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Vierbeinige Überlebenskünstler
Evolution in Echtzeit

Wer glaubt, Evolution verlaufe extrem langsam, irrt: Ein Gegenbeispiel liefern unter anderem Rotkehlanolis, auch nordamerikanisches Chamäleon genannt. Die wechselwarmen Tiere leben vorwiegend in Florida. Doch Forscher haben beobachtet, dass sie auch mit Kälteeinbrüchen bestens zurechtkommen.

Von Volkart Widermuth |
    Ein Rotkehlanolis mit aufgeblähtem Kehlsack klettert in einem Terrarium an einem Ast.
    Ein Rotkehlanolis mit aufgeblähtem Kehlsack (Foto: Soeren Stache - picture alliance )
    Anders als der Name vermuten lässt, sind Rotkehlanolis grüne Eidechsen. Nur die Männchen protzen in der Paarungszeit mit ihrem roten Kehlsack. Ursprünglich stammen sie aus dem warmen Kuba. Aber vor ein paar Millionen Jahren gelangten einige Anolis nach Florida und breiteten sich danach im ganzen Südosten der USA aus, bis hoch nach Oklahoma. Dort gibt es im Winter tatsächlich Schnee und Eis, eine Herausforderung für diese Tiere. Aber sie haben sich angepasst, wie Dr. Shane Campbell-Staton nachweisen konnte. Für seine Doktorarbeit hat er Anolis an verschiedenen Orten gefangen und im Labor nach und nach abgekühlt. Die Tiere bewegten sich immer langsamer und konnten sich irgendwann nicht mehr aufrichten, wenn man sie auf den Rücken drehte.
    "So schätzen wir ab, bei welcher Temperatur die Tiere nicht mehr reagieren können und in der Natur sterben würden. Vom Süden von Florida bis hoch nach North-Carolina und Oklahoma gibt es eine enge Beziehung zwischen dieser kritischen Temperatur und den Umweltbedingungen im Winter an den Orten, wo wir die Tiere gefangen haben."
    Ein schönes Beispiel für Anpassung
    Ein schönes Beispiel für Anpassung im Lauf der Evolution und genug Material für die Doktorarbeit. Im Winter 2013/14, als Shane Campbell-Staton gerade Daten an der Universität von Illinois aufbereitete, spielte ihm der Zufall in die Hände: Es kam zu einem dramatischen Kälteeinbruch in den USA.
    "Ich hab mir im Büro Bilder aus dem Internet angesehen. Leute waren in ihren Wagen eingeschneit, Kinder spielten im Schnee. Ein Foto zeigte einen toten grünen Anoli. Er lag auf dem Rücken im Schnee. Und da hatte ich die Idee, zu gucken, wie meine Populationen mit dieser extremen Kälte zurechtkommen."
    Im Frühling fing der Biologe wieder Rotkehlanolis ein und prüfte ihre Reaktion in der Kältekammer. Bei der ersten Untersuchung machten die Anolis aus dem südlichen Texas schon bei zehn Grad plus schlapp. Nach dem Wintersturm hielten die überlebenden Eidechsen immerhin achteinhalb Grad aus.
    "Die Tiere im Süden waren jetzt so robust, wie ihre nördlichen Verwandten. Und auch die Muster ihre Genaktivierung waren 'nördlicher' geworden."
    Manchmal geht Evolution ganz schnell
    Und auch auf der Ebene der Genvarianten im Erbgut gab es parallele Verschiebungen. Dabei reagierten auf die Wetterkatastrophe nicht etwa jene Gene, die etwas mit der Fettspeicherung zu tun haben, sondern vor allem Erbanlagen, die für das Nervensystem wichtig sind. Kein Wunder, schließlich müssen die Nerven die Reaktion auf der Ebene des Stoffwechsels und des Verhaltens koordinieren.
    Evolution stellt man sich meist als einen langsamen, graduellen Prozess vor. Der extreme Winter 2013/14 zeigt, Anpassung kann auch ganz schnell erfolgen. Shane Campbell-Staton wundert das nicht.
    "Bei der natürlichen Selektion geht es um Unterschiede im Überleben. Extreme Wetterlagen sind vielleicht kurz, aber viele Tiere kommen damit nicht klar und sterben. Deshalb gibt es in sehr kurzer Zeit diese großen Anpassungsschübe in den Populationen. Das sehen wir bei den Anolis."
    Die Evolution in Aktion zu beobachten ist faszinierend für Biologen wie Shane Campbell-Staton. Es wird plötzlich kälter. Wärmeliebende Anolis sterben. Die Population als Ganzes passt sich an den Klimawandel und extreme Wetterereignisse an. Das klingt nach einem Ergebnis, das Mut macht. Doch ein genauerer Blick in die Daten zeichnet ein anders Bild. Vor dem Kälteeinbruch war die genetische Vielfalt der Anolis im warmen Texas deutlich größer, als die der Tiere in kühlen Oklahoma. Nach dem Sterben im ungewöhnlichen Schnee und Eis blieben nur die kälteresistenten Tiere übrig.
    "Wenn man sich die Daten anguckt, könnte man sagen: Prima, Selektion! Das sind doch gute Nachrichten für die Population. Vielleicht ist das auch so. Aber der Preis ist der Tod vieler Tiere. Vielleicht sind in der Kälte Anolis gestorben, die Gene für den Umgang mit extremen Hitzewellen oder Trockenperioden in sich trugen."
    Arten können in der Evolution schnell reagieren
    Das Beispiel der Rotkehlanolis zeigt: Arten können in der Evolution schnell reagieren. Aber sie brauchen auch einen langen Atem. Bei den Anolis im Süden von Texas waren die entscheidenden Anpassungen bereits vorhanden, sozusagen versteckt in der genetischen Vielfalt der Population. Der Eiswinter wirkte wie ein Meißel, der sie heraus gearbeitet hat. Aber die weggehackten Splitter sind für immer verloren. Sie fehlen vielleicht bei künftigen Herausforderungen. Und wenn die Temperaturen im Winter noch weiter absinken, dann müssen die Rotkehlanolis in den USA tatsächlich neue Vielfalt, innovative Anpassungen entwickeln. Und das geht nur über den umständlichen Prozess von Mutation und Selektion. Ob sie dazu in der Lage sind, bleibt fraglich. Schließlich sind die Rotkehlanolis Richtung Norden nie über Oklahoma hinausgekommen.