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Traumartige Sequenzen und Volkstradition

Iannis Xenakis, Aram Chatschaturjan und Bernd Alois Zimmermann: Sie alle sind Komponisten der Neuen Musik, deren Werke, in den 60er- und 80er-Jahren eingespielt, nun zum Teil remastert und neu veröffentlicht worden sind.

Von Frank Kämpfer |
    Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918-1970, links) während einer Probe im Kölner Opernhaus am 12. Februar 1965
    Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918-1970, links) während einer Probe im Kölner Opernhaus am 12. Februar 1965 (picture alliance / dpa / Otto Noecker)
    Im Folgenden geht es um historische Aufnahmen – attraktiverweise von Komponisten und Werken der Moderne und der Neuen Musik. Am Mikrofon Frank Kämpfer. Ich stelle Ihnen heute Werke von Iannis Xenakis, Aram Chatschaturjan und Bernd Alois Zimmermann vor, in Gestalt namhafter Einspielungen aus den 60er- und 80er-Jahren, die jetzt wieder veröffentlicht worden sind.

    "Bernd Alois Zimmermann: "Photoptosis"
    RSO Berlin. Leitung: Hans Zender
    CD Take 6"

    Welch ein Schwebezustand, welch ein Gären – traumartig queren Sequenzen, die unscharf an etwas erinnern – unüberhörbar ist ein permanentes Pulsieren. So klingt ein Alarmzustand, kein Idyll. Komponist Bernd Alois Zimmermann, Jahrgang 1919, drängt sein Orchesterprelude "Photoptosis" alsbald in finale Entfesselung; Dramatik und Intensität nehmen sprunghaft radikal zu.

    "Photoptosis" – griechisch für: 'Lichteinfall' – gehört ins Spätwerk des Komponisten und gilt als Beispiel für Zimmermanns Experimentieren mit Klangfarben – für Dehnung und Definition musikalischer Zeit. Vierzig Jahre nach dem Selbstmord des Komponisten gilt "Photoptosis" als ein Schlüsselwerk der Neuen Musik. Dass es sich darin lediglich um Belange von Technischem drehe, um arithmetischen Umgang mit "Zeit" ist heute kaum haltbar; nicht minder wichtig wie die Betrachtung von Material und Struktur ist der Blick auf die im Opus zitierten, das heißt herbeigerufenen verschiedenen Zeiten und Zeit-Geiste.

    Die Zitatencollage im Zentrum des Werks, die unter anderem Wagners "Parsifal", Beethovens "Neunte", Skrjabins "Poeme" und den alten Hymnus "Veni Creator" reaktiviert, legt eine deutliche Spur: Das Opus birgt höchst Existenzielles, Unabgegoltenes: Im Kompositionsjahr ’68 beruft Zimmermann sich nicht auf die Studentenunruhen, sondern auf das Sujet "der Bitte des Menschen um Beistand", das heißt die unbeantwortbare Frage nach Dasein und Sinn.

    "Photoptosis" liegt hier in einer Aufnahme vor, die auch aus heutiger Sicht eine Referenz-Einspielung darstellt. Das Radio-Sinfonieorchester Berlin hat sie 1969 unter dem damals jungen Hans Zender im Sender Freies Berlin produziert. Restauriert und remastert von Ingo Schmidt-Lukas erschien sie kürzlich in der neuen Studio-Reihe des Labels WERGO zum zweiten Mal auf dem Markt.
    Auf der CD finden sich noch zwei andere Spätwerke Zimmermanns: "Tratto II", eine für die Weltausstellung in Osaka komponierte elektronische Arbeit, sowie das "Concerto pour violoncelle et orchestre en form de 'Pas de trois'". Der Original-Text der alten Schallplattenhülle verweist die drei Werke kompetent aufeinander – jedoch wünscht man sich einen Werkkommentar aus heutiger Sicht, der tiefer zu loten wagt als vor vier Jahrzehnten. Das Cello-Konzert ist zugleich absolute als auch Theater-Musik; die fünf Sätze wirken sehr heterogen, partiell Klänge erforschend, partiell klangmalerisch. Bemerkenswert, wie Siegfried Palm sich wie ein Ensemblespieler ins Gesamtgefüge einpasst. Im zweiten Abschnitt "Allegro" ist er eindeutig Solist.

    "Bernd Alois Zimmermann: "Tempo di marcia" aus: "Concerto pour violoncelle et orchestre"
    SO des Südwestfunks Baden-Baden. Leitung: Ernest Bour.
    Solist: Siegfried Palm, Violoncello
    CD Take 2"

    Bernd Alois Zimmermanns Violoncellokonzert – beim Label WERGO wiederveröffentlicht in einer Aufnahme von 1969 mit dem Sinfonieorchester des Südwestfunks Baden-Baden unter der Leitung von Ernest Bour.

    Ganz anders klingt es von der nächsten CD: Ihr hört man das Historische weitaus deutlicher an – das Ringen des musikalischen Urhebers um Substanz und Wahrhaftigkeit hat ganz andere Konditionen. Aram Chatschaturjan, geboren 1903 bei Tbilissi (Georgien), von der Herkunft Armenier, schrieb seine Instrumentalkonzerte zur Zeit der Stalin’schen Repressionen. Bereits im Vorfeld der Realismus-Doktrin von 1948 geriet auch Chatschaturjan ins Visier der Kulturpolitik. Er wich aus, zog sich auf Film und Theater zurück – doch ohnehin gründet sein gesamtes kompositorisches Werk auf der Vorstellung, zeitgenössisches Komponieren müsse mit den Wurzeln, mit der Stimme der Heimat, mit Volkstraditionen korrespondieren.

    Vielleicht resultiert daraus seine besondere Verbindung mit Prag, oder einem in der Nachkriegszeit auffälligen Interesse des tschechoslowakischen Musikbetriebs an seiner Musik. Bemerkenswerte Aufnahmen dokumentieren dies – das Prager Label Supraphon hat sie auf einer Doppel-CD zusammengestellt. Das Persönlichste dabei, der Komponist am Klavier:

    "Aram Chatschaturjan: "Sabre Dance"
    Aram Chatschaturjan, Klavier
    CD 2, Take 1"

    Aram Chatschaturjan mit dem berühmten kurdischen "Säbeltanz" aus der Suite "Gajaneh"; der Komponist schrieb diesen Tanz 1941 für die Premiere des vor den Deutschen evakuierten Leningrader Kirov-Theaters in Perm im Ural. Hier in der ungestümen Klavierdarbietung dokumentiert die Miniatur weniger die historische Position seines Urhebers in der Welt der Moderne als vielmehr Vitalität und Temperament. Schroffheit und eine Vorliebe für Gegensätzlichkeit, Impuls und Rhythmus mögen die avancierten Momente im Wesen wie im Werk Chatschaturjans gewesen sein.

    Im Zentrum der Doppel-CD stehen allerdings die drei virtuosen Instrumentalkonzerte. Darunter das Violinkonzert, aufgenommen beim Prager Frühling 1959 mit Oleg Kagan und dem Komponisten am Pult, aber auch das frühe Klavierkonzert mit dem faszinierenden, heute vergessenen Antonín Jemelík am Instrument. Ein Prager Tonstudio hat diese historischen Dokumente digitalisiert und remastert, zugleich ihre unvergleichliche Aura zu erhalten vermocht. Es mag vielleicht der Aufnahmetechnik der früheren Jahre geschuldet sein, im "Violoncellokonzert" jedenfalls finden sich unerwartet auch Klänge, die aufhorchen lassen: kein pseudo-fröhlicher Nationaltanz, nicht die bei Chatschaturjan fast obligatorischen Orientalismen klingen hier an, sondern Farben seltsamer Düsternis, Flächiges, im Soloinstrument unüberhörbar ein Duktus der Nachdenklichkeit.

    "Aram Chatschaturjan: "Andante Sostenuto" aus: "Cello Concerto in E Minor"
    Staatliches Symphonieorchester der UdSSR, Leitung: Aleksandr Gauk
    Svjatoslav Knuševickij, Violoncello
    CD 1, Take 5"

    Soweit der Anfang des mittleren Satzes aus dem Violoncellokonzert von Aram Chatschaturjan – hier in einer historischen Aufnahme von 1959 mit Svjatoslav Knuševickij, Violoncello, und dem Staatlichen Symphonieorchester der UdSSR unter der Leitung von Aleksandr Gauk.

    Die dritte und letzte CD, die ich Ihnen heute anspielen will, ist ein historisches Dokument zuallererst ob ihrer Besetzung: Am Uraufführungstag, am 15. September 1985 musizierten das damals sehr aktive Ensemble Köln, das noch junge Ensemble Modern aus Frankfurt und die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler aus Leipzig gemeinsam – und am Pult stand kein Geringerer als der 72-jährige Ernest Bour. Ihr Gegenstand, "Alax" von Iannis Xenakis, ein Auftragswerk des West-deutschen Rundfunks, setzte drei Formationen voraus, die im Konzert-Raum verteilt ein gleichseitiges Dreieck abgaben.

    Die Verräumlichung von Klängen beschäftigte den Komponisten bereits in den 1960er-Jahren. Dabei ging es ihm um die Realisierung einer gewissen akustischen Mehrdimensionalität, um die kompositorische Darstellung von Klangbahnen und –bewegungen, die sich bündeln lassen, einander gar überlagern. Im Falle von "Alax" entwarf der Komponist einen Hör-Raum, in dem sich Klänge und Klang-Aktionen bis ins Extrem verdichten ließen, indem drei separate, jedoch gleich besetzte Ensembles wie ein im Raum verteiltes Orchester agierten.

    Das Live-Erlebnis war seinerzeit in seiner Wirkung immens – die Stereofassung des Tonmitschnitts spiegelt dies nur reduziert. Vor allem am Schluss, wenn die Schlagwerk-Kaskaden losstürmen, ist der Tuttiklang nur mehr schwer differenzierbar; das Hörbeispiel stammt deshalb aus der Anfangsregion, in der sich Motive, Akzente, Instrumente erst einmal artikulieren, echohaft durch den Raum bewegen, und sich auf zunächst sehr transparente Weise zu verketten beginnen.

    "Iannis Xenakis: "Alax"
    Ensemble Modern, Ensemble Köln, Gruppe Neue Musik Hanns Eisler Leipzig
    Leitung: Ernest Bour
    CD Take 1"

    Ein Ausschnitt aus Iannis Xenakis Komposition Alax für drei identisch besetzte Ensembles. Der WDR-Mitschnitt von 1985 erschien in diesem Jahr beim Label Ensemble Modern Medien – bemerkenswerter Weise ist auch Beethovens Violinkonzert auf der Scheibe enthalten, gleichfalls dargeboten vom Ensemble Modern. Eine CD also von doppelt dokumentarischem Wert. – Zuvor habe ich Ihnen eine bei Supraphon erschienene Doppel-CD mit Werken von Aram Chatschturjan und bei WERGO neu aufgelegte Spätwerke von Bernd Alois Zimmermann angespielt. Soweit für heute DIE NEUE PLATTE – ausgewählt und kommentiert von Frank Kämpfer.


    Diskografie

    Bernd Alois Zimmermann: "Photoptosis"
    RSO Berlin. Leitung: Hans Zender
    CD WERGO Wer 6776 2
    Take 6

    Bernd Alois Zimmermann: "Tempo di marcia" aus: "Concerto pour violoncelle et orchestre"
    SO des Südwestfunks Baden-Baden. Leitung: Ernest Bour. Solist: Siegfried Palm, Violoncello
    CD WERGO Wer 6776 2
    Take 2

    Aram Chatschaturjan: "Sabre Dance"
    Aram Chatschaturjan, Klavier
    CD Suphraphon SU 4100-2, LC 00358
    Disc 2, Take 1

    Aram Chatschaturjan: "Andante Sostenuto" aus: "Cello Concerto in E Minor"
    Staatliches Symphonieorchester der UdSSR, Leitung: Aleksandr Gauk
    Svjatoslav Knuševickij, Violoncello
    CD Suphraphon SU 4100-2, LC 00358
    Disc 1, Take 5

    Iannis Xenakis: "Alax"
    Ensemble Modern, Ensemble Köln, Gruppe Neue Musik Hanns Eisler Leipzig
    Leitung: Ernest Bour
    CD Ensemble Modern Medien MCD-17, LC 14544
    Take 1