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Verfolgt, bedroht, ermordet

In den riesigen Slums am Rande der Millionenstädte in Brasilien werden immer häufiger Geistliche umgebracht, weil ihre Seelsorge- und Sozialarbeit den Interessen des organisierten Verbrechens zuwiderläuft.

Von Klaus Hart | 09.03.2012
    "Das Ausmaß der Gewalt, der Drogenkriminalität ist hier unglaublich hoch","

    sagt der brasilianische Gemeindepriester Aecio Cordeiro da Silva in einem der über 2.600 Slums in der Megacity Sao Paulo.
    ""Hier begreift man, dass Brasilien von echten, signifikanten Verbesserungen noch weit entfernt ist."

    "Hier gibt es Hunger und Elend, die Menschen haben Angst","

    ergänzt der irische Geistliche Bernardo Daly, der sich in seiner eigenen Kirchengemeinde an der Peripherie der reichsten Stadt Lateinamerikas keineswegs frei bewegen kann.

    Überall im Gassenlabyrinth zwischen den Hütten, an den Bächen voller stinkender Kloake wird man mehr oder weniger auffällig von bewaffneten Drogengangstern beäugt, die wie Feudalherren die Regeln bestimmen und sogar Ausgangssperren verhängen. Orlando Barbie zählt zu den aktiven Gemeindemitgliedern:

    ""Die Mafia der Drogengangster ist sehr stark, die beobachten alles und jeden – das ist einfach furchtbar. Wer wie wir von der Kirche jemanden aus dem Drogenmilieu, aus der Sucht rausholen will, wird gnadenlos verfolgt. Während die Polizei manchmal kommt, aber dann auch wieder geht, bleiben die Banditenkommandos. Sie zwingen den Bewohnern das Gesetz des Schweigens auf. Wer sich nicht unterwirft, weiß, was ihn erwartet. Leute aus unserer Oberschicht lassen sich hier nicht blicken, die wollen von all der Misere nicht wissen – aber sie erzählen aber überall in der Welt, dass es so was in Brasilien nicht gibt – besonders vor Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen."

    Orlando Barbie nennt es schwierig, Menschen von außerhalb, auch aus dem Ausland, die Slums nicht kennen, für die gravierenden Zustände zu sensibilisieren.

    Laut Weltstatistik ist Brasilien das Land mit der höchsten Zahl an Morden – über 50.000 sind es laut amtlichen Angaben, doch die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, da gerade Verbrechen in den Slums, wo der Staat nicht oder kaum präsent ist, gewöhnlich nicht registriert werden. Landesweit agierende Todesschwadronen richten besonders in den Elendsvierteln regelmäßig Blutbäder an. Nur etwa fünf Prozent der Mörder werden gefasst.

    Nicht zufällig belegt Brasilien in der UN-Statistik über die Situation der humanitären Entwicklung lediglich Platz 84, Chile dagegen immerhin Platz 44, das benachbarte Argentinien Platz 45. Und wenn die Vertreter kirchlicher Hilfswerke aus Europa, zum Beispiel aus Deutschland, nach Brasilien kommen, um hier Hilfsprojekte zu finanzieren, stellt das die Erzdiözesen in Sao Paulo oder Rio de Janeiro vor die Frage:

    Welche Slums kann man den Gästen zeigen, ohne deren Leben zu gefährden? Padre Juarez de Castro, jahrelang Sprecher der Erzdiözese Sao Paulos, kennt diese Probleme nur zu gut:

    "Eigentlich ist ja die Regierung ist verpflichtet, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen – doch dies geschieht leider nicht. Und weil Brasiliens offizielle Regierung nicht effizient handelt und ein Machtvakuum zulässt, haben wir diese Banditendiktatur, das sind im Grunde genommen Parallelstaaten mit Parallelregierungen. Und als Kirche werden wir, wenn wir versuchen, dagegen an zugehen, massiv mit Gewalt attackiert. Vor allem in Nordbrasilien stehen viele Bischöfe und Priester auf Todeslisten, weil sie die Armen und deren Rechte verteidigen."

    2006 hatte Brasiliens führende Verbrecherorganisation PCC erstmals den Slumgeistlichen in Sao Paulos ganz offen die Ermordung angekündigt – und es nicht bei Drohungen belassen. Der PCC hat in den Slums sogar Sondergerichte installiert, verhängt Todesurteile und verscharrt die hingerichteten Opfer auf geheimen Friedhöfen.

    Für Sao Paulos deutschstämmigen Kardinal Odilo Scherer ist bedrückend zu sehen, dass immer wieder Priester in den Slums arbeiten, ermordet werden, weil sie von der Drogenmafia als geschäftsschädigend angesehen.

    "Unsere Mission als Kirche ist, angesichts dieser Realität nicht die Courage zu verlieren, sondern immer wieder Initiativen zu ergreifen, die Zustände anzuprangern. Was wir nicht nur in Sao Paulo erleben, beobachten, ist sehr schmerzhaft – so viele Menschenleben gehen verloren."
    Auch Bischöfe werden überfallen, als Geiseln genommen – im fernen Bahia überlebte der aus der Schweiz stammende Bischof Christian Krapf mit mehreren Priestern eine solche Einschüchterungsattacke:

    "Wir wurden von den Banditen gefesselt, mussten uns auf den Boden legen, wurden stundenlang misshandelt. Die Gangster raubten den Diözesesitz aus, fuhren mit unserem PKW davon."