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Unruhen im Libanon

Der Libanon ist politisch gespalten zwischen der von der Hisbollah und Christengeneral Aoun angeführten Opposition und den prowestlichen Kräften um Premierminister Fuad Siniora. In der angespannten Lage wird der militärische Konflikt mit den Palästinensergruppen im Land zur ernsten Gefahr für die Stabilität des Staates.

Von Birgit Kaspar | 29.05.2007
    Nahr al Bared, der kalte Fluss: Er hat dem Palästinenserlager nördlich von Tripoli seinen Namen gegeben. Die teils mehrstöckigen Häuser in dem Camp direkt am Meer stehen dicht an dicht. Bis vor wenigen Tagen lebten hier rund 31.000 palästinensische Flüchtlinge. Die libanesische Armee ist mit Panzern um das Lager positioniert und gräbt sich ein. Sandsäcke werden gefüllt, feste Positionen errichtet. Tische, Stühle sowie Nachschub an Munition und militärischem Gerät werden hoch in den Norden gebracht, nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze. Die Armee ist entschlossen, die Kämpfer von Fatah al Islam festzunehmen und dem Gericht zu übergeben, hat ihr Kommandeur, General Michel Sleiman, erklärt. Das Palästinenserlager ist seit vergangener Woche abgeriegelt, Nur Flüchtlinge werden nach intensiver Kontrolle herausgelassen.

    Im benachbarten Palästinenserlager Beddawi wird in der Rawdet Palestine Schule seit letztem Dienstag nicht mehr unterrichtet. Alle verfügbaren Räume sind von Flüchtlingen aus Nahr al Bared bewohnt, rund 160 haben sich hier einquartiert.

    "Wir sind 13 in unserer Familie, alle im selben Zimmer. Sie haben uns Decken gegeben, aber fünf müssen sich eine Decke teilen. Dieser behinderte Junge hier, er bräuchte alleine eine Decke."

    Bayan Chadra zeigt auf den zwölfjährigen Ibrahim im Rollstuhl und weint. Die Menschen im völlig überfüllten Beddawi-Camp sind mit den Nerven am Ende. Bayan ist mit ihren Kindern und deren Familien aus Nahr al Bared geflohen. Als zum ersten Mal nach Beginn der heftigen Kämpfe die Waffen schwiegen, seien sie sofort aufgebrochen, ohne irgendetwas mitzunehmen, so ihr Sohn Nael Abu Siam.

    "Es ist furchtbar, es ist Krieg, und ich glaube, wir haben all unser Glück verloren. Manchmal fühle ich gar nichts mehr, man ist wie tot."

    Niemand in seiner Familie sei körperlich verletzt worden, obwohl das halbe Haus durch Artilleriebeschuss zerstört wurde.

    "Die einstürzende Decke hat uns nicht verletzt, es ist psychologisch, wir haben Angst. Es ist Krieg, und alles um Dich herum ist zerstört, es brennt, Tote liegen auf der Straße. Mein Sohn hat einen Toten da liegen sehen und mich gefragt, warum schläft der auf der Straße? Ich kann ihm doch nicht antworten, was soll ich sagen, er ist tot? Der Junge würde ja sein ganzes Leben lang Angst haben."

    Die Flüchtlinge berichten, es habe vom ersten Tag der Kämpfe an kein Wasser und keinen Strom mehr gegeben. Dann wurden die Nahrungsmittel knapp. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind die meisten Bewohner des umkämpften Lagers inzwischen geflohen. Zwischen 3000 und 8000 Zivilisten sollen dort noch ausharren. Etwa 15.000 sind ins Beddawi-Camp gekommen und haben damit die Einwohnerzahl dieser kleinen Stadt auf einer Grundfläche von anderthalb Quadratkilometern verdoppelt. Notdürftig untergekommen sind sie in Schulen, Gebäuden des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästinenser UNRWA und bei anderen Familien. Faiza, 33 Jahre alt, hilft dabei, das Überleben in der Schule zu organisieren. Aber auch sie ist am Rande des Nervenzusammenbruchs:

    "Es ist unmöglich, die Lage ist inakzeptabel. Ich habe keine Kleider, ich konnte nichts mitnehmen, keine Ausweise oder Papiere. Wir haben kein Wasser hier. Ich würde gerne baden, aber es geht nicht, ich muss den Kindern den Vortritt lassen. Sie haben Priorität. Haben wir keine Menschenrechte? Gibt es keine Demokratie? Um uns herum ist nur Gewalt, hier, im Irak, in Palästina. Wir haben genug davon, warum gibt es keinen Dialog?"

    Hilfsorganisationen und die UNO bemühen sich, die nun zum zweiten Mal geflüchteten Palästinenser mit dem Nötigsten zu versorgen. Vor allem Matratzen, Decken und Wasser werden dringend gebraucht. Die Lage ist angespannt. Aziz Bekaai, Arzt im Safad-Krankenhaus, dem einzigen für die beiden Palästinenserlager zuständigen, warnt:

    "Hygiene ist ein großes Problem, vor allem für die Leute, die in Schulen, Moscheen oder auf der Straße leben. Viele campieren mit 40 bis 60 Personen in einem Haus. Aber die sind noch besser dran als die in den Schulen. Die Lage dort ist sehr schlecht und gefährlich. Wir haben Angst vor ansteckenden Krankheiten, irgendein Virus könnte viele Opfer fordern."

    Ein baldiges Ende der Krise ist nicht abzusehen, denn täglich kommen mehr Flüchtlinge aus Nahr al Bared und suchen Unterschlupf.

    Immer wieder flammen die Kämpfe zwischen der libanesischen Armee und den Militanten der Fatah al Islam auf, die sich im Lager Nahr al Bared verschanzen. Mehr als 70 Menschen sind seit Beginn der Kämpfe vor zehn Tagen ums Leben gekommen, darunter 33 libanesische Soldaten, mindestens 27 Militante und 18 Zivilisten. Zu den Auseinandersetzungen kam es nach einer Razzia libanesischer Sicherheitskräfte in Tripoli. Die Polizisten stießen auf heftigen bewaffneten Widerstand von Militanten der Gruppe Fatah al Islam. Anschließend griffen Anhänger der gleichen Organisation Armeepositionen um das Lager Nahr al Bared an. Fatah al Islam war im Libanon erstmals im November 2006 in Erscheinung getreten. Libanesische Sicherheitskräfte werfen der Gruppe vor, für die Anschlägen auf zwei Busse am 13. Februar in der Nähe von Bikfaya nördlich von Beirut verantwortlich zu sein. Es herrschen unterschiedliche Ansichten darüber, wer hinter der Gruppe steckt, die über 200 bis 800 Militante verfügen soll. Nizar Abdel Kader, ein Ex-General der libanesischen Armee mit engen Verbindungen zu libanesischen Sicherheits- und Geheimdiensten:

    "Diese Gruppe Fatah al Islam ist nicht wirklich eine Fraktion der Palästinenser. Viele von ihnen waren entweder auf dem Weg in den Irak oder kamen von dort, sie wurden irgendwo in Syrien aufgelesen und davon überzeugt, sich der Gruppe Fatah al Islam anzuschließen."

    Tatsächlich sollen neben wenigen Palästinensern vor allem Libanesen, Syrer, Jordanier, Saudis, Tunesier und sogar Bangladeschis unter den schwer bewaffneten Fatah-al-Islam-Kämpfern sein. Der Anführer der Gruppe, der Palästinenser Shaker al Abssi, sagt, Fatah al Islam stehe El Kaida ideologisch nahe, gehöre aber nicht organisatorisch dazu. Man kämpfe für die Befreiung Palästinas, gegen Juden und Amerikaner, aber nicht gegen den Libanon. Al Abssi gilt als Komplize Abu Musab al Zarqawis, dem getöteten El-Kaida-Chef im Irak. Mit ihm soll er einen tödlichen Anschlag auf einen US-Diplomaten 2002 in Jordanien geplant haben. Die libanesische Regierung aber auch zahlreiche Beobachter sehen jedoch eine mindestens ebenso starke Verbindung zu Syrien, wo al Abssi drei Jahre im Gefängnis saß, bevor er in den Libanon kam. Ex-General Abdel Kader:

    "Ich glaube nicht, dass Fatah al Islam und Abssi irgendeiner Ideologie dienen. Abssi kam aus dem Gefängnis und bekam einen Auftrag. Ich denke, er wurde von den syrischen Geheimdiensten rekrutiert."

    Al Abssi und die Fatah al Islam seien Teil eines groß angelegten syrischen Planes, den Libanon zu destabilisieren und so für größeren syrischen Einfluss zu öffnen, meint Abdel Kader. Damaskus weist solche Vorwürfe aber weit von sich. Außenminister Walid Muallem betont, dass es keine Verbindung zu Fatah al Islam gebe. Dies sei eine Terrororganisation, ein Teil von El Kaida, und al Abssi werde in Syrien polizeilich gesucht. Auffällig ist allerdings, dass Fatah al Islam im Libanon so gut wie keine Unterstützung hat, weder im Palästinenserlager Nahr al Bared, noch in radikalen sunnitisch-islamistischen Kreisen. Osman Bakhach, Mitglied des Zentralkomitees der in Deutschland verbotenen Hizb-ut-Tahrir-Partei, sagt, es handele sich um junge Männer, die sich aus Frustration auf den Weg in den Heiligen Krieg machten und nicht wüssten, wozu sie hier benutzt würden:

    "Es ist bekannt, dass Fatah al Islam eine Sache des syrischen Geheimdienstes ist. Hier beginnt das schmutzige Spiel. Die syrischen Geheimdienste haben eine lange Tradition der Manipulation von Jihadi-Gruppen."

    Paul Salem von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden meint, Fatah al Islam benutze El-Kaida-Slogans vor allem, um sich politisch zu positionieren und zu vermarkten:

    "Es handelt sich um einen bunten Haufen aus verschiedenen arabischen und anderen Staaten, die sich unter einem radikalen islamischen Banner sammeln, und die, ohne voreilige Schlüsse ziehen zu wollen, anscheinend eine enge Verbindung zu Syrien haben."

    Für die Verbindung zu Syrien spricht in den Augen vieler Libanesen vor allem der Zeitpunkt der jüngsten Unruhen. Parallel zu den Kämpfen zwischen Fatah al Islam und der Armee im Norden des Landes wurden Beirut und seine Umgebung in der vergangenen Woche von drei Bombenanschlägen erschüttert.

    "Es ist genau die Woche, in der der UN-Sicherheitsrat über das Hariri-Tribunal entscheidet. Im Libanon sieht man darin den Versuch, den Druck auf Beirut und die internationale Gemeinschaft zu erhöhen und zu sagen, wenn Ihr das Tribunal durchsetzt, dann wird der Libanon einen hohen Preis bezahlen."

    Das internationale Sondertribunal zur Aufklärung des Hariri-Mordes vor zwei Jahren soll noch in dieser Woche durch eine UN-Resolution etabliert werden. Die bisherigen Ermittlungen im Fall Hariri haben den Verdacht genährt, dass zumindest Teile der syrischen Sicherheitsdienste, wenn nicht sogar der syrischen Führung, in das Attentat verwickelt waren. Syrien hat das immer wieder dementiert. Viele Libanesen glauben dennoch, Damaskus versuche, das Hariri-Tribunal zu verhindern. Welche Kräfte oder Pläne auch immer hinter Fatah al-Islam stehen, die Gruppe hat der Armee, der einzigen libanesischen Institution, die von allen respektiert wird, erhebliche Verluste zugefügt. Sie hat der Regierung sowie allen Verbündeten der USA und Israels massiv gedroht und auch die UNIFIL-Blauhelm-Truppe im Süden des Landes als potenzielles Ziel ausgemacht. Deshalb müsse die Regierung handeln, so Ex-General Abdel Kader:

    "Wir stehen am Scheideweg: Entweder die Regierung hat den Mut und die Fähigkeit, den Sicherheitskräften den Befehl zu geben, mit dieser Terrororganisation fertig zu werden und den Staat vor dem Scheitern zu bewahren, oder wir werden nicht nur als gescheiterter Staat enden, sondern als Nicht-Staat."

    Premierminister Fuad Siniora kündigte in einer Ansprache an die Nation Härte an:

    "Wir beugen uns dem Terrorismus nicht, welches Gesicht auch immer er zeigen mag. Die Explosionen machen uns keine Angst, genauso wenig wie die Morde. Unsere einzige Botschaft bleibt: der Staat, die Sicherheit, die nationale Verantwortung, das Leben und die Zukunft des libanesischen Volkes."

    Darüber hinaus betonte Siniora die Solidarität mit den Palästinensern: Sie seien die Brüder der Libanesen und niemand solle versuchen, hier Zwietracht zu säen. Diese Äußerung sollte nach Ansicht von Beobachtern klarstellen, dass bei einem möglichen militärischen Vorgehen in Nahr al Bared keinesfalls die Palästinenser das Ziel seien. Timor Göksel, Sicherheitsexperte und ehemaliger UNIFIL-Berater:

    "Die Armee kann das leicht erledigen. Trotz der schlechten Ausrüstung, wenig Personal und mangelndem Kampftraining, die Armee kann das Problem militärisch lösen."

    Besonders kritisch sieht Göksel, dass die Militanten sich in einem Palästinenserlager verschanzt haben. Hier haben die libanesischen Sicherheitskräfte gemäß einem Abkommen von 1969 keinen Zutritt, diese Lager sind eine Art rechtsfreier Raum auf libanesischem Territorium. Die verschiedenen Palästinenserfraktionen sollen ihre Angelegenheiten dort selbst regeln. Dadurch bilden die zwölf Camps, in denen rund 400.000 Palästinenserflüchtlinge leben, einen Rückzugsraum für Radikale und Militante jeder Couleur, meint Göksel:

    "Kein Land kann mit einer solchen Situation leben. Es sind nicht nur die Palästinenser, auch libanesische Kriminelle verstecken sich hier und können nicht belangt werden. Das ist ein Problem, das weder diese noch eine andere Regierung so schnell lösen wird."

    Eine Militäraktion im Camp Nahr al Bared könnte zudem viele zivile Opfer unter den palästinensischen Flüchtlingen fordern. In der Folge besteht die Gefahr, dass die Palästinenser in den anderen Lagern ihrem Ärger darüber gewaltsam Luft machen. Es gebe aber noch einen anderen Aspekt, so Timor Göksel:

    "Selbst wenn sie nicht viele Zivilisten töten und nur Fatah al Islam angreifen, es gibt genug Gruppen in diesem Land mit einer ähnlichen Ideologie wie Fatah al Islam. Nur um ihre Sympathie und Solidarität zu zeigen, könnten die aktiv werden."

    Die ohnehin politisch angeschlagene Regierung Siniora steckt in einem Dilemma, einerseits kann sie die Attacke auf die Armee nicht ungestraft hinnehmen, andererseits kann sie nicht noch mehr Chaos im Zedernstaat riskieren. Nachdem nun auch noch Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah eine militärische Erstürmung des Palästinenserlagers Nahr al Bared zum Tabu erklärt hat, scheint man in Beirut auf Zeit zu spielen. Die Regierung verlangt, dass sich die Kämpfer von Fatah al Islam ergeben. Ihr Anführer, Shaker al Abssi, kündigte an, dass seine Männer sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen werden. Derzeit versuchen drei Palästinenserfraktionen, die Fatah, die Hamas und die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, mit Hilfe islamischer Geistlicher in Nahr al Bared zu vermitteln. Der Sprecher von Fatah al Islam, Abu Salim Taha, hat bestätigt, dass es einen Vermittlungsversuch und, so wörtlich, einige unlogische Vorschläge gebe. Vielversprechend klingt das nicht. Es ist fraglich, ob die Palästinenserführer im Libanon ausreichenden Druck auf Fatah al Islam ausüben können oder wollen.

    Die Gefahr der Eskalation ist groß, denn die Camps sind voller Waffen. Nach Ansicht von Paul Salem müssen die Palästinenser stärker in die Pflicht genommen werden:

    "Viele dieser Lager werden tatsächlich von niemandem kontrolliert, sie sind einfach chaotisch. Ich denke, die Lage in Nahr el Bared führt zu einer neuen Dynamik - einem Interesse der libanesischen Regierung und der palästinensischen Führung, den Palästinensern zu einer effektiven Kontrolle in den Camps zu verhelfen."

    Der Weg dorthin könnte weit und steinig sein. Unterdessen dümpelt die Regierung Siniora - der sechs schiitische Minister den Rücken gekehrt haben - relativ macht- und tatenlos vor sich hin. Das Land ist seit sechs Monaten politisch gespalten zwischen der von der Hisbollah und Christengeneral Aoun angeführten Opposition und den pro-westlichen Kräften um Premierminister Siniora. Bis September müsste man sich auf einen neuen Präsidenten einigen, doch danach sehe es im Moment nicht aus, sagt Paul Salem von der Carnegie-Stiftung:

    "Die Lage könnte eskalieren und völlig außer Kontrolle geraten. Oder sie bleibt so auf einem moderaten Level. Ein nächtliche Bombe hier, ein kleiner Zwischenfall dort, nichts Großartiges, nichts, was die Regierung oder das Land vollkommen lähmen würde."

    Für den Libanon gehe es im Augenblick nur ums Überleben, Reformen oder große Fortschritte könne man vergessen, solange die Polarisierung in der Region anhalte.

    "Der amerikanisch-iranische Konflikt wird im Libanon ausgetragen ebenso wie der amerikanisch-syrische. Der syrisch-saudische Konflikt wird hier ausgefochten und der israelisch-iranische. Je mehr diese Konfliktparteien in irgendeiner Weise zu einem Ausgleich finden, desto ruhiger wird es im Libanon."

    Die Frage ist, wann das passiert. Niemand erwartet es in naher Zukunft. So lange wird der Libanon wohl schwierige Zeiten erleben.