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Vergnügliches Dokument einer Epoche

Dies ist kein "on the road"-Bericht zweier kommunistischer Ideologen. Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, beides "Prawda"-Korrespondenten, waren Humoristen und Satiriker. Ihr unverfälschter Blick auf ein kapitalistisches wie faszinierendes Amerika macht den Bericht amüsant und zum Dokument einer Epoche.

Von Michael Schmitt | 18.11.2011
    Als Ilja Ilf und Jewgeni Petrow als Korrespondenten der "Prawda" Ende 1935 eine dreimonatige Reise quer durch die USA antreten, in einem funkelnagelneuen Automobil von Ford, von der Ostküste bis nach Kalifornien und Hollywood, entlang der mexikanischen Grenze und durch die Südstaaten zurück, steht das Empire State Building gerade mal seit zwei Jahren, aber die Wolkenkratzer von New York City prägen natürlich die Erwartungen an das ganze weite Land, das sie erkunden wollen. "Das eingeschossige Amerika", das sie vorfinden, ist jedoch das Land der kleinen und mittleren Städte mit austauschbaren Strassen und niedrigen Gebäuden, mit immer gleichen Straßennamen, geprägt von einem Pragmatismus, dem sie während der gesamten Tour im Guten wie im Schlechten immer wieder begegnen: Pragmatismus als zentrale Auffassung vom Umgang mit dem alltäglichen Leben, als Haltung gegenüber Fortschritt und Lebensqualität, als meist indifferente Haltung gegenüber Kunst und Kultur – und vor allem als Antrieb für die Jagd nach dem Geld.

    Die beiden Sowjetbürger finden die Amerikaner durchweg liebenswert, freundlich und hilfsbereit, sie sind angetan, wann immer sie es mit amerikanischem Service und mit dem ausgeprägten Dienstleistungsbewusstsein zu tun haben, sie gewöhnen sich an Orangensaft und Grapefruit zum Frühstück, aber auf die Dauer ist ihnen das amerikanische Essen zu fade, zu geschmacklos, zu industriell. Den Ford möchten sie nach den 15.000 Kilometern der Reise unbedingt mit nach Hause nehmen, machen sich aber ständig Sorgen, dass ihre Dollar-Reserven dafür vielleicht nicht reichen werden.

    Die Schattenseiten sind demgegenüber die Lage der Schwarzen im gesamten Land, besonders im Süden der USA, die Scheinhaftigkeit einer Demokratie, in der Geld- und Medienmacht ein formal perfektes Wahlsystem zur Farce machen – und natürlich: das kapitalistische System, die Seelenlosigkeit einer Gesellschaft, die das Leben durch immer neue Produkte erleichtert - und dabei zugleich dieses Leben mit Füßen tritt.

    Ist "Das eingeschossige Amerika" also der Bericht von zwei kommunistischen Ideologen "on the road"? Nein, ist es nicht - und das hat mehrere Gründe. Der Wichtigste: Ilja Ilf und Jewgeni Petrow sind Humoristen und Satiriker. Sie haben sich mit zwei Romanen, die sie gemeinsam verfasst haben, in der UdSSR großen Ruhm erworben. Sowohl "Die zwölf Stühle" (1928) wie auch "Das goldene Kalb" (1931) behandeln mit mildem Spott die schwachen Stellen einer jungen sozialistischen Gesellschaft, in der das Bewusstsein vieler Menschen noch von der zurückliegenden Zarenzeit und von altem Besitzdenken geprägt ist. Als sie in den USA eintreffen, ist auch dort gerade eine Ausgabe von "Das goldene Kalb" erschienen; und in Hollywood bittet der Regisseur und Produzent Lewis Milestone die beiden umgehend um ein Treatment für ein Drehbuch nach dem Roman "Die zwölf Stühle". Und weil sie ständig selbst auch Geld für Benzin und Motelzimmer brauchen, zögern sie nicht.

    So ironisch und sentimental, wie sie ihrer Heimat gegenüberstehen, so präzise, so spöttelnd und wohlwollend legen Ilf und Petrow dann auch ihre Berichte an, die ab November 1935 in der "Prawda" abgedruckt werden, später dann als Fotoreportagen erscheinen und zuletzt auch als Buch. In kurzen Kapiteln folgen sie den Stationen ihrer Reise, von der Überfahrt auf dem französischen Dampfer "Normandie" zu den Empfängen und Gesprächen in New York, von der Ausarbeitung der Reiseroute bis zu den Kontakten mit alltäglichen Menschen und "großen Tieren" wie Henry Ford, John Dos Passos oder Upton Sinclair.

    Satz für Satz spürt man den ironischen Vorbehalt sich selbst und ihrem Thema gegenüber – diesem gigantischen, teils in Armut versinkenden, teils wild prosperierenden Land. Sie belassen es auch nicht bei einem Bericht, sondern formen ihre Darstellungen mehr und mehr um zu einer Art von Fiktion. Ilf und Petrow, die sich in den USA nicht auskennen und auch kaum Englisch sprechen, haben vor Reiseantritt in New York händeringend nach geeigneten Reisebegleitern und Chauffeuren gesucht – und sie dann in Gestalt eines Ehepaares gefunden, die im Buch als Mr. und Mrs Adams auftauchen. Und um das unerschütterliche Engagement dieser beiden – die Dame chauffiert und der etwas chaotische Ehemann macht die Pläne - komponieren Ilf und Petrow dann ihr Bild von den USA, um zwei romanhaft ausgestaltete eigenwillige Charaktere.

    Felicitas Hoppe weist im Nachwort der von Helmut Ettinger übersetzten Ausgabe dieses Reiseberichts, die gerade in der "Anderen Bibliothek" erschienen ist, vor allem auf das Vergnügen am Witz der Autoren hin, und auf die teils bewusst subjektiven, teils schon lange im kollektiven Bewusstsein verankerten Eindrücke und Wertungen, die Ilf und Petrow zusammentragen. Es kommt aber noch ein Aspekt hinzu, der dieses Buch zu mehr als nur einer amüsanten Lektüre macht – "Das eingeschossige Amerika" ist auch Dokument einer Epoche, in der zwischen "Neuer ökonomischer Politik" in der UdSSR, Fortschrittseuphorie und Depression in den USA und aufkommendem Faschismus in Europa recht enge und vergleichsweise unverkrampfte Beziehungen zwischen den beiden Mächten herrschen. Karl Schlögel hat das vor vielen Jahren schon beschrieben: den Austausch von Ingenieuren, die in der Sowjetunion beim Aufbau helfen, die Bewunderung amerikanischer Technik durch Stalin und vieles andere mehr. Zwei ungleiche Systeme nähern sich einander an im Geiste eines technologisch aufgefassten Fortschrittsgedankens; und Ilja Ilf und Jewgeni Petrow sind nur zwei, wenn auch prominente Menschen unter vielen, die ohne Schwierigkeiten Grenzen passieren können.

    Dass sich zur gleichen Zeit, Mitte der Dreißiger, viele europäische Intellektuelle nach Besuchen in Moskau vom Kommunismus stalinistischer Prägung abwenden, steht auf einem anderen Blatt. Und dass ein Jahrzehnt später, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, von solch relativ offenem Austausch keine Rede mehr sein kann, lässt sich in der 1947 veröffentlichten Fotoreportage des Schriftstellers John Steinbeck und des Fotografen Robert Capa nachlesen, der im vergangenen Jahr unter dem Titel "Russische Reise" in deutscher Übersetzung erschienen ist.

    Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: Das eingeschossige Amerika. Eine Reiseerzählung. Deutsch von Helmuth Ettinger, mit einem Nachwort von Felicitas Hoppe.
    Zwei Bände, erschienen in "Die Andere Bibliothek",
    ca. 680 Seiten, Frankfurt a. M., September 2011