mache ich sie zu etwas Ganzem; diese Ganzheit bedeutet, dass sie die Macht verloren hat, mir wehzutun..."

    In der "Skizze der Vergangenheit", darauf weist Klaus Reichert hin, macht Virginia Woolf noch einmal ihre Kindheit, das Familienleben, die Persönlichkeit der Mutter und des Vaters, die wunderbaren Sommer in Cornwall, im Badeort St. Ives, zum Ausgangspunkt ihrer Erinnerungen. Also ganz ähnlich wie in den "Reminiszenzen", aber eben 33 Jahre später, und damit gereift und erweitert um die Erfahrungen mit den Höhen und Tiefen des Daseins und den Schwierigkeiten des Schreibens. Ihr Schreiben, so Woolf, sei dem "Dasein" und dem "Nicht-Sein" abgerungen, wobei Nicht-Sein im Alltag überwiege. Um Erinnerungen und das Wesen der zu erinnernden Menschen fassen zu können, müsse man in der Lage sein, beides darzustellen. Unter dem Motto "Ich jetzt, ich damals" denkt sie darüber nach, wie nicht nur das Äußere eines Leben erinnert werden könne, sondern vor allen Dingen seine "Instinkte, Zuneigungen, Leidenschaften, Bindungen". Sie steckt gerade mitten in einer Biografie über den befreundeten Maler und Kunstkritiker Roger Fry. Sie plagt sich damit, wie man mit der Feder Menschen zum Leben erwecken könne.

    "Wenn wir diese unsichtbaren Gegenwärtigkeiten nicht analysieren können, wissen wir sehr wenig über den Gegenstand der Erinnerung; und wie aussichtslos wird dann das Verfassen von Biographien. Ich sehe mich selbst als Fisch in einem Fluss; fortgetrieben; festgehalten; kann den Fluss aber nicht beschreiben."

    Sie spricht von Mustern hinter der Watte des Undeutlichen, die es zu erkunden, und von "Augenblicken des Seins", die es in kleinen Szenen von erinnerten Ereignissen und Örtlichkeiten festzuhalten gilt. Genau das hat Virginia Woolf in diesem großartigen Text am Ende ihres Lebens getan. Sie hat also sehr wohl - um im eben zitierten Bild zu bleiben - den Fluss, in dem sie fortgetrieben wird, beschrieben. Sie hat aber vor allen Dingen den aktuellen Fragen und Anforderungen ihrer Zeit in ihren großen Romanen eine Form gegeben. In experimentellen Erzählweisen spürte sie der weiblichen Existenz in ihren Wandlungen nach sowie dem Wesen der Erinnerung, des Zeitempfindens und der Intensität des Augenblicks. Die Urerfahrung des intensiven Augenblicks liegt für Virginia Woolf in der Kindheit begründet. Ihr Eintauchen in diese unverlierbare Erlebniswelt der Sommer in St. Ives gibt ihrem späten Erinnerungstext eine berührende Melancholie und dem, was sie mit "Verzückung" in der Kindheit meint, Farbe und Form.

    "(...)all die fischigen Gerüche in den steilen kleinen Straßen zu riechen; und die zahllosen Katzen mit Fischgerippen im Maul zu sehen; und die Frauen auf den Stufen vor ihren Häusern, wie sie Eimer mit Schmutzwasser in die Gosse kippten; jeden Tag eine große Schüssel mit Cornish Cream, von einer gelben Haut überzogener Sahne, zu haben; und reichlich braunen Zucker, für die Brombeeren... Ich könnte Seiten damit füllen, mich an eines nach dem anderen zu erinnern. Alles zusammen machte den Sommer in St Ives zum besten nur vorstellbaren Anfang des Lebens. Als sie Talland House mieteten, gaben Vater und Mutter uns - mir auf jeden Fall - etwas, was immerwährend war, unschätzbar."

    Am 8. Juni 1940 schreibt Virginia Woolf zu Beginn ihres Erinnerungstextes, dass die Kriegsfront immer näher rücke. Leonard Woolf ist Jude und eine eventuelle Besetzung Englands durch die Nazis eine nicht vorstellbare Katastrophe. Deshalb hätten sie und Leonard für diesen Fall beschlossen, Selbstmord zu begehen. Klaus Reichert ergänzt aus ihrem Tagebuch u. a. den Satz: "Wir in Konzentrationslagern oder nehmen Schlafmittel." Von ihren autobiografischen Aufzeichnungen lässt sie sich vorerst nicht abbringen. Aber irgendwann lässt die Kraft wohl nach. Und sie hat wieder die beängstigenden Stimmen gehört. Am 28. März 1941, nur wenige Monate nach Abschluss ihrer "Skizze der Vergangenheit", nimmt sich Virginia Woolf in den Fluten des Flusses Ouse das Leben.

    Wie bei allen anderen Bänden der Werkausgabe hat die Künstlerin Sarah Schumann auch das Umschlagbild dieses Bandes gestaltet. Es zeigt in sanften Farben eine Landschaft in der Ferne - vielleicht Sussex, ein Gewässer - vielleicht das Flüsschen Ouse und im Vordergrund eine Motte, die eben noch flatterte und nun reglos verharrt im Gitterwerk. - "Augenblicke des Daseins" - die autobiographischen Erinnerungen von Virginia Woolf ergeben ein in jeder Hinsicht vorzügliches Buch!

    Literaturhinweis:
    Virginia Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen. In der Neuübersetzung von Brigitte Walitzek. Herausgegeben von Klaus Reichert. S. Fischer Verlag. 253 Seiten. 26.- Euro.