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Ukraine-Konflikt
"Banditen und gewissenlose Abenteurer"

Die Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen, Marieluise Beck, zeigt Verständnis für die Aufkündigung der Waffenruhe in der Ukraine durch Präsident Poroschenko. Die Regierung könne die Bürger im Osten des Landes nicht einfach der "Mischung aus Freischärlern, Abenteurern und Banditen" überlassen, die sich dort herumtriebe.

Marieluise Beck im Gespräch mit Silvia Engels | 02.07.2014
    Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen)
    Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) (JOHN MACDOUGALL / AFP)
    Wenn eine Waffenruhe beendet werde, bedeute das zwar immer, dass Menschen ihr Leben lassen müssten, sagte Marieluise Beck, Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen, im Interview mit dem Deutschlandfunk. Doch in der Ostukraine habe "eine Mischung aus Freischärlern, Abenteurern, Banditen und Kriminellen" 27 Millionen Menschen als Geiseln genommen, sagte Beck mit Blick auf die prorussischen Separatisten. Es gebe kein Wasser und keine Elektrizität in den Regionen. Die Regierung habe eine Fürsorgepflicht ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber. "Das ist das große Dilemma, vor dem Präsident Poroschenko steht", so Beck. Zumal auch Russland in dem Konflikt "seine Finger im Spiel" habe.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Die ohnehin kaum eingehaltene Waffenruhe ist aufgehoben. Jetzt geht das ukrainische Militär in die Großoffensive. Artilleriefeuer auf Straßensperren der prorussischen Rebellen, Kampfflugzeuge bombardieren die Stellungen der Aufständischen. Präsident Petro Poroschenko setzt nun auf Härte, politisch wie auch militärisch.
    Die Krise in der Ukraine – meine Kollegin Silvia Engels hat darüber mit der Grünen-Außenpolitikerin Marieluise Beck gesprochen. Wie bewertet die Ukraine-Kennerin die Aufhebung der Waffenruhe?
    Marieluise Beck: Diese Waffenruhe ist ja nicht wirklich eingehalten worden. Die ukrainische Seite hatte den Tod von 27 Menschen zu beklagen. Natürlich gibt es ein zwiespältiges Gefühl, denn wenn eine Waffenruhe beendet wird, bedeutet das immer wieder, dass Menschen ihr Leben lassen müssen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch eine Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung in der Ostukraine, die wir manchmal vergessen. Es sind sieben Millionen Menschen, die inzwischen durch eine Mischung aus Freischärlern, Abenteurern, Banditen und Kriminellen als Geiseln genommen sind. Ein Beispiel dafür ist vielleicht, dass diese selbst ernannten Herrscher in der vergangenen Woche die Nationalbank geknackt haben und das Geld dort herausgeholt haben. Es gibt Entführungen, es gibt kein Wasser und keine Elektrizität mehr in den Regionen. Natürlich gibt es auch eine Fürsorgepflicht einer Regierung ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber.
    Silvia Engels: Aber durch Waffengewalt wird das Leben der Zivilbevölkerung in der Ostukraine auch nicht besser. Muss nicht jeder Gang zu den Waffen in einer solchen Situation verhindert werden?
    Beck: Es muss der Gang zu den Waffen verhindert werden, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, solche Freischärler, Banditen und wirklich gewissenlose Abenteurer, die sich dort herumtreiben, sie an einen Tisch zu zwingen, an dem sie wirklich ernsthaft verhandeln. Eine Regierung kann nicht ihre Bürgerinnen und Bürger diesen gewaltbereiten, selbst ernannten Herrschern einfach überlassen, und das ist das große Dilemma, vor dem Präsident Poroschenko steht.
    Engels: Macht man es sich nicht zu einfach, indem man die verschiedenen separatistischen Gruppen alle in die Rubrik Verbrecher und Gewalttäter sortiert?
    Das Problem ist die große Unübersichtlichkeit
    Beck: Das Problem ist die große Unübersichtlichkeit, einschließlich der Tatsache, dass ganz offensichtlich auch der Kreml seine Finger mit im Spiel hat. Wir haben tatsächlich eine beunruhigend bunte Mischung in diesem Gebiet von Bürgerinnen und Bürgern aus der Region selber, die aber oft zu den Verlierern gehört haben und jetzt auf einmal zu ungeahnten Positionen als Präsidenten, Bürgermeister, Verteidigungsminister und Ähnliches aufsteigen konnten, plus der großen Zahl - es wird geschätzt mindestens 5000 - russischen Abenteurer und Nationalisten, die sehr entschieden vorgehen, die zum Teil sehr gut ausgebildet sind, weil sie früher dem russischen Geheimdienst angehört haben, und die mit Waffen versorgt werden aus Russland, und das macht die Situation so überaus schwierig.
    Beunruhigende Drohung aus Russland
    Was mich wirklich beunruhigt ist, dass es Drohungen gibt auch auf hoher Ebene von Russland, wenn der Westen wirklich zu entschiedenen Sanktionen greifen würde, dann würde Russland sich völlig frei fühlen und richtig einmarschieren. Das zeigt, dass eigentlich damit implizit zugegeben wird, dass es schon einen halben Einmarsch von Russland gegeben hat, und dieser asymmetrischen Situation gegenüber sind alle so hilflos, also die Entschiedenheit des Kreml, Gewalt anzuwenden und Gewalttäter zu stützen, während die ukrainische Bevölkerung keinen Krieg will, die neue ukrainische Regierung keinen Krieg will und auch die Europäische Union keine Gewalt will.
    Müller: Die Osteuropa-Beauftragte der Grünen, Marieluise Beck, im Gespräch mit meiner Kollegin Silvia Engels.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.