Archiv

Thilo Sarrazin
Vor dem Buch ist nach dem Buch

Bald erscheint ein neuer Text von Thilo Sarrazin - acht Jahre nach seinen umstrittenen Integrationsthesen, mit denen das SPD-Mitglied eine Zeitenwende in der Debattenkultur einleitete. "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit prägte damals die Vokabel "Wutbürger". Im Dlf sagte Kurbjuweit, heute sei der Wutbürger eine "dominierende Sozialfigur".

Dirk Kurbjuweit im Gespräch mit Johanna Herzing |
    Wutbürger: Wort des Jahres 2010
    Was ist aus dem "Wutbürger" geworden, den "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit nach Thilo Sarrazins Buch von 2010 beschrieb? (dpa - picture alliance)
    Johanna Herzing: Herr Kurbjuweit, was ist aus dem Wutbürger geworden? Gibt es den in Ihren Augen noch, so wie Sie den damals beschrieben haben, also als zukunftsfeindlich, egomanisch, hysterisch, oder nehmen Sie das heute anders wahr?
    Dirk Kurbjuweit: Nein, der Wutbürger ist ja sozusagen eine große Figur dieses Jahrzehnts geworden. Ich lese dieses Wort immer wieder, und es ist ein Phänomen, das, glaube ich, diese Zeit ganz gut einfängt. Damals war es so, dass das Buch von Sarrazin ja erschienen war. Er machte dann eine Tournee damit, und Kritik an Sarrazin, an diesem Buch, an seinen Thesen hat dann im Publikum, einem sehr bürgerlichen Publikum, zu sehr viel Empörung geführt, es gab die Proteste bei Stuttgart 21, durch ganz verschiedene Phänomene aber zeigte sich doch so eine wachsende Aggressivität in der gesellschaftlichen Debatte. Und da muss man ja leider sagen, dass das immer stärker geworden ist natürlich durch die sozialen Netzwerke, durch das Aufkommen der AfD. Und ich finde immer noch, dass der Wutbürger eine der dominierenden Sozialfiguren unserer Zeit geworden ist.
    Aggressive Stimmung bei Protesten
    Herzing: Diese Verbindung, die Sie damals hergestellt haben, zwischen den Gegnern von Stuttgart 21 und den Anhängern von Thilo Sarrazin, dafür gab es ja auch Kritik. Wie sehen Sie das heute?
    Kurbjuweit: Das habe ich natürlich zu spüren bekommen, das war auch klar. Ich habe aber auch keine inhaltliche Verbindung hergestellt, sondern es ging mir um die Form, in der man eine Debatte führt, in der man eine Auseinandersetzung führt, und ob wir das jetzt rechts oder links nennen oder Mitte oder wie auch immer, ich finde, dass sozusagen zu einer bürgerlichen demokratischen Gesellschaft eben auch eine entschiedene, aber auch zivile Form des Umgangs und auch des Protests gehört. Und ich war mehrmals in Stuttgart, habe mir die Proteste dort angesehen, und damals war das schon eine sehr aggressive Stimmung, und das fand ich durchaus kritikwürdig.
    Herzing: Das heißt, Sie bleiben dabei, dass die was miteinander gemein haben?
    Kurbjuweit: In der Form des Ausdrucks. Was die politische Position angeht, was Inhalte angeht, natürlich überhaupt nicht.
    "Da wurde etwas offenbar, was latent schon da war"
    Herzing: Wenn wir Thilo Sarrazins Rolle im damaligen politischen Diskurs anschauen, also um das Jahr 2010 herum, ist Sarrazin für Sie Auslöser oder Symptom einer politischen Entwicklung und eines Rechtsrucks in Deutschland? Also Henne oder Ei?
    Kurbjuweit: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube, mit Sarrazin, mit dem Buch wurde etwas offenbar, was latent schon da war. Es kam ja erst dieses Interview in "Lettre", in dem er über diese angeblichen "Kopftuchmädchen" gesprochen hat und da verschiedene Thesen geäußert hat. Und dann kriegte er so viel Zustimmung, dann kam das Buch, eine Riesenauflage, auch sehr viel Zustimmung für dieses Buch. Und da war ich überrascht, weil ich hatte eigentlich bis dahin gedacht, sozusagen bestimmte Themen oder bestimmte Verhaltensweisen, auch Ansichten haben sich doch weitgehend erledigt oder spielen nur noch ganz am Rand der Gesellschaft eine Rolle. Aber da merkte man zum ersten Mal, dass da etwas geschwelt hat und dass es mit Sarrazin eben zum ersten Mal sichtbar wurde.
    Herzing: War das so was wie eine Katalysatorwirkung?
    Kurbjuweit: Ja, das kann man wohl so sagen. Es hat jedenfalls dann sehr viel geändert. Ich glaube, auch weil viele Leute gesehen haben, okay, das geht ja, wir können so reden, wir können diese Ansichten äußern. Und das hat eben natürlich viele dann beflügelt, eben Mut gemacht, ihre Ansichten zu äußern, was ja im Prinzip auch richtig ist. Wir wollen ja nicht, dass Ansichten unterdrückt werden. Es kommt immer auf die Form an, und dann die Frage, ist das fair, ist das gerecht? Aber dass es zum Diskurs gehört, will ich gar nicht bestreiten.
    "Das Netz hat entscheidenden Einfluss"
    Herzing: Es wird ja insgesamt heute oft ein Verfall des politischen und gesellschaftlichen Diskurses beklagt. Es ist viel die Rede von einer Enttabuisierung, und zwar bei allen Parteien. Da gab es Gaulands "Vogelschiss", aber auch das Wort vom "Asyltourismus", die Diskussion um Einwanderung innerhalb der Linken und so weiter. Würden Sie das unterschreiben, dass da so ein Abwärtstrend vorhanden ist, oder ist das Kulturpessimismus?
    Kurbjuweit: Nein. Ich glaube, insgesamt in der Politik wurde ja auch schon immer hart diskutiert. Wenn wir an Leute wie Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß denken, an die großen Debatten der späten 60er- und der 70er-Jahre, auch in den Achtzigern noch. Da wurde ja auch wirklich hart und aggressiv argumentiert. Aber es gab doch eben Grenzen, sozusagen Schutz der Minderheiten, Rücksicht, das spielte dann schon eine große Rolle. Aber insgesamt würde ich sagen, dass in der Politik bei den klassischen Parteien sich da nicht viel verändert hat. Neu ist natürlich die AfD, und da kommt auch ein neuer Bürger in die Parlamente, in die Politik, der ein ganz anderes Verhältnis hat zu den Jahren '33 bis '45, zu diesen schrecklichen deutschen Jahren, und sich da sozusagen weitgehend gelöst hat von den Verpflichtungen, die wir akzeptiert haben, die sehr viele Deutsche akzeptiert haben.
    Und das ist das Neue, dass es diese Bindungen eben bei manchen Leuten nicht mehr gibt. Das hat sicherlich auch mit den Jahren zu tun. Je länger das zurückliegt, desto weniger tief sitzt es, desto weniger beschäftigen sich die Leute vielleicht damit, was ich allerdings auch falsch finde. Aber es ist jetzt eben auch ein neuer Typus da, ein aggressiver Bürger, der eben – ja, eben der Wutbürger, der über das Netz auch eine ganz andere Form von Öffentlichkeit findet. Das Netz hat da natürlich ganz entscheidenden Einfluss.
    Faschismus-Vergleiche sind falsch
    Herzing: Jetzt hat die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan kürzlich in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" – da ging es um die Integrationsdebatte und um die Aufregung rund um den Fußballspieler Mesut Özil –, in diesem Interview hat sie gesagt, Deutschland und Europa befänden sich in einer präfaschistischen Phase und Deutschland werde brutaler. Sehen Sie das auch so drastisch?
    Kurbjuweit: Nein, das tue ich nicht. Als Trump gewählt wurde, gab es ja oft die Thesen, mit Trump würde ein neuer Faschismus ausbrechen. Faschismus – ich würde doch sagen, dass man da sehr genau sein soll mit den Begriffen, mit den politischen Begriffen. Und Faschismus meint etwas ganz anderes. Das ist ein Phänomen eben der 20er- und 30er-Jahre in Europa, das waren hysterische Massenbewegungen, uniforme Massenbewegungen, die den ganzen Menschen verändern wollten, gerade in Deutschland natürlich, in der Ausprägung des Nationalsozialismus. Und diese Tendenzen sehe ich heute nicht. Da würde ich wirklich sehr sauber trennen wollen.
    Herzing: Ich würde Ihnen gern noch zwei Zitate unter die Nase reiben, die von Ihnen stammen. 2010 haben Sie in dem Essay zum Wutbürger geschrieben, Zitat, "Die Politik muss sich stärker um den Wutbürger kümmern, seine Wut dämpfen, seine Verantwortlichkeit hervorlocken." Jetzt haben Sie Anfang dieses Jahres wiederum in einem Artikel kritisiert, dass Angela Merkel nur noch Politik für die Grimmigen, die potenziellen Wähler der AfD machen würde. Widersprechen Sie sich da selbst?
    Kurbjuweit: Nein, das sehe ich so nicht. Natürlich, ich würde auch immer noch sagen, man muss sich um diese Leute kümmern, und Sie könnten auch noch ein drittes Zitat nehmen: Als die AfD gewählt wurde in den Bundestag, habe ich einen Leitartikel im "Spiegel" geschrieben, "Willkommen im Bundestag". Die sind demokratisch gewählt worden, die Politiker dort repräsentieren eben einen bestimmten 12,5-Prozent-Anteil der Bevölkerung, und jetzt müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Was ich an Angela Merkel kritisiere, ist, dass sie eben vor allem oder in einer bestimmten Phase nur auf die Ansichten dieser Leute einging und nicht auf die Ansichten einer Mehrheit, würde ich sagen. Und es ist ja nicht so schwarz und weiß, sondern eine Bundeskanzlerin ist eben für das gesamte Volk da und muss sich um alle Ansichten kümmern und kann nicht nur Politik nach den Wünschen einer bestimmten Minderheit machen. Das habe ich da kritisiert.
    Sorgen ernst nehmen
    Herzing: Wenn Sie eine Prognose wagen – der Wutbürger, steht der mit der AfD im Bundestag sozusagen auf seinem Zenit, oder haben wir den noch nicht erreicht?
    Kurbjuweit: Ich fürchte, nicht. Prognosen in der Politik sind ja wahnsinnig schwierig, wie wir wissen. Ich würde sagen, das würde ich mich schon trauen, dass es jedenfalls nicht vorbei ist und dass wir nicht damit rechnen können, dass die AfD bei der nächsten Wahl aus dem Bundestag rausfliegt, sondern es kann durchaus sein, dass sie noch weiter wächst. Es hat sehr viel natürlich mit der Politik zu tun. Es ist nicht so, dass bestimmte Entwicklungen sein müssen, sondern Politik kann das natürlich beeinflussen. Und es geht eben darum, wie gesagt, auch für diese Leute auch deren Sorgen aufzunehmen, die zum Teil sicherlich auch berechtigte Sorgen sind, einen Umgang damit zu finden und sie wieder zu gewinnen für andere Haltungen und für die Mitte der Gesellschaft.