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Trügerische Ruhe

In Brasilien, Lateinamerikas größter Demokratie, demonstrierte das organisierte Verbrechen vor wenigen Tagen deutlich wie selten zuvor seine Macht: Bei der größten Serie von Attentaten und Häftlingsrevolten in der Geschichte des Tropenlandes wurden über 130 Menschen, darunter viele Polizeibeamte, Gefängniswärter und Feuerwehrleute Sao Paulos ermordet. Brasiliens größte Verbrecherorganisation rächte sich damit dafür, dass 765 inhaftierte Führer in abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse verlegt worden waren.

Von Klaus Hart | 20.05.2006
    In Brasilien, Lateinamerikas größter Demokratie, demonstrierte das organisierte Verbrechen vor wenigen Tagen deutlich wie selten zuvor seine Macht: Bei der größten Serie von Attentaten und Häftlingsrevolten in der Geschichte des Tropenlandes wurden gemäß amtlichen Angaben innerhalb weniger Tage über 130 Menschen, darunter viele Polizeibeamte, Gefängniswärter und Feuerwehrleute Sao Paulos ermordet. Brasiliens größte Verbrecherorganisation, das so genannte Erste Kommando, kurz PCC, rächte sich dafür, dass 765 inhaftierte Führer in abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse des Teilstaates Sao Paulo verlegt worden waren. Wieder einmal kapitulierte der Staat vor den Verbrechern, musste sich deren Macht beugen, handelte notgedrungen mit PCC-Chef Marcola einen Waffenstillstand, einen Stopp der Attentatswelle aus. Doch von Ruhe und Sicherheit kann jetzt in Sao Paulo, Rio de Janeiro und den anderen Millionenstädten dennoch keine Rede sein.

    Schüsse, MP-Salven, Granatenexplosionen, Schreie, Gräueltaten, viele Tote - in den überall in Sao Paulo offen auf CD verkauften Gewalthymnen drohen die nationalen Gangstersyndikate dem Staat seit Jahren Terror in jeder Form an. Jetzt haben sie Lateinamerikas Wirtschafts- und Finanzzentrum heftig wie nie attackiert, die drittgrößte Stadt der Welt regelrecht lahm gelegt. Rund zwanzig Millionen Bewohner in Angst und Schrecken versetzt, den Handel, das kulturelle Leben, den Verkehr selbst in der City paralysiert. Zustände wie in Bagdad, titeln die Zeitungen. Denn in Brasilien werden jährlich über fünfzigtausend Menschen getötet, mehr als im Irakkrieg.

    "Wo sind unsere Menschenrechte", klagt die Frau eines ermordeten Polizeibeamten bei der Beerdigung:

    "Die Banditen agieren völlig frei, doch die einfachen Stadtbewohner sind hilflos, haben keinerlei Rechte, müssen sich zuhause verbarrikadieren, können nicht mehr auf die Straße. Das ist eine Schande für unser Land."

    Nur in den kleinen, relativ gut bewachten Mittel- und Oberschichts-Vierteln Sao Paulos herrscht wieder beinahe Normalität, trügerische Ruhe. Nicht aber an der riesigen, rasch wachsenden Slumperipherie. Denn dort hat das organisierte Verbrechen seine Hochburgen, produziert sogar Maschinengewehre, hat Raketenwerfer, rekrutiert auch Minderjährige. Dort in den Slums machte eine Afghanin, die größtenteils in Aachen aufgewachsene Maryam Alekozai ihr soziales Jahr.

    "Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder verlieren Kinder ihre Väter. Das ist hier gar nicht so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Hass, ganz tiefen Hass. Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Die Gewalt und Ungerechtigkeit, die in diesem Land herrschen, spiegeln sich in deren Augen unübersehbar."

    Manche Kindersoldaten Sao Paulos töteten bereits bis zu vierzig Menschen. Regelmäßig verhängen die urbanen Warlords Ausgangssperren über die Slums. Doch auch in Rio de Janeiro dominieren die selbst mit NATO-MGs ausgerüsteten Banditenmilizen neofeudal ihren Parallelstaat der Armenviertel. Sie terrorisieren die Bewohner, ermorden sogar Bürgerrechtler. Rios Chefinspektorin der Zivilpolizei, Marina Maggessi, ist entsetzt, dass sogar weltweit bekannte Fußballprofis sich mit berüchtigten Gangsterbossen anfreundeten.

    "Das sind Tyrannen. Sie verbrennen Menschen am lebendigen Leib, zerstückeln Missliebige, begehen Gräueltaten jeder Art, herrschen über die Slums mit aller Brutalität. Die Bewohner pflegen zu diesen Tyrannen nicht selten eine Art Hassliebe, da manche zur Imageverbesserung soziale Aufgaben übernehmen, die eigentlich Sache des Staates sein müssten. Banditenbosse bezahlen Leuten manchmal das Kochgas, die Miete, Essen und selbst Beerdigungen. Aber wenn sich Sportgrößen mit Drogengangstern mischen, ist dies wirklich das Ende."

    Kam die jüngste Serie von Attentaten auf Polizisten überraschend? Seit 15 Jahren machen die Banditenkommandos systematisch Jagd auf uns, sagt Chefinspektorin Maggessi. "Allein in Rio werden jeden Tag drei bis vier Beamte ermordet."

    Was führte zum Machtzuwachs des organisierten Verbrechens? Die Kirche sieht die Gründe dafür in der tief verwurzelten Kultur der Gewalt und Korruption, in der sozialen Apartheid, den Massakern und Folterungen in den überfüllten Gefängnissen und der systematischen Verrohung der Häftlinge und nennt außerdem die extrem ungerechte Einkommensverteilung, die perversen Sozialkontraste. Brasilien ist längst kein armes Drittweltland mehr, sondern die 13. Wirtschaftsnation. Doch in Sao Paulo, der reichsten Stadt Lateinamerikas, gibt es Slums wie in Kalkutta oder im afrikanischen Lagos. Der österreichische Pfarrer Günther Zgubic leitet die nationale Gefangenenseelsorge Brasiliens:

    "Dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens keine rechtlich abgesicherte Arbeit hat, also eine unglaubliche Arbeitslosigkeit. Die offiziellen Zahlen von 8, 10 Prozent, das sind ja alles gefälschte Zahlen. Das bedeutet eben, dass die Bevölkerung ums Überleben kämpft und sich daran gewöhnt. Wenn wir kein Sozialstaat sind, dann müssen wir eben Überfälle machen. In Brasilien, das unglaublich reich ist, der Staat hat kaum Geld. Es ist kein Geld da für das Gesundheitswesen, für das Schulwesen, für das Wohnungswesen, für den ganzen Rechtsvollzug. Wir haben Riesengebiete, wo es keine Richter gibt, wo es zu wenig Gerichte überhaupt gibt, keine Rechtsanwälte gibt. Ich habe einen Gefangenen angetroffen, der ist seit zehn Jahren gefangen und nicht verurteilt. Seit zehn Jahren wartet er auf ein Urteil."

    Allein in Sao Paulo müssten andererseits tausende Häftlinge längst auf freiem Fuß sein, doch laut Gefangenenseelsorge stellt die träge Justiz einfach die Entlassungspapiere nicht aus. Auch deshalb gibt es die vielen Revolten, wie in dieser Anstalt:

    "O Iraque è aqui" - der Irak ist hier, singt Brasiliens Sambastar Jorge Aragao, "die Leute haben Angst, in den Gefängnissen, in den Ghettos. Doch es heißt immer, hier spielt man Fußball und Samba, hier ist es gut, hier ist alles in bester Ordnung."