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Transport mit Umwegen

Physik. – Endlich ist es soweit: Das Forschungszentrum Karlsruhe empfängt das Hauptbauteil für den Neutrinodetektor . Der gewaltige Tank ist zu groß für den Landtransport aus dem 220 Kilometer entfernten Deggendorf und musste daher über Flüsse und Meere um ganz Europa herum verschifft werden.

Von Sönke Gäthke | 24.11.2006
    Es regnet. Langsam schiebt sich der Schubverband unter der Severinsbrücke in Köln hindurch. Der Schlepper bugsiert einen Ponton vor sich her, auf dem ein großer, blitzblanker Zylinder befestigt ist. Der sieht aus wie Tank für eine Raffinerie oder einen Chemie-Konzern.

    "Das ist aber das zentrale Element unseres Experimentes, das ist ein insgesamt zehn Meter durchmessender Edelstahltank, 24 Meter lang mit einer Wandstärke von drei Zentimetern."

    Guido Drexlin, Physiker vom Forschungszentrum Karlsruhe. Für sein Institut ist der Tank bestimmt, dessen lange Reise morgen endgültig zu Ende geht. Dann wird der Stahlzylinder mit Hilfe des größten Krans in Europa vom Ponton auf einen Schwertransporter geladen und sieben Kilometer weit zu seinem Bestimmungsort geschleppt - was rund zehn Stunden dauern soll. 8800 Kilometer hat der Tank dann hinter sich gebracht – obwohl der Hersteller in Bayern ansässig ist. Denn, so Drexlin,

    "diesen Tank kann man nicht über zum Beispiel die Autobahn nach Karlsruhe bringen, wir sind ja nur 220 Kilometer in Luftlinie von dem Hersteller weg, auch über den Rhein-Main-Donaukanal verbietet sich leider ein Transport, weil mit einem Durchmesser von 10 Metern, also mit einer Höhe und auch mit einer Breite von 10 Metern ist dieser Edelstahltank wirklich viel zu breit und auch zu hoch, um ihn durch die Schleusen im Rhein-Main-Donaukanal durch zu bringen."

    Stattdessen mussten die Karlsruher den Tank die Donau hinab zum Schwarzen Meer, dann durch die Dardanellen, die Ägäis, um Sizilien herum, an Gibraltar vorbei und durch die Biskaya und den Ärmelkanal an die Holländische Küste verschiffen lassen – eine wochenlange Reise. Dennoch, so der Physiker, war es billiger, den Tank über diese Strecke zu verschiffen, als ihn in Karlsruhe zusammenschweißen zu lassen. Einmal dort angekommen, soll das Gefäß das größte und beste Vakuum umschließen, das auf der Erde herstellbar ist – um darin das kleinste Elementarteilchen zu wiegen, das Neutrino. Drexlin:

    "Dieses Teilchen durchdringt zum Beispiel unsere Erde, die Sonne, ganze Galaxien ohne Wechselwirkung, es ist fast masselos, und trotzdem ist es ganz besonders interessant, seine Masse zu messen, denn im Universum gibt es in jedem Kubikzentimeter 400 Teilchen dieser Art."

    Gern wüssten die Physiker mehr über dieses Teilchen. Weil es aber so leicht ist, lässt es sich kaum einfangen und vermessen. Und so verfiel die Physikergemeinschaft vor sieben Jahren auf einen Trick, mit dem sie das Teilchen wiegen will. Drexlin:

    "Wir sind darauf gekommen, dass dieses Teilchen ja zusammen – bei einem speziellen radioaktiven Zerfall mit einem Elektron erzeugt wird. Und wenn man das Teilchen selber nicht messen kann, so kann man dann doch das gleichzeitig dabei entstandene Elektron sehr genau messen, und das ist genau die Zielsetzung, die wir gegeben haben, die Energie dieses bei dem Zerfall entstehenden Elektrons sehr genau zu messen."

    Die bei diesem Zerfall freiwerdende Energie ist immer gleich groß, aber ungleich verteilt: Mal trägt ein Elektron den Löwenanteil, mal das Neutrino. Die Physiker haben daher eine elektrische Barriere erdacht, in der die Elektronen am weitesten kommen, die fast die gesamte Energie abbekommen haben. Und misst man, wie viel Energie das ist, kann man daraus die Masse des Neutrinos errechnen. Die Neutronen-Waage ist insgesamt 70 Meter lang; 24 Meter davon werden auf den luftleeren Tank entfallen, in dem die Elektronen gegen die elektrische Barriere anrennen sollen. Drexlin:

    "Wir müssen für die Elektronen Raum schaffen, denn nur wenn sie genügend Raum haben und diesen magnetischen Feldlinien, die sich immer weiter verdünnen in diesem Spektrometer folgen können, dann können wir ihre Energie sehr genau bestimmen."

    Deshalb wird der Tank ein zehn Mal größeres Vakuum umschließen als bisher üblich ist. Ab morgen Abend können die Physiker damit beginnen, den Tank und die Waage zu installieren. Das wird rund drei bis vier Jahre dauern, dann können die Messungen starten. Guido Drexlin hofft, die ersten Ergebnisse schon nach einem halben Jahr erzielen zu können.