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Tobias Morawski: Reclaim Your City
Eine subversive Fibel

Investoren gegen Mieter - der Kampf ist so alt wie die Idee der modernen Stadt. Wem gehört die Stadt also? Damit hat sich Tobias Morawski beschäftigt und stellt in "Reclaim Your City" urbane Protestbewegungen am Beispiel Berlins vor. Er sammelt, ordnet und erklärt alle Aktivitäten, die sich zur Stadteroberung eignen - legale, illegale, halblegale.

Von Barbara Sichtermann | 30.07.2015
    Plakat an einem Berliner Haus: "Markt oder Mensch?"
    Protestplakat an einem Berliner Haus. (dpa/picture alliance/Paul Zinken)
    Wem gehört die Stadt? Denen, die dort wohnen, könnte man meinen. Aber natürlich ist es so einfach nicht. Eine Stadt steht mit ihren Häusern auf Grund und Boden, und der kann Privatleuten gehören, die ganz andere Interessen haben als ein unbeschwertes urbanes Leben. Im Prinzip ist die Sache bekannt: Eigentümer und Investoren möchten ihre Immobilien möglichst profitabel verwerten. Sie lassen deshalb schon mal ein altes, aber noch gut erhaltenes Mietshaus leer stehen und verrotten, um dann die Abrissgenehmigung zu bekommen und an seiner Stelle ein schickes Geschäftshaus hochzuziehen, das ihnen - im Vergleich zu dem alten Kasten - ein Mehrfaches an Gewinn verspricht. Die Altmieter jedoch oder gar Obdachlose, Geringverdiener und Studenten möchten sehr gerne zu einer moderaten Miete in dem alten Kasten wohnen. Wir haben es also mit einem Konflikt zu tun. Der ist so alt wie die Idee und Wirklichkeit der modernen Stadt, aber er gestaltet und inszeniert sich immer wieder neu. Die Globalisierung ist es, die Städte in einen Standortwettbewerb hineintreibt - um Investoren, Touristen, Steuereinnahmen und Großevents.
    "Je globalisierter die Wirtschaft, desto höher die Ballung zentraler Funktionen an relativ wenigen Orten - sprich: den 'Global Cities'", so die Soziologin Saskia Sassen.
    Urban Art und politische Botschaft
    Ist Berlin eine 'Global City'? Die Stadt ist auf dem Weg dahin. Und genau deshalb hat der Autor Tobias Morawski sich Berlin als Paradebeispiel für seine Untersuchung vorgenommen. Vielleicht auch, weil er dort lebt, mit Sicherheit aber, weil dort Vieles im Fluss ist und die Stadt eine lange Geschichte als Ort des zivilen Ungehorsams, der Opposition gegen Spekulation und Gentrifizierung und eine immer noch lebendige Szene des Kampfes um den städtischen Raum besitzt. Sein Buch heißt: "Reclaim Your City", was man übersetzen könnte mit "Erobere dir deine Stadt zurück!" Mit diesen Eroberern kennt Morawski sich aus, er stellt sie vor, ihre Strategien und Fantasien, ihre Aktionen und ihre Ideale, ihre Verlautbarungen und ihre Programme:
    "Als wir die Häuser besetzten, ging es uns um mehr als nur den Erhalt von Wohnraum. Wir wollten wieder zusammenleben und -arbeiten. Wer in dieser Stadt kennt sie nicht, die Leere des Alltags, die entstanden ist mit immer weiterer Auflösung der alten Zusammenhänge durch Sanierung und sonstige Stadtzerstörung. Diese hat mehr Leute aus ihren Wohnungen vertrieben als der Krieg. Es geht um unser aller Zukunft."
    Graffiti an einer Hauswand: "Mieterhöhung, Modernisierung - was tun? 1. Nichts unterschreiben, 2. Mit Nachbarinnen reden, 3. Mieterberatung aufsuchen"
    Protestform Graffiti in Berlin-Neukölln: Was tun bei Mieteröhung? (imago/stock&people/IPON)
    So wandte sich der Schöneberger Hausbesetzerrat schon in den 1980er-Jahren an die Öffentlichkeit. Am Argument und am Ton der Kampfansage hat sich seither nicht viel geändert. Es ist derselbe Gestus der Revolte, der nichts weniger einklagt als ein menschenwürdiges Leben. Aber es ist, was die Mittel und Wege des Protestes betrifft, eine Menge dazugekommen. In "Reclaim Your City" sammelt, ordnet und erklärt der Autor alle Aktivitäten, die sich zur Stadteroberung eignen, legale, illegale, halblegale. Das Buch geht in die Geschichte zurück, es legt dar, wie die Graffiti und die Mauerbemalungen, "Murals" genannt, von New York nach Europa übersprangen und in Berlin zugleich Urban Art und politische Botschaft wurden.
    "Wenn du fragst, wie wir zu Graffiti stehen, dann, denke ich, gilt für uns das starke politische Element, das Graffiti aufweist. Als Eingriff in einen Raum, der öffentlich ist und uns mit allen gehört. Graffiti erlaubt, dass du deine Meinung an die Wand schreibst, wo du es sonst nicht dürftest, weil da schon die Meinung der Deutschen Bank steht."
    ... so das sogenannte "Räuber"-Kollektiv in einem Interview. "Reclaim Your City" zeigt, wie die Demo, die Free Party und die Street Art zur Stadtaneignung beitragen. Wie geplante Obstruktion und spontane Sitzblockaden Räumungen zurückeroberter Häuser verhindern. Dabei befleißigt sich Autor Morawski eines nüchternen, fast verhaltenen Tons. In seinem Text gibt es kein Pathos, keine Wut, keine Polemik - dafür eine akribische Gliederung, eine prägnante Schilderung, eine lückenlose Auflistung.
    "Gemeinsame Selbstbehauptung"
    Wenn man bedenkt, dass es in "Reclaim Your City" um nichts weniger geht als um eine Art Enzyklopädie der Protestformen gegen profitorientierte Privatisierung von Stadtraum, so darf man sagen, dass dieses schmale Buch - es umfasst 168 Seiten - eine subversive Fibel ist. Man kann sie bei sich tragen, wenn man als junge Neuberlinerin durch die Stadt streift, man kann sich ein wenig Inspiration holen, wenn man findet, dass die Werbung sich allzu grell und rücksichtslos der Straßenatmosphäre bemächtigt.
    "Es geht um die Zwischentöne innerhalb der Werbebilderflut und eine gemeinsame Selbstbehauptung in dem Sinne: Hey, wir sind mehr als nur unser Portemonnaie. Genau hier liegt das subversive Potenzial von Straßenkunst: Die kapitalistischen Grundsätze des Kaufens und Verkaufens werden einfach ignoriert und der öffentliche Raum wird aktiv mitgestaltet."
    Demo gegen hohe Mietpreise in der Innenstadt in Berlin
    Demo gegen hohe Mietpreise in der Innenstadt in Berlin (imago/stock&people/Christian Mang)
    Der Autor Tobias Morawski ist Kommunikationsdesigner und Mitarbeiter des Graffitiarchivs im Archiv der Jugendkulturen e. V. in Berlin. Sein Buch ist sehr schön illustriert. Es gibt für alle Protestformen vom Transparent bis zum Wandbild, vom Plakat bis zur kritischen Kartografie überzeugende optische Beispiele. Morawski scheut auch vor einer Prise Theorie nicht zurück. Stadtsoziologen wie Henri Lefèbvre, Saskia Sassen und Jean Baudrillard werden zitiert. Das ist auch gut so, der Konflikt um die Global Cities benötigt eine genaue Auslotung, denn er wird so bald nicht gelöst werden können.
    Morawskis Fibel ist zugleich Geschichte, Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive des Kampfes um die Stadt, sie stellt und beantwortet die Frage, wem Berlin gehört und gehören sollte und was urbanes Leben im Kern ausmacht.
    Tobias Morawski: Reclaim Your City
    Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg, 2014