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The Stradella Project: "Santa Pelagia"
Barocke Intensität und Leichtigkeit

Alessandro Stradella gilt den Italienern als ihr "Vater des Barock". Jetzt hat das Ensemble Mare Nostrum sein Oratorium ‚Santa Pelagia‘ erstmals in seiner ursprünglichen Form eingespielt. Die Aufnahme zeigt, wie viel herrliche Musik es in Stradellas Werk noch zu entdecken gibt.

Von Christiane Lehnigk | 04.06.2017
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    Stradella wirkte unter anderem in Rom - in Italien gilt er als "Vater" der italienischen Barockmusik (picture-alliance / dpa / Kevin Kurek)
    Das Oratorium ‚Santa Pelagia‘ von Alessandro Stradella (1639-1682) ist das 4. Oratorium des ambitionierten Stradella Projects, das Andrea De Carlo mit seinem Ensemble Mare Nostrum in einer eigenen Reihe herausgibt und das jetzt bei Arcana / Outhere Music als CD und zum Download erhältlich ist.
    Alessandro Stradella war nicht nur ein überaus kreativer Geiger, Sänger und Komponist, der ein immenses Werk hinterlassen hat, das eine Vielzahl an Simfoniae, Serenaden, Motetten, Madrigalen, weltlichen und geistlichen Kantaten, sowie Oratorien und Opern umfasst. Es war auch der Lebenswandel des von vielen adligen Mäzenen unterstützten Künstlers, der ihm einen glamourösen Ruf verschaffte - der ihm aber schließlich auch das Leben kosten sollte. Andrea De Carlo sieht in Stradella daher auch eine spirituelle Verwandtschaft zu dem großen bildenden Künstler Caravaggio.
    Arien, so kurz wie eine Twitter-Nachricht
    Bisher hat De Carlo schon die Oratorien ‚La Forza delle stelle‘, ‚San Giovanni Crisostomo‘ und ‚Santa Edita‘ aufgenommen. ‚Santa Pelagia‘ unterscheidet sich aber von diesen Werken und hat zudem auch eine Sonderstellung im gesamten Oeuvre von Stradella inne.
    Es ist ein religiöses Oratorium, setzt sich aus zwei Teilen zusammen und enthält ganze 27 sehr intensive Arien, komprimierte Miniaturgebilde, mit gewagten melodischen Intervallen und Rhythmen, originellen Phrasierungen und einer Vorliebe auch für langsame Tempi. Die kürzeste Arie ist hier gerade einmal 27 Sekunden lang und hat so gar nichts mit den ausschweifenden Da Capo-Arien des Hochbarock gemein. Im Zeitaltervon Twitter eine geradezu heute noch moderne Kunstform.
    Dies ist zwar nicht die Ersteinspielung des Werkes, aber die erste puristische Aufnahme mit vier Sängern und lediglich Basso Continuo-Besetzung.
    Ein "bereinigtes" Original
    Für diese Ausführung hat sich Andrea De Carlo nach einem ausgiebigen Quellenstudium entschieden und die später der Partitur hinzugefügten Streicherstimmen als nicht original geoutet und darauf verzichtet. Dadurch bekommt das Stück eine stringente Dramatik und beginnt nicht mit einer Ouvertüre, sondern lässt die Protagonistin direkt auftreten. Es ist Pelagia, die junge reizende Tänzerin am kaiserlichen Hof von Antiochia in Syrien, die ihr luxuriöses Leben in vollen Zügen genießt und ihre Jugendlichkeit feiert "Quel fiore labile del gioventù", so heißt es in einer späteren Arie:
    Musik: 1. Teil Arie "Quel fiore labile del gioventù"
    Die Sopranistin Roberta Mameli ist geradezu die Idealbesetzung der Pelagia in Stradellas Oratorium. Sie befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn und verkörpert die Wandlung von der Tänzerin am Hof in Syrien zur geläuterten christlichen Einsiedlerin eindringlich und mit einer solchen lntensität aber auch Leichtigkeit, dass man sich im 17. Jahrhundert und in der Gegenwart zugleich fühlt.
    Pelagia ist auch das Objekt der Rivalität zwischen dem bösen Engel Mondo(die "Welt"), der sie dazu drängt, das Leben weiterhin zu genießen, bevor das Alter ihre Schönheit vernichtet und seinem Widersacher, dem Bischoff Nonno (also "Onkel") von Edessa, der sie mithilfe des guten Engels Religione dazu animieren möchte, ihr Leben Gott zu weihen.
    Es gibt nur zwei Ensemble-Stücke im ganzen Oratorium, das folgende Duett von Mondo und Nonno sowie ein Chor im 2. Teil. "Empio no, nol crederò", "Grausamer, ich werde es nicht glauben, lass den doppelgesichtigen Gott zu den Waffen greifen".
    Musik: 1. Teil, Rezitativ und Duett "Tali del regno"
    Eine Heldin, die ihre ihre verführerischen Reize besingt Das waren der Bariton Sergio Foresti als Mondo und der Tenor Luca Cervoni als Nonno, beide souveräne Interpreten der historischen Aufführungspraxis, mit dem Duett aus dem 1. Teil von Alessandro Stradellas Oratorium.
    Das Oratorium ist weniger eine Lebensbeschreibung der Tänzerin Pelagia als eine Darstellung der inneren Konflikte der Protagonistin. Für Roberta Mameli machen diese Seelenqualen, das Zweifeln an sich selbst und die Darstellung der Möglichkeit, sein Leben zu verändern, den Reiz dieser allegorischen, moralischen Geschichte aus. Hier hören wir sie mit der Schluss-Sequenz des 1. Teils, in der sie verführerisch ihre Reize besingt, was so ein bisschen nach 'Barbie Girl 'klingt: "Lange goldene Locken sind die Fesseln eines jeden Herzens."
    Musik: 1. Teil der Arie "Quel fiore labile del gioventù"
    Dies war Roberta Mameli als noch Un-Heilige Pelagia in der Schluss-Sequenz des 1. Teils von Stradellas Oratorium, das er wohl während seines Rom-Aufenthaltes 1673 im Auftrag der Königin Cristina schrieb.
    Dieses Stradella-Projekt von Andrea De Carlo und seinem Ensemble Mare Nostrum ging aus einem Stradella-Festival hervor, das in dem Geburtsort des Komponisten, Nepi bei Viterbo, entstand und eine Vielzahl an Aktivitäten und künstlerischer wie wissenschaftlicher Arbeiten bietet. Die oratorischen Werke von Stradella werden hier auch mit dem musikalischen Nachwuchs aufgeführt, ein vorbildliches Projekt im Krisen geschüttelten italienischen Kulturleben.
    Plötzlich ein Lamm Gottes
    Im 2. Teil des Oratoriums scheint die lebensfrohe Tänzerin, für Stradella eine Sympathie-Trägerin, zunächst dem Schmeicheln des bösen Engels zu unterliegen, und Mondo macht sich daran, seinen Sieg zu feiern. Doch da passiert die überraschende Wende und Pelagia zieht sich unerwartet in eine Höhle am Ölberg zurück, um für den Rest ihres Lebens Gott zu dienen, ein etwas zwiespältiger Gewinn, aber Anlass für einen Jubelchor, das einzige Ensemble in Stradellas Oratorium. Hier auch dabei, der Altist Raffaele Pe als Religione.
    Musik: 2. Teil Chor, "Festeggiate"
    Als sich Pelagia aus dem luxuriösen Leben am Hof in die Wildnis zurückzieht, interpretiert Stradella diese überraschende Wende am Schluss nicht mit einem entsprechenden musikalischen Showdown, im Gegenteil: Pelagia bleibt bis zum Schluss eine starke, jetzt geläuterte Frau und besingt Gott als ihren Monarchen, letztlich auch eine politische Aussage.
    Stradella selbst hatte wegen seiner Frauengeschichten einige Abenteuer zu bestehen, er verstarb schließlich durch einen Meuchelmord im Alter von 42 Jahren und es wurde nie geklärt, ob es ein Auftragsmord eines eifersüchtigen Ehemannes oder aus Missgunst war. Die Italiener jedenfalls betrachten Stradella als ihren Vater des Barock. Diese Einspielung zeigt einmal mehr, wieviel es in Stradellas Werk noch zu entdecken gibt - ein Vergnügen, wenn es so präsentiert wird wie hier.
    The Stradella Project Vol. 4, ‚Santa Pelagia‘, Ensemble Mare Nostrum, Ltg. Andrea De Carlo, Label: Arcana, 2017, LC-04494//A 431