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Türkei nach dem Putschversuch
"Methoden, die während der Naziherrschaft benutzt wurden"

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bezeichnet das Vorgehen der türkischen Führung gegen Oppositionelle und Journalisten als unwürdig für ein Land, das Europarat und Nato angehöre. Im DLF zog er Sanktionen der EU in Betracht. Die Beitrittsverhandlungen seien ohnehin schon "theoretisch ausgesetzt".

Jean Asselborn im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.11.2016
    Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn während eines Treffens mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow in Moskau.
    Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (picture alliance / dpa - Sergey Pyatakov)
    Präsident Recep Tayyip Erdogan setze die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft und schaffe damit eine "Gebrauchsanweisung zur Diktatur". Der Umgang mit ehemaligen Staatsbediensteten erinnere ihn, so Asselborn, an "Methoden, die während der Naziherrschaft benutzt wurden".
    Theoretisch seien die Beitrittsverhandlungen mit der EU aktuell ausgesetzt, betonte der luxemburgische Außenminister. Sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, müsse man diese Frage sowieso nicht weiter diskutieren. Er fügte hinzu, Europa könnte wirtschaftliche Sanktionen als Druckmittel einsetzen. Einen Ausschluss der Türkei aus der Nato befürworte er zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nicht.
    Mit Blick auf den Flüchtlingspakt unterstrich Asselborn, "als EU brauchen wir die Türkei, damit man es fertigbringt, die Flüchtlingsströme in Würde zu organisieren".

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Christiane Kaess: Die Verhaftungswelle in der Türkei in der vergangenen Woche hat heftige Kritik hervorgerufen: Untersuchungshaft für Abgeordnete der prokurdischen HDP und für Mitarbeiter der türkischen Oppositionszeitung "Cumhuriyet". Die Repressionen in der Türkei nach dem Militärputsch haben in den letzten Tagen einen Höhepunkt erreicht. Die HDP setzte aus Protest ihre parlamentarische Arbeit teilweise aus. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtete gestern, die EU-Kommission stelle der Türkei ein verheerendes Zeugnis aus. Im neuen Fortschrittsbericht zu den EU-Beitrittskandidaten soll es zur Meinungsfreiheit heißen: ein schwerer Rückfall. Das Vorgehen im Kampf gegen den Terrorismus sei selektiv und willkürlich und auch bei der Unabhängigkeit der Justiz wird von einem Rückfall gesprochen. Der türkische Staat gehe nicht nur gegen einzelne Personen vor, sondern stelle sie wegen angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung kollektiv unter Verdacht. Am Mittwoch soll der Bericht vorgestellt werden.
    - Am Telefon ist Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg. Guten Morgen.
    Jean Asselborn: Guten Morgen, Madame Kaess.
    Kaess: Herr Asselborn, ist es Zeit, dass die EU gegenüber der Türkei Klartext redet und die Beitrittsverhandlungen einstellt?
    Asselborn: Ich glaube, dass das, was Sie angesprochen haben - vielleicht sollten wir uns zuerst über die Lage, der Analyse der Menschenrechte, wie das aussieht -, ich glaube, dass ein Wort in der Türkei heute prägend ist. Das ist Angst. Es gibt Millionen Menschen, ob Kurden oder Türkei, die haben Angst um ihre Existenz. Sie können von Stunde auf Stunde im Gefängnis landen. Das ist unwürdig für ein Land, was Mitglied werden will der Europäischen Union, was Mitglied ist des Europarats und Mitglied ist auch der NATO. Ich habe gestern auch Berichte bekommen, wenn Sie mir vielleicht eine Minute geben, ...
    Kaess: Bitte!
    Methoden der Nazi-Herrschaft in der Türkei
    Asselborn: ... , was wirklich sich abspielt. Ich glaube, wenn man heute in der Türkei Menschenrechtsverteidiger ist, dann wird man verdächtigt, entweder Gülen-Anhänger zu sein oder Terrorist. Es ist nicht abwegig, zu behaupten, dass die Tortur wieder Ausmaße bekommt, die unkontrollierbar sind. Sie wissen, dass Sie fünf Tage eingesperrt werden können, ohne dass Sie einen Anwalt sehen. Es gibt 11.000 nur Gewerkschafter, die seit dem 15. Juli vom Dienst entlassen wurden. In der Pressefreiheitsdebatte ist die Türkei an 151. Stelle von 180 und man nimmt an, dass 10.000 Journalisten ohne Arbeit sind. Aber das Schlimmste ist dabei, dass in der Türkei etwas eingesetzt hat, gesellschaftlich oder sozial gesehen: ein ziviler Tod. Von allen Entlassenen wird der Name im Amtsblatt publiziert. Sie haben keine Chance mehr, eine Stelle zu finden. Die Diplome und auch die Pässe werden zerstört. Die Menschen haben kein Einkommen mehr für ihre Familie, sie verlieren ihre Wohnung, sie leiden Hunger. Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Nazi-Herrschaft benutzt wurden. Und das ist eine ganz, ganz schlimme Evolution, die gekommen ist in der Türkei seit Juli, die wir als Europäische Union nicht einfach hinnehmen dürfen.
    Kaess: Herr Asselborn, ja genau. Aber da stellt sich die Frage bei allem, was Sie uns aufzählen: Was heißt das nicht hinnehmen? Das heißt konkret, die Beitrittsverhandlungen sollten gestoppt werden?
    Asselborn: Mit den Beitrittsverhandlungen, wissen Sie, viele meiner Kollegen, auch Außenminister hatten die große Hoffnung, als wir Anfang September uns in Straßburg gesehen haben im Europarat. Von der Wiedereinführung der Todesstrafe hatte man praktisch Abschied genommen. Der Außenminister der Türkei war anwesend bei dieser Debatte und hat wortwörtlich gesagt, ich will auch in einem Rechtsstaat leben so wie ihr auch. Und ich glaube, er hat sogar daran geglaubt. Es wurde ein mündliches Engagement im Europarat von der Türkei genommen, dass die Dekrete vom 15. Juli und danach von den Experten des Europarats analysiert werden sollten, ob sie konform sind zu der Menschenrechtskonvention, zum Geist der Menschenrechtskonvention. Das wurde alles gebrochen jetzt in den letzten Tagen.
    Kaess: Aber, Herr Asselborn, wenn ich hier einmal einhaken darf? Sie verweisen jetzt immer wieder auf diese Missstände und die sind ja bekannt. Deswegen noch mal meine Frage: Was muss die Konsequenz sein vonseiten der EU? Ist das ein deutliches Signal, wenn man sagt, wir stoppen diese Beitrittsverhandlungen?
    Asselborn: Ich gebe Ihnen ja Recht, dass das wichtig ist für Sie und auch für mich. Aber lassen Sie mich vielleicht sagen: Im Europarat hatten wir Hoffnung, dass wirklich nach dem Coup die Menschenrechtskonvention des Europarats dienen würde, um aus diesem Schlamassel rauszukommen.
    Kaess: Aber das hat sich nicht bestätigt.
    Gebrauchsanweisung zu einer Diktatur
    Asselborn: Das hat sich nicht bestätigt. Und darum glaube ich, wir sind in einer Lage, um das noch zu sagen, wo Präsident Erdogan sagt, der Kampf gegen Gülen, der Kampf gegen Terror, er hört nur mehr auf sein Volk, alles andere zählt nicht mehr. Er schaltet seine Person gleich mit der Allmächtigkeit im Staat und die Rechtsstaatlichkeit setzt er außer Kraft. Das ist eine Gebrauchsanweisung zu einer Diktatur.
    Und wir jetzt als Europäische Union: Ich glaube, das allererste, was ich Ihnen antworte, ist, 50 Prozent der Exporte der Türkei gehen in die Europäische Union. Im Vergleich zu Russland, wo es nur zwei Prozent sind. 60 Prozent der Investitionen in die Türkei kommen aus der Europäischen Union. Das ist ein absolutes Druckmittel. Und in einem gewissen Moment kommen wir nicht daran vorbei, dieses Druckmittel einzusetzen, um die unsägliche Lage der Menschenrechte zu konterkarieren.
    Kaess: Das heißt, nicht die Beitrittsverhandlungen einstellen, sondern andere Sanktionen, wenn ich Sie richtig verstehe?
    Asselborn: Die Beitrittsverhandlungen, auch die ganzen Verhandlungen zur Zollunion abbrechen, wenn die Todesstrafe eingeführt wird, darüber brauchen wir nicht mehr zu diskutieren. Aber Sie müssen auch überlegen, das verkennt man manchmal in Europa, dass es Millionen Menschen in der Türkei gibt, die glauben, dass die einzige Hoffnung, um aus diesem Loch herauszukommen, die Europäische Union ist. Aber ich gebe Ihnen auch Recht: Aussetzen - theoretisch ist ausgesetzt jetzt zu diesem Zeitpunkt und die Debatte wird kommen. Das ist ganz klar. Die Flüchtlingsfrage wird ja immer damit verknüpft. Und ich glaube, dass wir ja ein gemeinsames Interesse haben, die Türkei und die Europäische Union, wenn man rationell überlegt. Aber wenn die Türkei ein unkontrollierbarer Staat wird, rechtsstaatlich gesehen, dann wird das Abkommen selbstverständlich auch in sich selbst zerfallen. Man muss Präsident Erdogan unverblümt, glaube ich, als Europäische Union und auch geschlossen vor Augen führen, was die Konsequenzen davon sind.
    Kaess: Darüber hinaus muss man sich ja fragen, wie verlässlich die Türkei überhaupt noch als NATO-Partner ist, denn die NATO beruht ja auch auf Werten wie Rechtsstaatlichkeit.
    Asselborn: Sie haben ganz Recht. In der Präambel, als die NATO gegründet wurde, von '49, dasselbe Jahr des Grundgesetzes auch, stehen Grundsätze der Demokratie, der Freiheit der Personen, der Rechtsstaatlichkeit drin. Ich gehe davon aus, dass die NATO qualitativ gesehen sich differenziert vom Warschauer Pakt. Die NATO sind natürlich auch Uniformen, Munition, Panzer und so weiter, Verteidigung. Das ist der Zweck. Aber die demokratischen Gepflogenheiten eines Rechtsstaats, die müssen zählen. Und diese krassen Aussetzer der Rechtsstaatlichkeit, die wir jetzt in der Türkei sehen, die werden den Weg zum NATO-Hauptquartier finden.
    Kaess: Heißt konkret, Herr Asselborn, die NATO-Mitgliedschaft der Türkei steht auf dem Spiel?
    Diskussion über NATO-Mitgliedschaft der Türkei wird kommen
    Asselborn: Nein, ich würde jetzt diesen Schritt noch nicht machen. Ich habe aber festgestellt, dass die Administration Obama dies deutlich gesagt hat. Und dass wir auch als Europäische Union oder die Länder der Europäischen Union, die in der NATO sind, dies nicht unterdrücken können. Eine Debatte auch über die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei als Mitglied der NATO kommen.
    Kaess: Auf der anderen Seite, Herr Asselborn, ist der Westen jetzt in Form der EU oder auch der NATO - Sie haben das angesprochen - doch auf die eine oder andere Art und Weise abhängig von der Türkei. Das Flüchtlingsabkommen haben Sie genannt. War es ein Fehler, sich immer mehr in diese Abhängigkeit hineinzubegeben?
    Asselborn: Ich glaube nicht, dass das ein Fehler ist. Wenn Sie auf die Landkarte schauen und Sie sehen, wo Syrien liegt, und Sie sehen, wo die Europäische Union ist, zwischen Syrien und Griechenland liegt die Türkei. Man muss ja auch der Türkei jedenfalls seit 2011 positiv ankreiden, dass sie fast drei Millionen Syrer aufgenommen hat. Das ist ja auch etwas, was sie geschultert haben. Und darum verstehe ich auch nicht, dass diese Verkrampfung jetzt einfach kommt. Die Türkei braucht die Hilfe Europas, um damit materiell auch richtig umzugehen. Und wir natürlich als Europäische Union brauchen die Türkei, damit man auch in Würde es fertig bringt, diese Flüchtlingsströme aus Syrien, aus dem Irak zu organisieren. Das war ja das Ziel, dass man anders umgeht als bis jetzt oder im Jahre 2015 mit den Menschen, die fliehen müssen vor dem Krieg in Syrien und im Irak.
    Kaess: ... sagt Jean Asselborn. Er ist Außenminister von Luxemburg. Danke für dieses Gespräch heute Morgen.
    Asselborn: Bitte, Madame Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.