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Tödliche Rituale an Brasiliens Hochschulen

Zu Semesterbeginn herrscht an vielen Hochschulen in Brasilien die blanke Angst unter den Erstsemstern. Die Neuankömmlinge werden nämlich von den älteren Studierenden geschlagen, bestohlen, getreten oder auf sadistische Weise gequält. Gegen dieses Aufnahmeritual namens "Trote" regt sich jedoch Widerstand. Nur Staatschef Lula hat offenbar nichts gegen den Trote.

Von Klaus Hart | 12.03.2009
    Brasiliens Bildungsexperten sparen nicht mit scharfen Worten, nennen den Trote stupide, faschistoid, sadomasochistisch - eine Form der Rückkehr zur Barbarei, ein Zeichen der Verrohung, gar eine gesellschaftliche Krankheit. Und in den letzten Tagen waren in Lateinamerikas größter Demokratie in der Tat massenhaft hanebüchene Dinge zu beobachten. Universitätsstudent Bruno Ferreira in Sao Paulo:

    "Wir Neuen wurden mit Farbe beschmiert, mussten uns in Schlamm wälzen, der aus Tierkot, aus Resten von verwesenden Tieren, voller Würmer bestand. Dann wurden wir gezwungen, Schnaps zu trinken. Ich wurde an einen Mast gefesselt und geschlagen. Dann setzten sie mich auf einen Stuhl, der von jemandem mit aller Wucht unter mir weggetreten wurde. Ich prallte mit dem Kopf auf Beton."

    Eine Studentin ist Zeugin.

    "Ja, er wurde von den älteren Studenten sogar getreten - sein Kopf blutete."

    Polizisten schauen zu, greifen indessen nicht ein. Bruno Ferreira liegt schlammverschmiert, bewusstlos im Alkoholkoma auf der Straße, bis ihm endlich eine zufällig vorbeikommende Frau hilft, Krankenwagen und Notarzt ruft, ihm so das Leben rettet.

    Die neunzehnjährige Priscilla Muniz ist schwanger, wird dennoch von einer Pädagogikstudentin sogar mit Säure übergossen.

    "Ich dachte, meine ganze Haut löst sich ab, es tat unheimlich weh. Ich wurde in eine Klinik gebracht."

    Viele Trote-Täter filmen die erbärmlichen Rituale, im Internet werden die Szenen zu Hits. In Brasilia reagiert diesmal das Abgeordnetenhaus erstaunlich rasch auf die allgemeine Empörung, erlässt ein Gesetz, das Trote mit bis zu fünf Jahren Haft belegt. Der Parlamentarier Hugo Leal:

    "Die Täter müssen bestraft werden, doch auch die Chefs jener Universitäten, die solche Delikte erlauben!"

    Staatsanwalt Jeferson Dias:

    "Die Universitäten sollen Staatsbürger formen, die fähig sind, sich in der Gesellschaft angemessen zu verhalten. Wenn die Universitäten dazu aber offenbar nicht in der Lage sind, erfüllen sie ihren Auftrag nicht, muss also Brasiliens Innenministerium, die Justiz eingreifen und kontrollieren."

    Professor Helio Liberador ist Psychologe, zudem Vize-Rektor der Katholischen Universität von Sao Paulo und hat dort nach zähem Kampf die Trote-Tradition ausgetilgt, nicht aber Alkoholexzesse, die sogar zunehmen, zahlreiche Unfälle, auch Verkehrsunfälle bewirken. Liberador erinnert an eine Studie, derzufolge 40 Prozent der Brasilianer mit Universitätsabschluss dafür sind, dass die Polizei Verdächtige foltert - was in der Tat landesweit alltäglich ist.

    "Das hat mit dem Trote zu tun - denn wenn Folter legitimiert ist, haben wir ein Klima der Gewalt, eine Banalisierung des Bösen, um mit Hannah Arendt zu sprechen. Da sehen wir eine Gesellschaft, die auf Barbarei basiert. Im Trote manifestiert sich Autoritarismus. Wer an der Uni studiert, fühlt sich privilegiert, besser als die anderen - an der Uni, da ist man wer! Da werden dann andere munter diskriminiert. Da gibt es sogar Fälle, dass Obdachlose auf der Straße mit brennbaren Flüssigkeiten übergossen und angezündet werden. Der Trote-Sadismus, so sagt die Psychologie, rühre auch von Frustrationen her, die jemand in seiner persönlichen Entwicklung erlitt."

    Dass Staatschef Lula sein Veto gegen das Anti-Trote-Gesetz einlegen will, da es angeblich in die Autonomie der Universitäten eingreife, bringt den Vize-Rektor auf:

    "Ich verstehe nicht, wieso Lula dem brasilianischen Volk in dieser Frage in den Rücken fällt. Wenn Lula mich hören könnte, würde ich ihm sagen: Präsident, du brauchst mehr Sensibilität, höre mehr auf die Menschen, schaue genauer hin! Lula kann da einen Fehler machen, der uns allen nur Probleme schafft. Es gibt Dinge in unserem Land, die die Regierenden einfach nicht wahrnehmen wollen."

    Emilia Sanches in Sao Paulo hat einen Sohn, der den Trote noch vor sich hat. Das neue Gesetz kam ihr gerade Recht - über Lulas Veto-Ankündigung ist sie frustriert.

    "Das macht mich wütend, weil Lula offenbar nicht beachtet, wie viele junge Menschen durch den Trote schon getötet wurden. Vielleicht hatte Lula nie Kinder auf der Uni, die diese Rituale erlitten. Ja, ich bin empört, denn da stoppt der Präsident ein so positives Gesetz, das alle Familien beruhigen würde, deren Kinder studieren wollen!"