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Tschechien
Der Fall Jan Palach

Vor 45 Jahren übergoss sich der 20-jährige Student Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz mit Benzin und verbrannte sich. Er wollte damit gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch Warschauer-Pakt-Truppen protestieren und seine Landsleute aus ihrer Lethargie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aufrütteln.

Von Silja Schultheis | 26.01.2014
    "Auf dem Wenzelsplatz hat sich gerade ein Student angezündet – aus Protest gegen die Okkupation" – "Tut so etwas ein normaler Mensch?" -
    "Normal? Was ist denn normal? Dass in den Straßen Panzer herumstehen?"
    "Der brennende Dornbusch" – das ist der erste Spielfilm über die Selbstverbrennung des Jan Palach vom Januar 1969. Vor einem Jahr hatte der Film der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland in Tschechien Premiere. Holland hatte Ende der 1960er Jahre in Prag studiert und hier die Selbstverbrennung Palachs und ihre Wirkung auf die tschechische Gesellschaft miterlebt.
    "Ich wollte mit dem Film zeigen, wie schwierig es damals war: Wie leicht man dem Druck des Regimes unterliegen konnte, das einem die Verantwortung und die Freiheit genommen hat. Und gleichzeitig wollte ich die Frage aufwerfen, warum manche Persönlichkeiten gegen den Strom schwimmen. Und was der Preis dafür ist."
    Mit ihrem Film hat Agnieszka Holland in Tschechien die Debatte über Jan Palach neu entfacht.
    "Eine derart extreme Tat wie eine Selbstverbrennung wirft viele Fragen auf", sagt der Historiker Petr Blazek. "Macht es Sinn, sich für bestimmte Ideale selbst zu töten? Erlaubt das die kulturelle und religiöse Tradition in Europa?"
    Petr Blazek ist einer der Wortführer der neuen Debatte um Jan Palach. Mit anderen jungen Historikern hat er eine multimediale, mehrsprachige Webseite über Jan Palach ins Leben gerufen – mit zum Teil erstmals veröffentlichten Dokumenten.
    Eine Tat, die die Nation erschüttert
    19. Januar 1969 – Im Tschechoslowakischen Rundfunk wird der Tod von Jan Palach bekannt gegeben. Der 20-jährige Student hatte sich drei Tage vorher auf dem Prager Wenzelsplatz mit Benzin übergossen und angezündet – aus Protest gegen die Lethargie, die sich in der Gesellschaft breitmachte, nach der Niederschlagung des 'Prager Frühlings' durch Truppen des Warschauer Paktes. Palach forderte die Abschaffung der Zensur – andernfalls würden weitere Studenten seinem Beispiel folgen.
    Palachs Tat erschütterte die tschechische Gesellschaft – und schockierte das Ausland. Selbstverbrennung als Form des politischen Protestes – das war bis dahin von buddhistischen Mönchen in Asien bekannt, nicht aber mitten in Europa. Auf Palachs Tod reagierten der Papst und der UN-Generalsekretär. In Prag gaben Zehntausende Tschechen Palach das letzte Geleit.
    Unmittelbare politische Folgen hatte Palachs Tat nicht, vom kommunistischen Regime wurde der Student als verwirrter Selbstmörder banalisiert und seine Forderung nach Aufhebung der Zensur naturgemäß nicht erfüllt.
    Schon bald war die Erschütterung wieder der Apathie gewichen, aus der Jan Palach seine Landsleute aufrütteln wollte. Die folgenden 20 Jahre standen im Zeichen der sogenannten "Normalisierung": Die Tschechoslowakei kehrte politisch in die Zeit vor dem "Prager Frühling" zurück, die Aufbruchstimmung wich einer bleiernen Lethargie, einer Zeit der Kompromisse und Verbiegungen.
    Heute sei die Erinnerung an Palach für viele Tschechen mit Gewissensbissen über ihr eigenes Verhalten damals verbunden, sagte der Publizist Karel Hvizdala kürzlich im Tschechischen Rundfunk.
    Streit um Sinn und Unsinn
    Palachs extreme Tat ist in Tschechien bis heute umstritten. Während die einen darin ein wichtiges moralisches Signal sehen, halten andere, wie die Bibliothekarin und Zeitzeugin Daniela Krakorova sie für ein sinnloses Opfer:
    "Unser Leben ist das Kostbarste, was wir haben. Und es für eine Meinung, eine politische oder religiöse, zu opfern, finde ich nicht richtig. Zumal Palach mit seiner Tat ohnehin nichts gegen das Böse ausrichten konnte."
    Für Krakorovas Freundin, die Schriftstellerin Lenka Prochazkova, geht es vor allem um die symbolische Bedeutung der Selbstverbrennung:
    "Jan Palach hat versucht, dem tschechischen Volk seine Seele zu retten. Und das ist ihm in gewisser Weise auch gelungen. Unsere Geschichte basiert auf dem Mut Einzelner. Das ist unser historisches Fundament für die Zukunft."
    Mut versus Feigheit, Rückgrat versus Konformismus, Engagement versus Passivität – Fragen, die auch heute aktuell sind, meint Dominik Duka, Erzbischof von Prag:
    "Auch in Freiheit ist es nicht leicht, ein moralisch sauberes Leben zu führen. Ich verstehe die Botschaft Palachs als Appell: Engagiert euch mehr und übernehmt Verantwortung für die Entwicklung unserer Gesellschaft!"
    Ähnlich sieht es der junge Grafiker Jan Poukar – er will mit seiner NGO Palachs Geburtshaus zum Museum umbauen und darin vor allem für Schulklassen den Bogen von Jan Palach in die Gegenwart schlagen.
    Vielleicht motivieren solche Pläne ja künftig auch mehr Menschen, sich politisch zu engagieren. Noch ist Politik für viele junge Tschechen mit Korruption und Klientelwirtschaft behaftet; die Enttäuschung über die politischen Eliten seit 1989 ist groß. Die Publizistin und ehemalige Dissidentin Petruska Sustrova ist optimistisch:
    "Ich glaube, mit gemeinsamer Anstrengung, Gesetzesänderungen und der Wahl integrerer Leute in die Politik können wir etwas verändern. Wir sind nicht dazu verdammt, dass das so bleibt."