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"Um nun in einer Hölle zugrunde zu gehen ... "

Auf der Suche nach einem möglichen Zufuchtsort hört die in Wien lebende jüdische Familie Karpel immer wieder den Namen Shanghai. Sie haben Glück und erreichen das letzte Schiff dorthin. Doch die Ankunft ist schockierend, so fremd und abstoßend wirkt das gelobte Shanghai. Detailreich und spannend erzählt Vivian Jeanette Kaplan nicht nur ein Stück Familiengeschichte, sondern zeigt, dass Judenverfolgung und Zweiter Weltkrieg über Auschwitz und Stalingrad weit hinausgingen.

Katharina Borchardt | 11.07.2006
    "Der Jude muss gehen – und sein Geld muss bleiben." Solche Sätze muss die Familie Karpel lesen, wenn sie beim Frühstück die Zeitung aufschlägt. Wien, 1938: Österreich wird ans Deutsche Reich angeschlossen und Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung gehören inzwischen zum Straßenbild. Juden werden verprügelt, enteignet und verhaftet. Man flüstert sich Gerüchte über erste Deportationen zu. Die Familie Karpel handelt mit Stoffen, Seidenstrümpfen und Handschuhen, doch auch ihr Geschäft wird von den Nazis übernommen; ihre Wertsachen müssen sie abgeben. Sie beschließen zu fliehen, doch viele Länder haben ihre Grenzen für die Flüchtlinge bereits geschlossen:

    Zitat aus "Von Wien nach Shanghai" (S. 77)
    Auf der Suche nach einem möglichen Zufluchtsort begegnet uns immer öfter ein bestimmter Name: "Shanghai". Auf der Straße hören wir im Vorübergehen abgezehrte Nachbarn sich das Wort hinter vorgehaltener Hand zuflüstern. […] Wir lechzen förmlich nach genaueren Informationen über diesen sagenhaften Ort. "Man braucht kein Visum und kein amtliches Zeugnis, und eine Passkontrolle gibt es in Shanghai auch nicht", erfahren wir.

    So packen die Karpels ihre Koffer, von denen der Großteil in Shanghai nicht eintreffen wird. Bis zum Schluss voller Angst, dass man sie trotz aller Bescheinigungen, Stempel und Abgaben nicht würde gehen lassen, erreichen sie schließlich das letzte Schiff nach Shanghai. Bis auf ein paar magere Habseligkeiten haben sie alles verloren.

    In den Details liegt das Ungeheuerliche der durchaus alltäglichen Vorgänge in jener Zeit. Der Band "Von Wien nach Shanghai" steckt voller kleiner Beobachtungen; man merkt sofort: Die Autorin Vivian Jeanette Kaplan hat gründlich recherchiert. Sie selbst nennt ihr Buch ein "kreatives Sachbuch", denn es handelt sich bei der Geschichte der Familie Karpel um eine wahre Geschichte. Es ist die Geschichte ihrer eigenen Familie, die sie aus der Perspektive ihrer Mutter Nini Karpel erzählt. Bemüht um ein Höchstmaß an historischer Genauigkeit, liegen dem Band vielfältige Recherchen und Gespräche mit Familienangehörigen zugrunde. Ein bisschen Fiktion aber bildet den Kitt, der aus dem wahrheitsgetreuen Bericht eine spannende Geschichte macht.

    Die Perspektive der Nini Karpel wird stellenweise von Briefen ergänzt, die sie von ihrem Verlobten Leopold erhält, der zunächst nach Italien geflohen ist. Diese Briefe fügen den Schilderungen eine weitere Perspektive hinzu und öffnen den politischen Horizont auch geographisch über Österreich hinaus. Leopold soll später ins gelobte Shanghai nachreisen. Als Nini Karpel dort endlich ankommt, ist sie geschockt:

    Zitat aus "Von Wien nach Shanghai" (S. 116)
    Ich sehe mir diese eigenartigen Menschen an, die eklige Klumpen auf die Straße spucken. Der Gestank steigt vom Fluss auf und die Hitze des Tages nimmt uns den Atem, als würden wir stranguliert. Ich stehe auf verfaulenden Planken, übergebe mich in das übel riechende Wasser und frage mich, ob wir der Gefahr in Europa entkommen sind, um nun in einer Hölle zugrunde zu gehen, wie wir sie uns in unseren schlimmsten Träumen nicht hätten ausmalen können.

    Ihr Überlebenswille aber ist groß und irgendwie richten sich die Flüchtlinge dann doch ein. Zunächst werden sie von einer christlichen Hilfsorganisation aufgenommen, die sowohl mit süßen Worten als auch materiellen Versprechungen versucht, die Juden zum Christentum zu bekehren. Diesen Bedrängungen entkommen, finden alle Familienangehörigen nach und nach eigene Unterkünfte und sogar Arbeit. Nini Karpel und ihr inzwischen eingetroffener Verlobter arbeiten für einige Zeit in einer Bar. Doch auch in China herrscht Krieg: Die Japaner halten das Land besetzt und schinden viele Chinesen zu Tode. Und auch der lange Arm der Nazis reicht bis nach Shanghai. Auf Geheiß der Deutschen pferchen die japanischen Besatzer die Juden schließlich wieder in ein Ghetto. Angst ist zum ständigen Begleiter der Karpels geworden. Doch das Leben geht trotzdem weiter; immer wieder betont die Erzählerin den Zusammenhalt der Familie – das einzig Verlässliche. Selbst nach mehreren Jahren in Shanghai halten sie Distanz zu den Chinesen:

    Zitat aus "Von Wien nach Shanghai" (S. 205)
    Mit der Zeit entwickelt sich ein gegenseitiger Respekt zwischen uns und diesen fremdartigen Menschen, obwohl daraus wohl nie ein wirkliches Vertrauensverhältnis werden wird. Wir haben gehört, dass die Chinesen uns "Weiße Teufel" nennen, und haben ihre Karikaturen von den zudringlichen Vertretern der kaukasischen Rasse gesehen, die mit langen, spitzen Nasen, rot glühenden Augen und flammendem Haar dargestellt sind. Wir empfinden die Unterschiede zwischen uns als genauso beängstigend, können aber in Frieden mit ihnen zusammenleben.

    Bis zum Schluss bemühen sich die Karpels nicht um einen engeren Kontakt zu den Chinesen. Sie haben mit ihnen als Nachbarn und Rikschafahrern zu tun, doch bildet Shanghai nur die beschwerliche Kulisse des Lebens einer kleinen jüdischen Gemeinschaft. Die Erzählung dieses Lebens ist vielleicht keine große Literatur, doch detailreich und spannend erzählt und eine erstaunliche Quelle für eine notgedrungene Rezeption des Fernen Ostens. Außerdem öffnet sie den Blick dafür, dass Judenverfolgung und Zweiter Weltkrieg geographisch über Auschwitz und Stalingrad weit hinausgingen.