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Analyse von "Mein Kampf"
Lügen, Halbwahrheiten und Geschichtsklitterung

Im nächsten Jahr läuft das Urheberrecht für Hitlers "Mein Kampf" ab. Das hat der Historiker Sven Felix Kellerhoff zum Anlass genommen, das Buch mit buchhalterischer Strenge zu analysieren. Denn er findet: Aufklärung ist besser als Verschweigen. Es gelingt ihm, dem Buch nicht einen Hauch von Mythos zu belassen.

Von Henry Bernhard |
    Buchdeckel von "Mein Kampf" des Prager Verlages "Otakar II".
    Buchdeckel von "Mein Kampf". (picture alliance / dpa / CTK Pesko)
    Sven Felix Kellerhoff seziert Hitlers Werk regelrecht, kühl und präzise.
    Der Journalist und Historiker hat in den vergangenen Jahren immer wieder historische Sachbücher verfasst, meist über das die NS-Zeit. Die Beschäftigung mit "Mein Kampf" hält er für dringend geboten, die Politik der Bayerischen Landesregierung, Veröffentlichung und damit kommentierte Rezeption zu verhindern, für grundfalsch.
    "Aufklärung ist immer besser als Verschweigen! Und man sollte immer zumindest ansatzweise wissen, worüber man redet, wenn man redet. Also unbedingt einen Blick riskieren in das Buch! Und selbst, wenn es schwierig, wenn es herausfordernd, wenn es widerlich ist, was die Lektüre von 'Mein Kampf' ohne jeden Zweifel ist, sollte man sich trotzdem davon nicht erschrecken lassen, denn: Je besser man weiß, worüber man redet, umso besser ist es."
    Kellerhoff gelingt es, "Mein Kampf" nicht einen Hauch von Mythos zu belassen. Er klopft das Werk in geradezu buchhalterischer Strenge nach verschiedenen Kriterien ab, ohne auch nur im Geringsten zu langweilen. Er untersucht die Entstehungsgeschichte, Hitlers Quellen, die autobiografischen Anteile, die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von "Mein Kampf" bis heute. Bei der genauen Textanalyse ertappt er Hitler immer wieder beim Lügen und Verdrehen, bei Halbwahrheiten und Geschichtsklitterung:
    "Fast jede Seite seiner Darlegungen enthält nachweisbare Irrtümer, Missverständnisse oder andere Unwahrheiten. Sachliche Genauigkeit interessierte Hitler so wenig wie logische Argumentation. Die Verfälschungen, die er bei der Schilderung seines eigenen Lebens vornahm, waren mindestens zum Teil vorsätzlich und dienten der Stilisierung: Hitler erfand sich sein Leben rückblickend so, wie es ihm politisch nützlich erschien."
    Judenhass von der Kritik ignoriert
    Kellerhoff geht intensiv der Frage nach, wo Hitlers Judenhass wurzelte und wie viel von den Verbrechen des Nationalsozialismus schon in "Mein Kampf" vorausgedacht war. Hitler argumentierte biologistisch, sozialdarwinistisch, brachte krudeste Vergleiche aus dem Tierreich, um seinen im revolutionären Sommer 1919 plötzlich aufflackernden Hass gegen Juden zu begründen. Einen wirklichen Nachweis, woraus der sich speiste, kann der Autor jedoch auch nicht erbringen:
    "'Mein Kampf' ist ein wirres und gleichzeitig vielfach redundantes Buch. Zwar hielt Hitler den äußeren Rahmen ein: Der erste Band gab sich als autobiografisch gefasste Erzählung bis zum Auftreten der NSDAP, der zweite als eher systematisch angelegte Darstellung ihrer politischen Ziele und Entwicklung von 1920 bis 1923. Doch die Fülle von Exkursen und Abschweifungen relativierte diese Struktur. Durchgängig nachvollziehbar sind nur zwei Hauptintentionen: ein radikaler, bis zu Vernichtungsfantasien reichender Antisemitismus und die gefühlte Berufung, dem deutschen Volk durch die Eroberung von Lebensraum im Osten eine Zukunft zu verschaffen."
    Hitlers Judenhass wurde von der zeitgenössischen Kritik fast vollständig ignoriert, wie Kellerhoff darlegt. Interessant war für die Rezensenten eher die Verworrenheit seiner Darstellung und die Angriffspläne Richtung Osten - die jedoch zunächst niemanden ängstigten, da Hitler ein politischer Nobody war. Viele Kritiker machten sich über das Buch lustig, über seinen schlechten Stil und die mitunter haarsträubende Grammatik. Für die Neue Zürcher Zeitung war Hitler ein Agitator, "der die Welt nicht mehr versteht". Selbst die reaktionäre Neue Preußische Zeitung urteilte:
    "Man sucht nach Geist und findet nur Arroganz, man sucht Anregungen und erntet Langeweile, man sucht Liebe und findet Phrasen, man sucht gesunden Hass und findet Schimpfwörter. Ist dies das Buch der Deutschen? Schlimm wäre das!"
    "'Man hätte nichts wissen können', war eine Schutzbehauptung"
    Abseits völkischer Kreise war Hitlers Buch schnell vergessen. Der zweite Band erschien 1926 fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Dennoch verkaufte der NSDAP-eigene Eher-Verlag in den ersten drei Jahren 23.000 Exemplare - an die eigene Klientel. Erst mit dem Aufstieg der NSDAP in den Jahren vor 1933 nahm das Interesse an Hitlers Buch erheblich zu, wie Kellerhoff ausführt. Eine günstigere Volksausgabe und die Wahlerfolge der NSDAP trieben den Verkauf an. Im Jahr der Machtübergabe an Hitler wurde eine Million Exemplare verkauft. Bis 1945 sollten es zwölf Millionen allein in deutscher Sprache sein, dazu eine Million in Übersetzungen. Nach dem 8. Mai 1945 will es keiner gelesen haben. Sven Felix Kellerhoff hat recherchiert:
    "Gelesen haben es nach der gängigen Sichtweise sehr wenige. Ich werde in meinem Buch argumentieren, dass ungefähr jeder fünfte Deutsche 'Mein Kampf' großenteils oder sogar ganz gelesen hat. Bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alle wissen konnten, dass Auschwitz passiert, bedeutet aber sehr wohl, dass die Aussage, man hätte gar nichts wissen können, eine Schutzbehauptung nach 1945 ist."
    Kein ausformuliertes politisches Programm
    Vor allem Akademiker lasen nach Kellerhoffs Ansicht das Buch. In Schulen, Behörden, Parteigliederungen wurde "Mein Kampf" zumindest in Auszügen sogar verpflichtend erarbeitet. Die Frage, ob das Buch als praktische Blaupause für zwölf Jahre Nationalsozialismus diente, verneint der Autor:
    "'Mein Kampf' enthielt kein ausformuliertes politisches Programm, das Hitler nach seiner Machtübernahme 'abarbeitete'; dafür war das Buch schon seiner Struktur nach völlig ungeeignet. Das Dritte Reich und seine Verbrechen folgten nicht einem 'Masterplan', den der spätere Diktator in der Haft in Landsberg formuliert hätte. Wohl aber legte Hitler darin die Grundzüge seiner Weltanschauung dar, die vielen taktischen oder pragmatischen Abweichungen in Einzelfragen zum Trotz insgesamt doch die Basis seiner Politik ab 1933 wurde."
    Wer sich über Adolf Hitlers "Mein Kampf" knapp und anschaulich informieren will, ist mit Sven Felix Kellerhoffs Buch bestens bedient. Wer es ganz gründlich und umfangreich will, der warte bis ins neue Jahr. Dann erscheint vom Münchner Institut für Zeitgeschichte eine kommentierte kritische Ausgabe von "Mein Kampf" - auf 2.000 Seiten.