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Urheberrecht für "Mein Kampf" ausgelaufen
"Angst halte ich für unbegründet"

Zum Jahreswechsel ist das Urheberrecht für Hitlers "Mein Kampf" ausgelaufen. Die Angst, dass der Nationalsozialismus und der Geist Hitlers dadurch Auftrieb erhalten, habe er nicht, sagte der Chef der Bundeszentrale für politische Bildung im DLF. Thomas Krüger hält aber eine öffentliche und kontroverse Diskussion über das Thema für sinnvoll - gerade in der Schule.

Thomas Krüger im Gespräch mit Doris Simon | 04.01.2016
    Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger.
    Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger. (imago / Viadata)
    "Meine Vermutung ist, dass erst einmal nichts passiert", so Krügers Einschätzung zum Auslaufen des Urheberrechts von "Mein Kampf". Der Text sei schon jetzt im Netz verfügbar und für jeden einsehbar gewesen. Auch große Verlage würden das Buch wohl erst einmal nicht neu auflegen.
    Problematisch sei die Tabuisierung des Buchs der vergangenen Jahre gewesen. In den letzten Jahrzehnten habe man es liegenlassen und sich nicht damit beschäftigt. Dadurch sei ein Mythos entstanden, der nicht gerechtfertigt sei. Nach Ansicht des Chefs der Bundeszentrale für politische Bildung sollte man die Thematik aber nicht auf die leichte Schulter nehmen, vor allem vor dem Hintergrund aktueller rechtspopulistischer Strömungen.
    Für die Schule sei "Mein Kampf" als Gesamtausgabe nicht geeignet, so Krüger. Stattdessen sei es wichtig, im Geschichtsunterricht die Personenzentrierung Hitlers im Nationalsozialismus zu thematisieren.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Zwölf Millionen Mal wurde das böse Buch bis 1945 gedruckt: Hitlers "Mein Kampf" war zu seinen Zeiten ein Verlegertraum und eine Gelddruckmaschine Adolf Hitler. Jedes Ehepaar bekam auf dem Standesamt zwischen '33 und '45 eine Ausgabe geschenkt. Nach dem Ende des Naziregimes und dem Zusammenbruch Deutschlands durfte "Mein Kampf" 70 Jahre lang hier nicht nachgedruckt werden. Wer das Buch unbedingt haben wollte, der konnte aber ins Antiquariat gehen oder ins Ausland oder später ins Internet. Jetzt sind die Urheberrechte ausgelaufen, und Thomas Krüger, den Präsidenten der Bundeszentrale für Politische Bildung habe ich vor dieser Sendung gefragt, was er erwartet, was nun, mit der Rechtefreiheit, passiert.
    Thomas Krüger: Meine Vermutung ist, dass erst mal nichts passiert, weil erstens ist der Text zugänglich übers Internet, das heißt, alle diejenigen, die ihn lesen wollen, können das sowieso mit ein paar Klicks im Netz tun. Zweitens gibt es noch sehr viele alte Ausgaben auf den Dachböden der Bürgerinnen und Bürger hier in diesem Land, oftmals vergessen, manchmal versteckt. Und zum Dritten ist es halt so, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass einer der großen Sachbuchverlage diesen Titel derzeit in sein Programm nimmt. Deshalb, glaube ich, wird es in absehbarer Zeit erst mal keine gedruckte Ausgabe geben, aber selbst wenn es sie gibt, dann müssen wir uns natürlich öffentlich damit auseinandersetzen.
    "Die öffentliche Auseinandersetzung suchen"
    Simon: "Mein Kampf", wie gesagt, 70 Jahre durfte das nicht gedruckt werden in Deutschland. Wenn Sie das so sagen, Herr Krüger, hätte man da nicht eigentlich das schon früher freigeben sollen, wenn Ihrer Meinung nach die Attraktivität so gering ist, nach dem Motto, alles, was verboten ist, ist ja besonders interessant.
    Krüger: Richtig, alles was verboten ist, das macht uns gerade scharf, hat Wolf Biermann mal gesungen. Das Problem ist, glaube ich, dass man sich über Jahrzehnte hinweg darauf eingerichtet hat, das zum Tabu zu machen und letztendlich so eine Art Mythos um dieses Buch entstanden ist, der dem natürlich gar nicht gerecht wird. Aber diese Aufladung mit Verbot, mit Mythos, mit Tabu macht es natürlich sozusagen schon problematisch, weshalb aus meiner Sicht hier einfach in den letzten Jahrzehnten schlicht die Sache liegengelassen worden ist und man sich nicht damit auseinandergesetzt hat. Auf der anderen Seite gibt es in der Diskussion, vor allem in der pädagogischen Diskussion, natürlich auch eine Kritik an der Personenzentrierung von Hitler bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die ich übrigens nachvollziehbar finde.
    Simon: Halten Sie denn das Buch 70 Jahre später, 2015, "Mein Kampf", immer noch für ein Buch, das Menschen verführen kann, oder ist das, was Sie eben sagten, nur noch die Attraktivität des Verbotenen?
    Krüger: Ich glaube, dass dieses Buch sehr stark - ich habe ja selber darin gelesen -, sehr stark zeitgeschichtlich kontextualisiert ist. Hitler schreibt natürlich mit Bezug auf das, was er im Ersten Weltkrieg erlebt hat. Diese ganze zeitgeschichtliche Folie, die ist für Leute heute gar nicht mehr so nachvollziehbar. Auf der anderen Seite, deshalb halte ich die Angst auch für relativ unbegründet, dass durch die Lektüre dieses Buches vielleicht der böse Geist Hitlers und des Nationalsozialismus wieder aufersteht. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass wir uns derzeit auch schon in gesellschaftlichen Umbruchsituationen befinden und ein Aufwind populistischer bis hin zu rechtsextremen Positionen wieder Konjunktur bekommen haben. Und deshalb sollte man so was nicht auf die leichte Schulter nehmen und die öffentliche Auseinandersetzung suchen, also nicht dieses Tabu, diesen Mythos, dieses Versteckspiel weiter fortsetzen. Das bringt überhaupt nichts. Ich glaube, wir sind jetzt, 70 Jahre nach dem Tod Hitlers, in der Situation, dass wir souveräner mit dieser Geschichte umgehen können, aber eben diesen Impetus der Aufklärung nicht aus dem Blick verlieren dürfen.
    "Material zu "Mein Kampf" relativ unergiebig für den Geschichtsunterricht"
    Simon: Das heißt aber auch, dass wir uns 70 Jahre danach immer noch mit einem weitgehend schlecht geschriebenen, einem demagogischen und ja auch einem mörderischen Buch, weil da ja Teile dessen, was später im Nationalsozialismus brutal umgesetzt wurde, schon drin stehen. Da müssen wir uns 70 Jahre danach immer noch mit beschäftigen?
    Krüger: Ja, und ich glaube, dass viele Schulen das ja auch tagtäglich tun. Ich glaube, der Nationalsozialismus und die Politik Hitlers und der Nazis sind im Geschichtsunterricht weitgehend gut reflektiert, vor allen Dingen, indem man das ganze System des Nationalsozialismus ausleuchtet, in seinen Zusammenhängen darstellt und auf diese Art und Weise die Personenzentrierung nicht einfach unkritisch mitmacht. Das, glaube ich, ist ein ganz wichtiger Punkt, weil es war nicht Hitler allein. Es war ein ganzes System, was sich auf diese Rassenpolitik, auf den Holocaust, auf die Ausgrenzung derjenigen, die nicht zur Volksgemeinschaft dazugehört haben, konzentriert hat. Und das, denke ich, ist als Schulstoff nach wie vor sehr wichtig.
    Simon: Ja, aber gerade diese Personenzentrierung bekommen Sie dann ja wieder, wenn Sie dann sagen, und hier, "Mein Kampf", das ist Adolf Hitler pur, und viele sagen ja, mit einem schlechten Buch kann man doch heute nicht Sachen gut erklären.
    Krüger: Das ist genau unsere Argumentation in der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir haben uns sehr intensiv mit der Freiwerdung der Rechte befasst und überlegt, wie sollen wir darauf reagieren als eine Einrichtung der politischen Bildung, die ja auch Infrastruktur für Politik- und Geschichtsunterricht bereitstellt. Und wir sind zum Ergebnis gekommen, dass wir diese historisch-kritische Ausgabe, die kommentierte Ausgabe, die das Institut für Zeitgeschichte besorgt, zumindest in die Archive und Bibliotheken versuchen zu distribuieren, die sich mit dem Thema beschäftigen. Das ist schon wichtig, dass diejenigen, die Professionellen, die Multiplikatoren, die sich mit dem Thema beschäftigen, Zugriff auf diese kommentierte Ausgabe haben. Aber ein weitergehendes Material zu "Mein Kampf" von Hitler halten wir für relativ unergiebig für den Geschichtsunterricht. Mit Hitler-Zitaten, mit Ausschnitten aus "Mein Kampf" wird ja schon lange gearbeitet, das ist ja nichts Neues. Aber diese gesamte Ausgabe von "Mein Kampf" nun zugänglich zu machen, um sich damit auseinanderzusetzen, das halte ich für ein bisschen überdehnt und überspannt. Ich glaube, da ist es eher wichtig, ein didaktisches Material zu entwickeln. Das überlegen wir zurzeit mit verschiedenen Partnern, wo der Zusammenhang von Hitler und dem Nationalsozialismus, also die Problematisierung dieser Personenzentrierung zum Gegenstand einer didaktischen Handreichung gemacht wird. Das haben uns auch Experten, die wir um Meinungen gebeten haben, empfohlen. Und ansonsten gilt es, einfach jetzt die aktuelle Debatte auch ein Stück widerzuspiegeln. Es wird sehr intensiv diskutiert, wie man mit diesem Buch umgeht. Da werden verschiedene Facetten, verschiedene Vorschläge gemacht, eine für meine Begriffe relativ verwunderliche ist in den letzten Tagen vom Lehrerverband gekommen, die nun empfehlen, ausgerechnet eine didaktische Handreichung zu "Mein Kampf" zu machen. Davon haben wir abgesehen, weil wir das überhaupt nicht für zielführend halten.
    "Es bringt überhaupt nichts, die Tabuisierung fortzusetzen"
    Simon: Herr Krüger, wie erreichen wir diejenigen, die das wirklich vielleicht interessant finden, wie erreichen wir diejenigen, die einfach über den Namen Adolf Hitler, vielleicht auch bestimmte Vorlieben sagen, das könnte was für mich sein, und die aus dem kruden Zeug dann doch irgendwas für sich übernehmen?
    Krüger: Sich nicht verstecken, sondern öffentlich das diskutieren. Das, was im Schulunterricht passiert, auch in den Medien, in Filmen, die Zeitgeschichte behandeln, abhandeln - ich glaube, wir brauchen eine aktive Erinnerung, nach wie vor, über diese Zeit. Das ist nicht eine Sache, die einfach historisiert und abgelegt werden kann, sondern gerade die der Mystifizierung, der Tabuisierung kann am besten entgegengewirkt werden, wenn man sich öffentlich, auch kontrovers, mit diesem ganzen Thema auseinandersetzt und auch um die Person Hitler keinen Bogen macht, sondern tatsächlich alle Facetten dieser Sache öffentlich diskutiert, transparent macht, darüber aufklärt und sozusagen diese Quellen, da wo es Sinn macht, eben auch zugänglich macht. Es bringt überhaupt nichts, jetzt die Tabuisierung fortzusetzen und zu sagen, wer dieses Buch druckt, der wird wegen Volksverhetzung angezeigt. Das, glaube ich, ist den Bogen zu weit gespannt. Das Urheberrecht ist ein relativ starkes Recht, und es gibt natürlich auch eine Evidenz dafür, sich historisches Material irgendwann mal anzugucken, wenn die 70 Jahre vorbei sind.
    Simon: Thomas Krüger war das, der Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung. Herr Krüger, vielen Dank!
    Krüger: Nichts zu danken!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.