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Tod als Ausweg

Blättert man in den statistischen Jahrbüchern der DDR, so stößt man zwar auf jede Menge planmäßig geschönte Produktionsziffern, nicht aber auf Zahlen zu heiklen Themen wie zum Beispiel der Selbstmordrate in der DDR. Der Leipziger Historiker Udo Grashoff hat sich mit diesem einstigen Tabuthema beschäftigt und die Ergebnisse seiner Forschungen in dem Buch "In einem Anfall von Depression" niedergeschrieben. Otto Langels rezensiert.

13.11.2006
    "Ich kann so nicht mehr leben. Ich bin völlig fertig. Der Tod ist der einzige Ausweg. Mir tun nur meine Eltern leid, sie haben es nicht verdient, dass ihre Tochter einen solchen Weg geht. Vielleicht ist es möglich, dass sie von allem nichts erfahren. Vielleicht könnte man ihnen sagen, ich sei mit einem Auto tödlich verunglückt oder so, ich möchte auf keinen Fall, dass sie erfahren, dass ich Selbstmord begangen habe."

    Aus dem Abschiedsbrief einer jungen DDR-Bürgerin, die sich in einer für sie ausweglosen Situation befand, weil sie einen sowjetrussischen Soldaten zu Unrecht wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. Die junge Frau war eine von mehreren tausend Personen, die sich jedes Jahr in der DDR das Leben nahmen.

    Der Arbeiter- und Bauernstaat hatte eine der höchsten Suizidraten der Welt. Im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland war die Zahl der Selbstmorde im Osten etwa anderthalb Mal so hoch. Es gebe kein anderes Land in Europa, vermutete der DDR-Experte Ehrhard Neubert Ende der 90er Jahre, in dem so viele Selbstmorde im Zusammenhang mit der Politik der Kommunisten stünden. Tatsächlich hatte es den Anschein, als ob das SED-Regime selbst einen Zusammenhang zwischen politischem System und Suiziden sah, denn seit den 60er Jahren behandelte die Parteiführung das Thema Selbstmord wie ein Staatsgeheimnis. Von 1956 bis 1962 seien die Suizidzahlen noch veröffentlicht worden, berichtet der Leipziger Historiker Udo Grashoff. Er hat jetzt die erste umfassende historische Untersuchung über Selbsttötungen in der DDR vorgelegt.

    "In dieser Zeit war es so, dass die Selbsttötungsrate in der DDR im Vergleich zum Kriegsende etwa um 25 Prozent gesunken war, und man der Meinung war, dass das ein Erfolg des sozialistischen Aufbaus war. Dann gab es aber eine Trendwende, auch parallel zu Zwangskollektivierung 1960 und Mauerbau 1961, und in dieser Phase hat dann das SED-Politbüro beschlossen, die Zahlen geheim zu halten."

    Offensichtlich fürchtete das SED-Regime, Kritiker könnten den Anstieg der Selbsttötungen auf fehlende Reisefreiheit, politische Repressionen, ideologische Bevormundung oder Angst vor Bespitzelung zurückführen. Spektakuläre Selbstmorde wie die öffentliche Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz im August 1976 schienen diese Annahme zu bestätigen und brachten das Regime in Bedrängnis.

    "Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen","

    hatte Brüsewitz auf eine Tafel geschrieben und neben sich gestellt, um seine Selbstverbrennung zu erklären. Das SED-Regime bemühte sich danach, das Fanal als Wahnsinnstat eines Verrückten darzustellen und jeden politischen Hintergrund zu leugnen. Nur einmal in 40 Jahren DDR befasste sich die SED-Führung mit der Frage der Selbsttötungen, allerdings nicht, um den Ursachen nachzugehen, sondern um den Kreis der Eingeweihten weiter zu verkleinern. 1977 erging die Anordnung, dass die fünf medizinischen Institute, die bis dahin die geheimen Zahlen für Forschungszwecke verwenden durften, die Informationen nicht mehr bekamen.

    ""Seit dem Mauerbau waren die Zahlen streng geheim. Und nur noch sehr wenige Menschen in der DDR wussten überhaupt, dass sich pro Jahr etwa 5000 bis 6000 Menschen das Leben nehmen."

    Dabei wäre die Geheimhaltung eigentlich überflüssig gewesen. Denn Udo Grashoff kommt in seiner sehr wissenschaftlich angelegten, nicht immer gut lesbaren Studie zu dem überraschenden Ergebnis, dass die hohe Suizidrate sich in erster Linie nicht auf die politische Repression und die bedrückenden sozialen Verhältnisse in der DDR zurückführen lasse. Grashoff spricht von langfristigen regionalen Besonderheiten in Ostdeutschland.

    "Die hohe Selbsttötungsrate in der DDR ist ein historisches Erbe der Gebiete, die die DDR bildeten 1949. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Sachsen und Thüringen eine sehr hohe Selbsttötungsrate, die sich danach nicht mehr sehr stark erhöht hat, die also über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR relativ konstant gewesen ist. Und diese Tatsache lässt den Schluss zu, dass die hohe Selbsttötungsrate der DDR keine politischen Ursachen hatte."

    Grashoff hat verschiedene Konfliktfelder in der DDR-Gesellschaft untersucht, wo er aufgrund des dort ausgeübten Zwangs und Terrors erhöhte Suizidraten vermutete. Doch in den Akten fand er keine Hinweise darauf, dass sich in der Nationalen Volksarmee oder bei den Grenztruppen, in den Gefängnissen oder in den Stasi-Haftanstalten mehr Menschen umbrachten als anderswo. Im Gegenteil, in den DDR-Gefängnissen zum Beispiel war die Selbstmordrate etwa drei- bis viermal niedriger als in der alten Bundesrepublik. Dies lag jedoch nicht an einem humaneren Strafvollzug im Osten, sondern an der schärferen Kontrolle und Überwachung der Gefangenen. Wie verzweifelt die Menschen tatsächlich waren, lässt sich daran ablesen, dass zum Beispiel im Stasi-Gefängnis Leipzig jeder Fünfte, der dort eingeliefert wurde, einen Selbstmordversuch unternahm. Wie lässt sich die insgesamt hohe Suizidrate in der DDR erklären? Grashoff stellt ein Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle fest und verweist auf religiöse und traditionelle Unterschiede.

    "Diese Indizien liegen im Bereich der regionalen Mentalität. Das heißt, dass in diesen Gebieten einfach die moralische Hemmschwelle, sich das Leben zu nehmen, geringer ist als in katholischen Gebieten. Der Vergleich sind ja immer die Gebiete im Rheinland und in Rheinland-Pfalz, wo sehr niedrige Selbsttötungsraten zu verzeichnen sind, und die Menschen katholisch sozialisiert sind und Selbstmord, wie da gesagt wird, eine Todsünde ist."

    Das politische System der DDR hatte die hohen Suizidzahlen nicht direkt zu verantworten, lautet Udo Grashoffs Fazit. Problematisch ist, dass der Autor sich überwiegend auf Statistiken stützt, aus denen sich die Hintergründe eines Selbstmordes nicht immer zweifelsfrei erschließen. Wo liegen Erkrankungen vor, wo hören persönliche Beweggründe auf, wo beginnen politische Hintergründe? Gemessen an dem Anspruch einer sozialistischen Gesellschaft, in der der Mensch im Mittelpunkt stehe, war das SED-Regime jedenfalls gescheitert. Denn es hatte eine Vielzahl von Bürgern nicht davon abzuhalten vermocht, sich das Leben zu nehmen.

    Udo Grashoff: In einem Anfall von Depression. Selbsttötungen in der DDR
    Ch. Links Verlag. Berlin 2006.
    518 Seiten, 29,90 Euro