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Unerfüllte Jugendliebe

Elizabeth Taylors Protagonistin in "Versteckspiel" heißt Harriet. Nach 20 Jahren ringt sie mit ihren Gefühlen: zu der wiederaufgetauchten großen Liebe Vesey und dem eigenen Leben mit Ehemann, Tochter und 20 Jahre Reife.

Von Rainer Moritz |
    Als sich Elizabeth Bowen im Frühjahr 1951 daranmachte, den neuen Roman ihrer englischen Kollegin Elizabeth Taylor zu rezensieren, hielt sie mit ihrer Begeisterung nicht hinterm Berg und stellte "Versteckspiel" in eine Reihe mit Jane Austens "Überredung" und Emily Brontës "Sturmhöhe". Taylors Roman verschmelze, so Bowen, die Qualitäten dieser berühmten Vorläufer. Und keine Frage: Wer Taylors jetzt erstmals auf Deutsch vorliegenden Roman liest, kann Bowens Einschätzung nur teilen. "Versteckspiel" ist ein makelloses Buch, das mit Feinfühligkeit Menschen porträtiert, die an einer unerfüllten Jugendliebe jammervoll leiden und jahrelang, ohne sich anderen offenbaren zu können, versucht sind, allen Konventionen abzuschwören.

    Elizabeth Taylor, 1912 in Reading geboren und 1975 in Penn gestorben, war selbst in ihrer Heimat lange Zeit keine stark beachtete Autorin. Zu sehr hielt sie sich von London und seinen Literaturzirkeln fern, zu bescheiden trat sie auf, versorgte klaglos Mann und Kinder, ohne je – mit Virginia Woolf zu sprechen – ein "Zimmer für sich allein" zu reklamieren, und schrieb, von ihrer Familie kaum registriert, an ihren wunderbar poetischen Romanen und Erzählungen weiter. Jenseits des Atlantiks hatte sie gewichtige Fürsprecher, darunter William Maxwell, selbst ein grandioser, lange Zeit unterschätzter Schriftsteller. Dieser veröffentlichte im von ihm verantworteten "New Yorker" eine Vielzahl von Taylors Short Stories – eine Wertschätzung, die in England nie auf angemessene Resonanz stieß. Seine Hochachtung für Taylor ging so weit, dass er im Herbst 1950 das erste Kapitel von "Versteckspiel" komplett im "New Yorker" abdruckte – eine Ehre, wie sie nur wenigen Autoren zuteilwurde.

    Lediglich einer der zwölf Taylor’schen Romane, "In a Summer Season", wurde in den Sechzigerjahren in deutscher Übersetzung publiziert. Erst der Zürcher Dörlemann Verlag erkannte das Potenzial dieser Autorin, die so leise wie unerbittlich die – so Anne Tyler – "absonderlichen Schattenseiten unserer sogenannten Zivilisation" aufdeckte, und legt nach "Ein Blick auf den Hafen" nun einen zweiten Roman Taylors vor, der im Original den Titel "A Game of Hide and Seek" trägt.

    Harriet und Vesey – das sind die unglücklich Liebenden. Während eines langen, unvergesslichen Sommers lernen sich die beiden 18-Jährigen Ende der Zwanzigerjahre in der Grafschaft Buckinghamshire kennen. Man spielt mit einer Schar jüngerer Kinder Verstecken, und man nutzt die Möglichkeiten dieses Zeitvertreibs und die Abgeschiedenheit eines Heubodens unbeholfen dazu, einander näherzukommen, eingefangen in pointierten, zurückhaltenden Bildern, die Elizabeth Taylors Stil charakterisieren:

    "So saßen Vesey und Harriet dann in jener staubigen Muffigkeit zwischen alten Farbeimern, Blumenzwiebelkästen und Liegestuhlstapeln voller Spinnweben, ziemlich weit voneinander entfernt und schweigend. Harriet spähte aus einem verschmierten Fenster, Vesey kauerte, die Hände um die Knie gelegt, da und starrte auf einen schiefen Turm aus Blumentöpfen. Die Stille wurde nur unterbrochen, wenn einer von ihnen verstohlen die Spucke hinunterschluckte, die sich immer wieder ansammelte. Beider Herz pochte, als schwinge ein Pendel in einem hohen Kasten hin und her – sie waren sicher, der andere könne es hören. Was für sie der Himmel war, würde ihnen in ihrem späteren Leben wie die Hölle erscheinen. (…) Ein anderes Versteck hätte die Suche und ihren köstlichen Aufenthalt im Himmel oder in der Hölle verlängert, doch keiner von ihnen konnte vorschlagen, womit sie sich einander womöglich verraten hätten. Und so wahrten sie den Schein, das Spiel für die Kinder zu spielen, denn was sie sich gerade mal insgeheim eingestanden hatten, ihre wahren Gründe oder ihr Verlangen konnten sie nicht offenbaren."

    Zögernd kommen sie sich trotz der Missbilligung ihrer Familien näher, die schüchterne, stotternde Harriet und der rebellierende Vesey, der von einer Laufbahn als Künstler träumt und es nur zum drittklassigen Schauspieler in einem Wandertheater bringen wird. Es ist ein nicht enden wollender Sommer, voller "Versteckspiele" und Unsicherheiten. Mit treffsicherem Gespür für Charaktere unterschiedlichster Art bettet Elizabeth Taylor ihre jungen Liebenden in einen Provinzkosmos ein mit ganz eigenem Gepräge. Da sind Caroline, Veseys Tante, und Harriets Mutter Lilian, die einst als Suffragetten vor dem Ersten Weltkrieg für das Frauenwahlrecht kämpften und dafür sogar ins Gefängnis kamen – eine Erfahrung, von der sie umso heftiger zehren, je länger sie zurückliegt. Da ist Elke, Harriets holländische Kinderfrau, die fassungslos die merkwürdigen Sitten der Engländer registriert und zur Einsicht kommt, dass diese Nation "vom Krieg um den Verstand gebracht" wurde. Und da sind jene Frauen, mit denen Harriet eine Zeit lang als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft arbeitete und die sie mit handfesten Ratschlägen im Umgang mit Männern versorgen. In allen diesen kleinen Szenen beschreibt Elizabeth Taylor ohne Aufdringlichkeit und mitunter mit feinem Witz gesellschaftliche Sphären, die sich aus vielen Facetten zusammensetzen. Auf einen Nenner zu bringen ist wenig in diesem Roman, und genau das ist eine seiner Stärken.

    So sehr Harriet und Vesey füreinander bestimmt scheinen: Sie kommen nicht zusammen, verlieren sich aus den Augen. Vesey verlässt die Gegend, und im Moment seiner Abreise weiß Harriet, dass sie diese Liebe, diese große Liebe wohl für immer verloren hat:

    "Eine Abreise am Nachmittag ist für die, die zurückbleiben, besonders bedrückend. Der ganze Tag wird von demjenigen beherrscht, der fortgeht, und da er erst halb herum ist, muss er, derart überschattet, noch zu Ende gebracht werden. Sie konnte doch nicht zu ihrer Mutter zurückgehen. Morgen würde sie mit der trostlosen Aufgabe beginnen, die Tage ihres Lebens abzuhaken, bis Vesey wiederkam; heute war ihre Verzweiflung zu schlimm. Sie ging im Park in der Nähe ihres Haues spazieren. Die Wiesen zwischen den Bäumen, mit ihrer Dunkelheit und ihrem Farngeruch, boten ihr einen Schutz, den sie zu Hause nicht gefunden hätte. Tief im bitteren Geruch des Farnkrauts legte sie sich hin und schloss die Augen. Sie dachte an Vesey, wie er am Gleis des kleinen Bahnhofs auf und ab ging, bis sein Zug kam; stellte sich vor, wie er wartete, in der brütenden Hitze des Nachmittags ganz blass, und wie er schließlich um die Kurve davongetragen wurde, in den Tunnel hinein, und verschwand. Das Gesicht in den Händen, ihr Körper im Farn verborgen, begann sie zu weinen. Sie schwelgte nicht so sehr in dieser großen Sturzflut, sondern ließ sie passiv über sich ergehen, während die Last der Tränen von ihr genommen wurde.

    Ein Jahr ist zu lang, um auf jemanden zu warten, den man liebt. Am folgenden Morgen würde sie sich daranmachen, dieses Jahr zu leben, sich über die große Verschwendung von Tagen hinwegzutrösten. An diesem Nachmittag konnte sie noch nicht damit beginnen."


    Als die sehnsüchtig auf Briefe des Liebsten wartende Harriet keine Chance mehr auf Erfüllung ihrer Liebe sieht, nimmt sie den Heiratsantrag des grundbiederen, merklich älteren Anwalts Jephcott an. Der hat eine schwere Enttäuschung hinter sich – seine erste Braut gab ihm eine Woche vor dem Hochzeitstermin den Laufpass –, spielt gerne Klavier und lebt mit seiner Mutter zusammen, einer überspannten Schauspielerin, die darunter leidet, dass kein Bühnenhahn mehr nach ihr kräht, alle Welt schikaniert und einen Kohlkopf so theatralisch durch den Garten trägt, als wäre es das Haupt von Johannes dem Täufer.

    Dass Jephcott mit Vornamen Charles heißt, ist kein Zufall. Denn nicht nur von Ferne ähnelt er jenem Landarzt Charles Bovary, der – in Flauberts Roman, auf den "Versteckspiel" zweimal anspielt – so gar nicht in der Lage ist, die hochfahrenden Gelüste seiner Gemahlin zufriedenzustellen. Jephcott ist ein wackerer Mann mit klaren Meinungen – "Engländerinnen sollten niemals Rumba tanzen" –, und im Laufe des Romans, als ihm seine Kanzleikollegen Schwierigkeiten machen, kommt man nicht umhin, ihm sogar ein wenig Sympathie entgegenzubringen. Eine Ehe wie viele, keine, die von mit Händen zu greifendem Unglück geprägt ist, doch eine, über die sich im Lauf der Zeit Mehltau auszubreiten beginnt. Harriet Jephcott freilich ist keine leichtfertige Emma Bovary, die sich aus Langeweile oder Selbstüberschätzung auf Affären einlässt und ihrem Mann freudig Hörner aufsetzt. Sie weiß und versucht zu akzeptieren, dass ihre Heirat ein Sich-Einlassen auf bestimmte gesellschaftliche Normen und Gepflogenheiten war. Sich davon zu entfernen wäre mehr als eine private Entscheidung, wäre ein bewusster Verstoß gegen ein Wertesystem, wie brüchig und verlogen dieses auch sein mag:

    "Mit Charles hatte sie zugleich auch eine Gesellschaftsordnung geheiratet. Da sie sich dazu erst bekehren musste – wie auch zum Leben in der Provinz und zum Führen eines Haushalts –, hatte sie alles fanatisch betrieben und so, als fürchtete sie die Zensur. Niemand hatte systematischer Gäste bewirtet oder das soziale Zusammenspiel besser gestützt als sie. Unermüdlich schrieb sie Kondolenzbriefe und Glückwunschtelegramme; vergaß keinen Geburtstag und kein Jubiläum, keinen brieflichen oder telefonischen Dank nach einer Einladung. Sie hatte sich bemüht, bei ihrer Tochter alles richtig zu machen, hatte keine Schulfeier und kein Konzert am Schuljahrsende verpasst, mit Klassenlehrerinnen gesprochen und Interesse gezeigt, wie diese es nannten.
    Und nun missachtete sie, was sie selbst mitgeschaffen hatte – das Trugbild einer Gesellschaft; ein gut geöltes Räderwerk, das sich immer weiterdrehte, nur nicht vorwärts; Konventionen, die nur so lange existieren konnten, wie die Gefühle zurückgestellt wurden."


    Harriet beginnt mit sich zu ringen, als Vesey nach zwanzig Jahren wieder in ihr Leben tritt. Ehebruch zu begehen, das scheint ein undenkbarer Schritt für sie, doch die Mühlen der verborgenen Leidenschaft hören nicht auf, ihr Werk zu verrichten:

    "‘Aber ich bin weder die Erste noch die letzte Frau, die sich in einen anderen als ihren Mann verliebt‘, dachte sie mit sinkendem Mut. Sie wollte sich nicht monströs oder abnorm fühlen. Doch zu mehreren war man nicht sicherer. Ihr fielen nur Frauen ein, die im Namen der Liebe großes Leid über andere gebracht hatten und in Armut und Einsamkeit oder gar – so groß war ihre Angst – am Galgen gestorben waren. Normale Frauen dagegen, jene Frauen, die am Vormittag in Teehäusern saßen und Kaffee tranken, führten ihr Leben innerhalb bestimmter Grenzen. Sie entfesselten kein Misstrauen und keinen Verrat in ihrem eigenen Heim. ‚Aber ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll‘, dachte sie plötzlich und legte die Hände über Augen und Stirn."

    Ein Hemmnis, den entscheidenden Schritt zu tun und ihren Mann Charles zu betrügen, stellt ihre halbwüchsige Tochter Betsy dar. Auch diese zählt zu den zahlreichen markanten Nebenfiguren, denen Elizabeth Taylor mit wenigen Strichen ein unverkennbares Profil gibt und die den Spannungsbogen im Haus der Jephcotts noch erhöhen. Auch die halbwüchsige Betsy kämpft mit sich und ihrer unverständigen Umgebung. Sie schwärmt für ihre Lehrerin Miss Bell und weiß mit ihren widerstreitenden Gefühlen nicht umzugehen. Wie sie sich mit ihrer Leidenschaft auseinandersetzt und wie sie tatenlos hinnehmen muss, dass Miss Bell die Schule verlässt, spiegelt innerhalb der Romankonstruktion das, was Harriet in ihrer Liebe zu ihrem Jugendfreund widerfährt.

    Harriet weiß oder meint zu wissen, dass sie ihre Ehe und ihre Tochter Betsy nicht für ein flüchtiges Abenteuer aufs Spiel setzen will. Und doch weiß sie auch, dass sie, als sie Vesey nach vielen Jahren wiedersieht, die "zweite Chance" um fast jeden Preis suchen muss. Heimlich trifft sie den kränkelnden, erfolglosen Geliebten in London, auf zugigen Parkbänken oder in schäbigen Zugabteilen. Mit präzisem Blick für unterschiedliche soziale Milieus platziert Elizabeth Taylor ihre Protagonisten in ein Umfeld, das nicht für romantische Wiedersehen taugt. Doch wie abgerissen und leidend Vesey auch auftritt und wie heruntergekommen die Örtlichkeiten derRendezvous, von denen niemand wissen darf, sein mögen – all das ändert nichts daran, dass sich Harriet zu Vesey hingezogen fühlt und bereit scheint, ihre ganze bürgerliche Existenz aufs Spiel zu setzen.

    Elizabeth Taylors Biografin Nicola Beauman hat in ihrem 2009 erschienenen Buch "The Other Elizabeth Taylor" darauf hingewiesen, dass diese Wiederbegegnungsszenen als Echo auf David Leans preisgekrönten Film "Begegnung" aus dem Jahr 1945 zu verstehen sind. Taylor sah dieses Kammerspiel mit Begeisterung. Dessen Hauptfiguren, gespielt von Celia Johnson und Trevor Howard, verlieben sich, obwohl verheiratet, ineinander und treffen sich allwöchentlich im Warteraum eines Bahnhofs, ehe man sich entschließt, sich in der Wohnung eines Freundes zu treffen. Auch Harriet und Vesey beschließen, einen Schritt weiterzugehen, und planen unter größten Mühen und mit komplizierten Täuschungsmanövern, endlich ein Wochenende gemeinsam in einer Pension zu verbringen. Doch Harriet bringt es nicht fertig, die Nacht an Veseys Seite zu verbringen, und eilt zu ihrem Mann zurück, der überraschend von einer Geschäftsreise vorzeitig zurückkehrt und nicht verstehen mag, warum ihn seine Frau zu Hause nicht erwartet.

    Wie es mit den Liebenden und dem lethargisch eifersüchtigen Charles weitergehen wird, lässt der Roman offen. So wie Harriet darauf beharrt, dass jeder Mensch ein unverwechselbares Individuum ist, so legt die vorzügliche Stilistin Elizabeth Taylor größten Wert darauf, alle Ereignisse mit liebevoller, melancholisch grundierter Akribie festzuhalten. Was immer sie beschreibt – ein Pub in London, eine Wiese in der Provinz –, über allem waltet ein becircender Zauber voller Poesie, die Bettina Abarbanell fein ins Deutsche übertragen hat. Nie in der Gefahr, sentimental zu werden, breitet Taylor ein Netz an Verweisen und unaufdringlichen Symbolen über dieser Welt aus – über Menschen, die an der "untröstlichen Liebe ihrer Jugend" zu zerbrechen drohen. Die Zeit vergeht, und sie vergeht anders als früher:

    "Harriet schaute weg, in den ungepflegten winterlichen Garten mit dem entblätterten Maulbeerbaum, den knorrigen, gewundenen Schwerlinienwurzeln, die aus den ansonsten leeren Rabatten hervorbrachen, den Katzenspuren auf dem nassen, rauen Gras, dem vielen Laub unter den Büschen. Aber sie hatte nicht mehr wie früher, als junges Mädchen, das Gefühl, im Winter sei kein Wandel möglich. Wenn die Blätter fielen, spürte sie heutzutage zugleich, dass junge Triebe aus der harten Erde sprießen konnten; der Herbst war schon im Sommer angelegt, keine Jahreszeit hielt vor. Es gab keine langen Sommer mehr. Der Letzte war der gewesen, in dem sie mit Vesey und den Kindern Verstecken gespielt hatte. Seitdem waren die Jahre verflogen, eines kürzer als das vorangegangene. Es kam ihr nicht sehr lang vor, ihr Eheleben. Sommer und Winter waren ineinandergeflossen. Betsy war nicht so sehr herangewachsen, sie hatte sich vielmehr entfaltet – als wäre sie schon von Anfang an ganz da gewesen, und jeder Geburtstag hätte mehr von ihr offenbart, mehr sichtbar gemacht, aber auch noch mehr erahnen lassen."

    Elizabeth Taylor ist keine literarische Revolutionärin. Sie erzählt mit der Sicherheit einer Autorin, die mit den Formen des literarischen Realismus souverän vertraut ist und nicht um jeden Preis auf avancierte moderne Erzählweisen bauen muss. Sie kennt, was das 20. Jahrhundert an multiperspektivischer, zersplitterter und fragmentierter Literatur hervorgebracht hat. Gleich zu Anfang von "Versteckspiel" kommt sie darauf zurück, in einem Gespräch zwischen der scheuen Harriet und ihrem auch literarisch ambitionierten Jugendfreund:

    "‘Was willst du denn dann machen?‘, fragte sie.
    ‚Ich habe es noch niemandem erzählt, aber ich habe vor, Schriftsteller zu werden.‘
    Harriet errötete, wegen der Vertraulichkeit seines Bekenntnisses ebenso wie wegen dessen Inhalt. Sie bückte sich schnell und begann, an einem Farn zu rupfen, um ihn in ihren Strauß zu stecken.
    ‚Um Romane zu schreiben?‘, fragte sie.
    Er zog die länglichen Formate von Büchern zur Literaturkritik vor, belles lettres. Um ein Homme de Lettres zu werden, würde er sich auf einen kleinen Aspekt der Literatur spezialisieren, alle Bücher darüber lesen, ein eigenes hinzufügen. Alle späteren Übergriffe auf sein Territorium würde er selbst rezensieren.
    ‚Der Roman ist als Kunstform so gut wie erledigt‘, antwortete er.
    ‚Ja, das ist er wohl‘, sagte Harriet.
    ‚Virginia Woolf hat ihn an den Rand des Ruins gebracht.‘
    ‚Ja‘, sagte Harriet.
    ‚Aber das war unvermeidlich‘, räumte er ein.
    ‚Ja, das war es wohl‘, sagte Harriet langsam und bedächtig. Der Roman – eigenwilliger Parvenu – schien auf die Zerstörung zuzusteuern. Niemand konnte seinen Niedergang aufhalten, und offenbar verdiente er es nicht, dass Vesey selbst es versuchte. Mit einem eleganten Federstrich nach dem anderen (der jüngste war Mrs. Dalloway) ließ Virginia Woolf ihn bergabtrudeln. Und das ohne Harriets Wissen, die noch nie von ihr gehört hatte."


    Der kleine poetologische Einschub zeigt es: Elizabeth Taylor kennt, anders als ihre überforderte Heldin Harriet, ihre Vorgänger, kennt die Erschütterungen, die die europäische Moderne dem klassischen Roman des 19. Jahrhunderts zugemutet hat. Auf dem Fundament, das Virginia Woolf, James Joyce oder Marcel Proust bereitet haben, schreibt sie – ohne sich um die Londoner Literaturschickeria der frühen Nachkriegszeit zu kümmern – unbeirrt weiter an ihren von einem Trauerschleier überzogenen Texten, die belegen, was realistisches Erzählen Mitte des 20. Jahrhunderts zu leisten vermag. Epigonal oder altbacken wirkt nichts an diesem Roman. Seine literarischen Ahnen heißen nicht nur Jane Austen oder Emily Brontë, sondern auch Anton Tschechow. Dessen 1899 erschienene Erzählung "Die Dame mit dem Hündchen", eine unscheinbare Liebesgeschichte zweier – nicht miteinander – verheirateter Menschen, weist einen Tonfall auf, von dem sich in Elizabeth Taylors "Versteckspiel" mancher Widerhall findet.

    Wenigen Autoren des 20. Jahrhunderts ist es gelungen, bewährte Erzählformen derart souverän einzusetzen und gleichzeitig eigenständige, moderne Texte zu schreiben. "Tremendous" nannte Elizabeth Bowen "Versteckspiel", und gewaltig ist vieles in diesem Roman, der so sparsam und gekonnt seine Mittel handhabt und mit keiner Zeile darauf aus ist, "gewaltig" zu wirken.

    Elizabeth Taylor
    Versteckspiel. Roman. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Dörlemann Verlag, Zürich, 2013. 384 Seiten, 23,90 Euro