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Tolle Idee! Was wurde daraus?
Smarte Textilien für Frühchen

Die Idee des "Artifical Uterus", kurz ARTUS, war, zu früh geborenen Babys das Gefühl zu simulieren, weiterhin in der Gebärmutter zu sein. Das smarte Lagerungskissen für Frühchen wurde 2015 auf einer Messe für intelligente Textilien vorgestellt. Inzwischen ist ARTUS ein kleiner Sack - ohne Elektrik.

Von Anneke Meyer | 24.04.2018
    Zerbrechlichkeit trifft auf Behutsamkeit - das Händchen eines frühgeborenen Kindes.
    Frühchen fehlt die räumliche Begrenzung und die sensorischen Reize durch die Gebärmutter. (picture alliance / ZB / Stefan Sauer)
    "Ja Mäusi, bist du jetzt wach? Das ist jetzt der kleine Daniel. Der Daniel hat eigentlich errechneten Geburtstermin in drei Wochen."
    Ganz sanft berührt Anna Seemann das winzige Baby während sie mit ihm spricht. Auf die Welt gekommen ist Daniel schon vor fast zwei Monaten. Viel zu früh. 40 Wochen, so viel Zeit brauchen Babys um sich in Mamas Bauch auf das Leben vorzubereiten. Frühchen, wie Daniel, die vor der 37 Woche geboren werden, müssen einen Teil dieser Entwicklung in einer Umgebung meistern, für die sie eigentlich noch nicht bereit sind. Das führt zu Problemen in der sensorischen und motorischen Entwicklung. Anna Seemann beobachtet das jeden Tag. Sie ist Physiotherapeutin am Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmsstift in Rahlstedt.
    "Ja die Frühgeborenen liegen bei uns zu Beginn im Inkubator. Und gerade da sieht man es noch sehr deutlich - also die ganz Frühen fliegen einfach aufgrund der Schwerkraft so auseinander, liegen ganz flach auf der Unterlage auf der Hand-Körper Kontakt, der Hand-Mund Kontakt, das Saugen an den Händen, diese Dinge können alle nicht geübt werden und die Erfahrung über den eigenen Körper - wo fange ich an, wo höre ich auf - den das Kind über die zunehmende Begrenzung im Mutterleib sammelt, werden so eben auch nicht gewonnen."
    Mamas Bauch aus smartem Stoff
    Das muss doch besser gehen! Dachte die Physiotherapeutin und wandte sich an den Medizinprodukte-Hersteller "Belluga Healthcare". Der schlug vor, gemeinsam einen Mutterleibersatz aus Stoff zu entwickeln und holte dafür das auf Textilien spezialisierte Forschungsinstitut Hohenstein mit ins Boot.
    "Bei dem, was dann gemeinsam entwickelt worden ist, ist ARTUS bei rausgekommen. Ein Lagerungsmodul, das die Bewegung und Geräusche an das Kind heranbringt."
    Leichtes Schaukeln und imitierter Herzschlag
    Die Idee war simpel: Ein Kissen, das die Kinder durch leichtes Schaukeln und imitierten Herzschlag mit Sinneseindrücken versorgt, die sie aus Mamas Bauch kennen. 2015 wurde der Prototyp unter dem Titel "künstliche Gebärmutter" auf der Techtextil, einer Messe für intelligente Textilien präsentiert und mit einem Innovationspreis ausgezeichnet. Für den Sprung in die Praxis räumen die Auftragsforscher des Hohensteininstituts der Frühchenhilfe trotzdem schlechte Chancen ein: Durch die elektrischen Komponenten wäre eine Zulassung zum Medizinprodukt extrem aufwendig. Zu aufwendig um von einem mittelständischen Unternehmen wie Beluga Healthcare und einer Physiotherapeutin mit Erfindersinn gestemmt zu werden. Anna Seemann ist aber gar nicht so unglücklich darüber, dass die Sache im Sand verlaufen ist. Denn die elektrifizierte Umsetzung ihrer Idee hatte ihrer Ansicht nach einen entscheidenden Nachteil.
    "Das Kind ist nicht in einer gebeugten und geborgenen, stabilen Position. Das Kind wird also noch mehr auseinanderfliegen und noch mehr Stressreaktionen zeigen. Das Gehirn kann dann diese Bewegung gar nicht als für sich wertvoll verarbeiten."
    Anna Seemann setzt ihre Hoffnung deshalb auf ein modifiziertes System, das mit Artus nicht mehr viel gemein hat. Eben hat Daniel noch friedlich geschlafen. Die Hände am Mund. Aber jetzt fängt er an sich zu regen.
    "Na... Na… wirst du da ein bisschen wach vielleicht?"
    Ein bequemer Babysack für wohlige Enge
    Von der Seite aus betrachtet sieht man gerade noch die Nasenspitze des kleinen Jungen. Der Rest verschwindet in der überarbeiteten Version der "künstlichen Gebärmutter". Aus dem flachen Kissen ist ein kleiner Sack geworden. Ohne risikobehaftete Elektrik. Oben ist er offen. Am Fußende sind Reißverschlüssen zum Wickeln. "Nestchen" nennt Anna Seemann den bequemen Babysack. Darin sollen die Kleinen vor allem die wohlige Enge erleben. Die eigenen Bewegungen spüren ohne dabei den Halt zu verlieren.
    "Ja! Aye. Jetzt ein bisschen strampeln. Er streckt sich ein wenig, spürt dabei immer wieder die Begrenzung durch die Seiten."
    Medizintechniker, Ärzte und Sicherheitsexperten des Wilhelmsstifts haben das Nestchen begutachtet und für den hausinternen Gebrauch freigegeben. Daniel darf als einer der Ersten Probeliegen. Sehr zur Freude seiner Eltern, aber auch des Oberarztes der Station Lutz Koch:
    "Das ist eigentlich das, was wir schon immer so gebraucht haben. Wenn man sich das nur anschaut, könnte man auch denken: Okay - so könnte das Kind auch wirklich gerade bei der Mutter im Bauch liegen und sich wohl fühlen."
    Ob sich die Frühchen auch tatsächlich so fühlen, wie in Mamas Bauch, versucht Anna Seemann mit Hilfe ihrer Kollegen gerade herauszufinden. Dafür werden Herz- und Atemfrequenz und Verhalten eines Säuglings jeweils mit und ohne Nestchen verglichen. Die Daten der ersten drei Miniprobanden sind ermutigend. Einer blieb sogar beim Blutabnehmen entspannt. Die Physiotherapeutin hofft für Ihre Tolle Idee noch dieses Jahr die Zulassung als Medizinprodukt zu erhalten.