Archiv


Verlangen und Scheitern in der Realität

"Die Schülerin" ist der zweite Schlüsselroman von Jan Siebelink, der auf Deutsch erscheint. Er erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen einem jungen Lehrer und seiner Schülerin. Siebelink ist damit einer der der überzeugendsten Romane der aktuellen niederländischen Literatur gelungen.

Von Volkmar Mühleis |
    Wie sähe wohl ein moderner Minnesang aus? Eine Geschichte der unmöglichen, idealen Liebe? Ein Tabu in der heutigen Gesellschaft? Jan Siebelink hat den Versuch unternommen, die Liebe eines Lehrers und einer Schülerin zu beschreiben. Er ist Mitte zwanzig und neu am Gymnasium, sie ein marokkanisches Mädchen, das gerade in die Pubertät kommt. Die Geschichte spielt in Den Haag, im holländischen Bürgertum der Gegenwart, wo sich konservative Bedürfnisse kreuzen mit der gesellschaftlichen Schnellebigkeit, die auch das Gymnasium bestimmt.

    Überrascht stellt der junge Kollege fest, wie sein Fach - Französisch - an der Schule aufgefasst wird: Klassiker werden nicht mehr gelesen, reine Schriftformen als überflüssig betrachtet, die rasche Kommunikation ist alles, was zählt. Seinen Idealismus befriedigt das nicht. Er möchte den Schülern Literatur nahebringen. Und so erzählt Siebelink mit Verve, um den Leser selbst erleben zu lassen, was Literatur nach wie vor vermag.

    Es ist also nicht nur ein inhaltlicher Balanceakt - über das Thema der verbotenen Liebe -, sondern auch ein stilistischer, muss sein eigenes Buch doch am Ende selbst beweisen, was den Idealismus seiner Hauptfigur rechtfertigt, um seine Qualität vollends zu entfalten. Ist dem Autor das gelungen? Jan Siebelink selbst über "Die Schülerin":

    "Der holländische Filmregisseur Pieter Verhoeven meinte zu mir: Dein Buch steht von Anfang bis Ende auf der Kippe. Und genau darum geht es. Man muss ständig das Gefühl haben, jetzt geht er zu weit. Aber ich gehe nicht zu weit. Die Spannung bleibt genau in der Schwebe. Alles hängt von der Art und Weise ab, wie man etwas erzählt. Der Ton muss stimmen. Dann kann man alles erzählen. Und der Ton vermittelt in meinem Buch Schönheit. Die Stimmung hat etwas Delikates, im Guten wie im Verhängnisvollen. Und durch diese Stimmung unterscheiden sich der Lehrer und die Schülerin von den Anderen."

    Die Schwierigkeit seines Vorhabens liegt in jeder Liebesgeschichte begründet, die ihrem Gegenstand gerecht werden soll: nämlich das Gefühl tatsächlicher Liebe zu schildern, ein Erkennen im Andern, das einen aufeinander fixiert, zu tragen scheint und wirklich trägt. Die Schwierigkeit liegt also im Zusammenspiel des Märchenhaften einerseits mit dem Realen andererseits, und wie glaubhaft das Märchenhafte, Wunderbare dabei werden kann. Bei Siebelink vermischt sich dieses Verhältnis mit zwei Erzähltraditionen: Seine Hauptfigur - der Französischlehrer - erlaubt es ihm das Märchenhafte, Ideale mit Blick auf die französische Literatur anklingen zu lassen, vor allem in Anlehnung an den Symbolismus des Fin de siècle.

    Selbst steht er als Autor in der niederländischen Tradition des Realismus, sodass die Geschichte bei ihm eine zeitgemäße und dennoch nicht weniger metaphorische Wendung nimmt: Die Schülerin erkennt ebenso wie der Lehrer die gesellschaftliche Unmöglichkeit ihrer Liebe. Sie distanziert sich von ihm auf die körperlichste Weise - sie wird magersüchtig. Und während sein Bild in der Öffentlichkeit ungeschunden bleibt, hungert sie sich zu einem Schatten ihrer selbst. Auf gnadenlos realistische Weise wird so zugleich an symbolistische Metaphern erinnert, denkt man an ein Buch wie "Das Bildnis des Dorian Gray" von Oscar Wilde, in dem das Porträtgemälde eines Mannes altert und verfällt, während er dem Anschein nach jung bleibt. Siebelink meint zu dem Verhältnis der beiden Protagonisten:

    "Ihre Beziehung hat überhaupt nichts Vulgäres. Es geht nicht um die Einseitigkeit einer Faszination - dass ein Lehrer sich in eine Schülerin verliebt oder umgekehrt -, sondern um die Liebe als einander Erkennen, einander Anerkennen und das Gefühl eines selbstverständlichen Vertrautseins miteinander. Sie begegnen sich gleich zu Beginn auf dem Weg zur Schule, betreten gemeinsam die Schule und werden sich nicht mehr aus den Augen verlieren. Es ist die Geschichte einer Seelenverwandtschaft."

    Das Ideelle birgt immer schon seine Tragik, sein Versagen. Dem nüchternen Geist mag beides als ein zu durchsichtiges Spiel erscheinen: Wer die Erwartungen zu hoch schraubt, kann nur enttäuscht werden. Enttäuscht sind aber beide Hauptfiguren vor allem von der Nüchternheit ihrer Umgebung - abseits von ihnen erscheint die Schule vor allem als angepasstes Know-how-Institut für Kurzzeitdenker, als Spiegel einer auf Effizienz versessenen Gesellschaft. Der romantische Geist, von dem beide zeugen, ist für Siebelink die Utopie von Authentizität, von Unverfälschtheit, die er mit seiner Art zu schreiben glaubhaft zu machen sucht. Das Verlangen nach Kompromisslosigkeit wird durch ihre soziale Unmöglichkeit nicht diskreditiert, so der Unterton der Geschichte.

    Das Scheitern liegt vielmehr in den Protagonisten selbst begründet: Während das Verhalten der Schülerin kohärent erscheint, in all ihrer Verzweiflung angesichts der prekären Situation, wird die Gestalt des Lehrers stets zweifelhafter, und zwar der Schülerin gegenüber. Nicht aus Gewissensbissen oder Angst vor sozialer Ächtung - die ohnehin auf ihn wartet, in einem der spannendsten Kapitel des Romans -, sondern weil er die Situation in der Schwebe zu halten versucht, auch ist sie ihm selbst längst entglitten, wird das Mädchen in eine Klinik aufgenommen, entfernt sie sich von ihm. Der Schwebezustand, der seine anfängliche Attraktivität ausmachte, offenbart ihn schließlich als "Mann ohne Eigenschaften". Zur Entwicklung seiner Figur meint der Autor:

    "Da ist zum Beispiel die Szene auf dem Schulfest, in der sich der Lehrer so von den anzüglichen Sprüchen eines Kollegen provoziert fühlt, dass er handgreiflich wird und ihn niederschlägt. Das Fest endet damit, dass sein Kollege ins Krankenhaus gebracht werden muss. Warum reagiert er so aggressiv? Weil er sich seiner selbst nicht gewiss ist, weil er es selbst nicht schafft, sich zu verstehen. Intuitiv spürt er, dass er nie ein normaler Lehrer, ein geschätzter Kollege werden wird, dass ihm die Norm suspekt ist. Die Verdächtigung des Gesicherten, aus der eigenen Unsicherheit heraus, das kenne ich selbst sehr gut, so wie jeder, denke ich. Jeder hat auch seine dunkle Seite, die sich nicht einfügt und widerspenstig ist, um nur ja anders zu sein als alle Anderen."

    Die Kunst des Buches liegt darin, dass der Autor dem Paradox seines Vorhabens treu bleibt: Es gilt die Möglichkeit einer Liebe zu beschreiben, ohne dass ihre tatsächliche Unmöglichkeit das Verlangen danach im nachhinein schmälern würde. Die Schülerin und der Lehrer stehen hier für beides: die Glaubwürdigkeit des Verlangens und das Scheitern in der Realität. Dieses Paradox einzufordern, ist das eigentlich Romantische, von dem jede gute Liebesgeschichte zehrt. Ob es nun um verfeindete Familien geht, deren Kinder nicht zueinander dürfen - wie bei Romeo und Julia - oder um die gesellschaftliche Grenze zwischen einem Lehrer und einer Schülerin.

    Dass man von dieser Grenze nicht ins Banale und Kitschige abrutscht, sondern sie in ihrer Brisanz problematisiert und thematisiert, hängt ganz an dem Schreibstil, wie viel Umsicht und Einfühlung er vermittelt. Und das bedeutet für fremdsprachige Literatur, in wieweit die Übersetzung dem gerecht wird. Wenn der Kritiker der niederländischen Zeitung Het Parool bei dem Roman von der "tastenden, wunderschönen Prosa" schwärmte, dann trifft das für das Original ohne Umschweife zu.

    Die deutsche Ausgabe ist keineswegs schlecht übersetzt, nur besitzt sie nicht die gleiche poetische Qualität - was an Details liegt, auf die einzugehen hier nicht der Platz ist. Das Problem für den deutschen Kritiker zeigt sich nur im Vergleich: Ohne Kenntnis des Originals wird man wahrscheinlich weniger emphatisch von Siebelinks Schreibstil sprechen und mehr auf die Handlung und Komposition achten. Der Stil aber trägt den Balanceakt des ganzen Buches, oder wie der Autor selbst sagte: Man kann alles erzählen, es kommt nur auf den richtigen Ton an. Wenn sich also eingangs die Frage stellte, ob Jan Siebelink mit "Die Schülerin" nicht nur die Liebe zur Literatur beschreibt, sondern sie in einem umso stärker anzufachen vermag, dann trifft das für das Original bedingungslos zu. Es ist durchaus einer der überzeugendsten Romane der aktuellen niederländischen Literatur, eine Summe von Siebelinks dreißigjähriger Erfahrung als Schriftsteller. Die Übersetzung von Bettina Bach ist gut - sicher nicht weniger, doch leider nicht mehr. Für ein Opus magnum bleibt das ein Problem.

    Jan Siebelink: "Die Schülerin". Aus dem Niederländischen von Bettina Bach erschienen im Arche Verlag 430 Seiten kosten 24,90 Euro