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Ver.di befürwortet Mindestlohn

Silvia Engels: Am Telefon ist nun Isolde Kunkel-Weber, sie gehört dem Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an und sie ist dort Expertin für Sozialversicherungen. Guten Morgen.

Moderation: Silvia Engels | 24.08.2004
    Isolde Kunkel-Weber: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Ihre Organisation ver.di ruft nach anfänglicher Zurückhaltung nun offen zur Teilnahme an Montagsdemonstrationen auf. Warum?

    Kunkel-Weber: Von anfänglicher Zurückhaltung kann keine Rede sein. Wir haben ja bereits im April eine große Demonstration in den Städten organisiert, um unsere Kritik, nicht zuletzt an der Agenda 2010, aber auch an der Hartz-Gesetzgebung deutlich zu machen. Was jetzt passiert, sind lokale dezentrale Aufrufe, Aktionen, die ich für richtig und wichtig halte, denn darüber wird deutlich, wie stark der Protest gegen diese Reform ist.

    Engels: Aber eine zeitlang hat man es doch eher mit relativer Zurückhaltung versucht, auch DGB-Chef Sommer hatte eigentlich, gerade was diese Demonstrationen angeht, zur Zurückhaltung aufgerufen. Springen Sie da jetzt auf einen fahrenden Zug auf?

    Kunkel-Weber: Ganz im Gegenteil. Wir haben zu keinem Zeitpunkt unsere Kritik an den Reformgesetzen zurückgenommen oder gar verstummen lassen. Vielmehr war unsere Ansage, in den Betrieben lokal zu diskutieren, zu informieren, um die Komplexität und Problematik dieser Reformen vor Ort deutlich zu machen.

    Engels: Sie selbst waren Mitglied der sogenannten Hartz-Kommission, die ja die Vorschläge des Förderns und Forderns im Wesentlichen mit ausgearbeitet hat. Warum protestieren Sie jetzt dagegen?

    Kunkel-Weber: Wo Hartz draufsteht, muss nicht immer noch Hartz drin sein. Was wir heute insbesondere in der Hartz-IV-Gesetzgebung vorfinden, hat mit dem, was die Hartz-Kommission vorgeschlagen hat, gar nicht mehr viel zu tun. Ein wesentlicher Punkt unseres Hartz-Berichtes war ja, genau keine kollektiven Leistungskürzungen vorzuschlagen, genau nicht den Zusammenhang herzustellen zwischen nur den Druck auf die Erwerbslosen zu erhöhen, dann wird man sie schon an die Arbeit bringen. Dahinter steckte die Erkenntnis, dass dort, wo einfach Arbeitsplätze fehlen, man auch nicht viel vermitteln kann und wenn man alleine den Druck auf die Menschen erhöht, dann führt das zu Armut. Wenn sie dann dagegen protestieren, finde ich das richtig und wichtig.

    Engels: Welches Element ist denn Ihrer Ansicht nach das wichtigste, das aus den Hartz-Papieren verschwunden ist?

    Kunkel-Weber: Das eine ist, dass wir keine kollektiven Leistungskürzungen haben wollten, also der Vorschlag war: Hände weg von Dauer und Höhe der Unterstützungsleistungen. Positiv ist ja die Zusammenführung der beiden Instrumente, aber nicht mit abgesenktem Niveau, das zweite ist, dass die Zumutbarkeitsregelungen weit hinter die Vorschläge der Hartz-Kommission zurückgehen, nicht zuletzt durch Nachbesserungen im Vermittlungsausschuss. Schließlich bleibt die Frage Anrechnung von privater Altersvorsorge, also einerseits die Menschen anzuregen, privat für ihre Altersvorsorge zu sorgen, sie andererseits bei der Arbeitslosigkeit dann dafür zu bestrafen und zu zwingen, dann auf dieses zurückzugreifen. Schließlich die Tendenz, bei weiter stark abgesenkten Leistungen und mangelnder Förderung, Armut zu produzieren. Das ist sehr problematisch und deswegen denken wir auch über Alternativen nach, zum Beispiel einen gesetzlichen Mindestlohn.

    Engels: Bedauern Sie heute Ihre frühere Zustimmung in der Hartz-Kommission? Denn letztendlich war ja ein Konzept, dass wirklich die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch auf einem langsam abgesenkten Niveau kommen wird.

    Kunkel-Weber: Meine Zustimmung zum Bericht der Hartz-Kommission hatte mit der Würdigung eines komplexen Paketes zu tun, einem Teil, der mit unsere Handschrift trug und dem unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtwürdigung am Ende zugestimmt werden konnte. Was wir danach erlebt haben, war ja keine 1:1-Umsetzung, sondern eine Veränderung, die leider immer noch unter 'Hartz' läuft. Das bedaure ich und das tut mir auch leid. Aber die Mitarbeit und den Einschuss auf die Ergebnisse der Hartz-Kommission, dazu stehe ich nach wie vor.

    Engels: Gibt es Ihrer Ansicht nach irgendwas Positives an Hartz IV?

    Kunkel-Weber: Ja. Dass Sozialhilfeempfänger, die bisher keine Chance hatten, in die aktive Förderung zu kommen, nunmehr mit dem Arbeitslosengeld II sowohl Anspruch haben auf eine sozialversicherungspflichtige Unterstützung, aber auch auf eine ganz gezielte Förderung und Unterstützung und damit eine Chance zu haben, wieder zurückzukommen in den ersten Arbeitsmarkt. Es gibt nichts Schlimmeres, als Menschen zu kategorisieren in Arbeitslose erster und zweiter Klasse, das hatten wir bisher. Dieser Teil der Reform ist ok und es wird an der Stelle auch viele Gewinner geben, für viele wird es neue Perspektiven geben. Für viele andere gibt es Nachteile, Absenkung, die Gefahr von Armut.

    Engels: Das Fördern haben Sie angesprochen, nun ist aber auch das Fordern Teil der Reform. Wenn man diesen derzeitigen Zulauf von Arbeitslosen beispielsweise bei Zeitarbeitsfirmen betrachtet, liegt ja die Vermutung nahe, dass das Fordern sehr wohl etwas bringt.

    Kunkel-Weber: Gegen Fordern ist auch nichts zu sagen. Dann fordern, wenn es auch Angebote gibt und dort, wo es Bereiche gibt, wo man in Arbeitsplätze vermitteln kann, finde ich auch, dass man durchaus unterstützend und fordernd mit den Menschen zusammenarbeiten muss. Aber bei 4,5 Millionen Arbeitslosen und einer verschwindend geringen gemeldeten offenen Zahl von Stellen halte ich es für problematisch, das alleine über den Druck auf die Menschen zu organisieren. Da muss auch noch mal etwas an andere Stelle her, nämlich zum Beispiel die Förderung von öffentlichen Investitionen, um beispielsweise den Beschäftigungsmotor Kommune anzuregen. Dort können Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt geschaffen werden.

    Engels: SPD-Chef Franz Müntefering hat am Wochenende im Deutschlandfunk das Thema gesetzliche Mindestlöhne ins Spiel gebracht, Sie haben das gerade auch aufgegriffen. Ihre Organisation ver.di hat sich dahintergestellt. Weshalb halten Sie das denn im Gegensatz zur IG Metall für eine gute Idee?

    Kunkel-Weber: Wenn zu staatlichen Unterstützungsleistungen noch zusätzliche Verdienste möglich sein sollen, dann besteht die Gefahr, wenn Sie bis auf marginale Stundenlöhne runtersinken, dass nicht nur die Löhne für die Erwerbslosen, sondern insgesamt auch die Löhne für alle anderen in den Keller stürzen. Da halten wir es für sinnvoll, dass man eine Barriere einzieht, damit genau das nicht passiert, denn wenn insgesamt das Lohnniveau sinkt, wird das weiterhin zu Armutsproblemen führen.

    Engels: IG Metall-Chef Peters will das aber nicht, denn er sagt, das sei ein Eingriff in die Tarifautonomie. Hat ver.di die Angst nicht?

    Kunkel-Weber: Man muss differenzieren. Das eine ist Tarifautonomie, selbstverständlich reklamieren wir die und dort, wo es möglich ist, machen wir auch Tarifverträge. Es gibt aber viele Bereiche, wo das nicht möglich ist, wo das fragmentierte Teile sind, wo Arbeit auch nicht in Betriebszusammenhängen passiert. Und für diese Bereiche, insbesondere für kleinere Dienstleistungsbereiche, wäre ein Mindestlohn sicher sinnvoll.

    Engels: Die Gewerkschaften sind sich aber bislang nicht einig. Die IG Metall ist dagegen, ver.di eher dafür. Wollen Sie sich da noch einmal zusammensetzen, um sich auf eine einheitliche Linie zu einigen?

    Kunkel-Weber: Ich finde, das ist ein wunderbares Zeichen von Demokratie, dass auch Gewerkschaften unterschiedlicher Auffassung sind. Wir sind im Diskussionsprozess und werden die gegensätzlichen Positionen noch mal austauschen und überlegen, ob wir zu einer gemeinsamen kommen können.

    Engels: Bei welcher Höhe sollte denn dieser Mindestlohn liegen?

    Kunkel-Weber: Da gibt es Berechnungsbeispiele. Man könnte sich auf eine Mittelgrenze im Vergleich zu anderen europäischen Staaten festlegen, man müsste auch bestimmte Bereiche noch mal abklopfen. In jedem Fall muss das so sein, dass ein existenzsicherndes Auskommen möglich ist, das sozialversicherungspflichtig ist und nicht von staatlichen und steuerlichen Zuschüssen abhängig ist.

    Engels: Haben Sie da eine Höhe, sollte das höher sein als die Sozialhilfe, die ja die natürliche Untergrenze bislang bildet?

    Kunkel-Weber: Natürlich sollte es höher sein, denn da sind wir schon beim Fordern. Es muss auch einen Anreiz geben, in die Erwerbsarbeit zu gehen und insbesondere muss das so hoch sein, dass man seinen Lebensunterhalt davon bestreiten kann und eben nicht mehr auf die Sozialhilfe zugreifen muss.

    Engels: BDI-Präsident Rogowski hat sich gerade heute gegen die Mindestlöhne ausgesprochen, der Arbeitsmarkt sei schon überreguliert genug und gerade mit der Festlegung eines richtigen Lohns könnte auch mehr Arbeitslosigkeit die Folge sein.

    Kunkel-Weber: Wir sind ja bereit, darüber zu reden. Wenn aber grundsätzlich durch die Zuverdienstregelungen in Hartz IV die Möglichkeit eröffnet wird, dass eben Menschen für Stundenlöhne von einem Euro oder wenig mehr arbeiten, dann besteht an dieser Stelle Regelungsbedarf, insbesondere, wenn sie den Druck auf den darüber hinausgehenden Niedriglohnsektor verhindern wollen, damit dort nicht weitere Einbrüche passieren.

    Engels: Haben Sie eine Zahl für uns?

    Kunkel-Weber: Ich denke mal, das könnte sich zwischen 1100 und 1200 Euro einpendeln.

    Engels: Besten Dank. Das war Isolde Kunkel-Weber, sie gehört dem Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an und sie ist dort Expertin für Sozialversicherungen. Ich bedanke mich für das Gespräch.

    Kunkel-Weber: Dankeschön.